Zur Konjunktur eines „Genres“ im post-ideologischen Zeitalter
„Die Renaissance des politischen Films“, schreibt Filmhistoriker Rainer Rother in einem Essay, „verdankt sich zwei Gründen. Der politischen Einsicht, dass die Geschichte auch nach dem Zusammenbruch des großen Konkurrenten Sowjetunion nicht einmal für die USA zu Ende ist. Und der cineastischen Erfahrung, dass Filme, die mit allem spielen können, nicht jedes Spiel wert sind. Sollte dies zutreffen, hätte die große Zeit des politischen Films gerade erst begonnen.“
Zwar kleidet der Direktor des Berliner Filmmuseums seine Prognose, was die Zukunft des politischen Films angeht, vorsichtshalber in eine Konditionalform, aber für die Gegenwart ist er sich sicher. Sein drei Jahre alter Aufsatz für die neo-konservative Zeitschrift „Cicero“ trompetet die Botschaft in der Überschrift nur so heraus: „Der politische Film ist wieder da!“ Und zur Sicherheit ist diese Schlagzeile auch noch mit einem Aufrufzeichen versehen. Rother zieht eine Linie von G.W. Pabsts „Westfront 1918“ über Wolfgang Staudtes „Die Mörder sind unter uns“ zu Henckel von Donnersmarcks „Das Leben der anderen“ und weiter noch zu Bucks Neukölln-Drama „Knallhart“ und subsumiert diese sehr unterschiedlichen Filme noch unter ein nationales Label: „In Deutschland hatte der politische Film oft mit dem Rückblick auf Geschichte zu tun“.
Also alles klar? Vertrauen wir der kinematographischen Trendforschung und glauben wir daran, dass der Film – im Kino wie im Fernsehen übrigens – weiterhin von einem Boom politischer Filme geprägt ist? Vorgestern Andres Veiels „Black Box BRD“, gestern Eichingers und Edels „Baader Meinhof-Komplex“, heute Krohmers und Nockes TV-Dokudrama „Dutschke“ und morgen wieder Veiels „Wer, wenn nicht wir?“, das Liebesdrama zwischen Gudrun Ensslin und Bernward Vesper. Und das ist nur eine kleine Beispielkette aus deutschen Filmproduktion, die – wenn es um Vergangenheit geht – immer wieder um die gleichen historischen Traumata kreist: Nazis, Stasi und RAF-Terroristen. Die Erinnerung an Gewalt samt der dazugehörigen Faszination ist dem deutschen Film tief eingeschrieben. Film, deutscher Film zumal, ist eminent politisch geworden. Vorderhand jedenfalls.
Die gerade beendeten 63. Filmfestspiele von Cannes liefern einen aktuellen Beweis, dass Film auf Teufel komm raus mit der aktuellen Weltpolitik Schritt halten will: Die große Krise, die Finanzkrise, ist auf der Kinoleinwand bereits angekommen und erfährt ihre imaginäre Bewältigung. Das spektakulärste Beispiel: Oliver Stone hat seinen Finanzhai Gordon Gekko in der Fortsetzung von „Wall Street“ seine Gefängniszeit abbüßen lassen und der Mann zeigt alle Zeichen einer grundlegenden Läuterung. Die Haft, aber auch die dauer-kriselnde Weltwirtschaft lassen einen Bösewicht zum Tugendbold werden. Eine besondere Form von moralischer Katharsis, wie sie dem Hollywood-Kino, aber nicht nur dem, eigen ist. Festzuhalten ist, dass akutelle Wirtschaftspolitik wie die Aufarbeitung von politischer Vergangenheit Konjunktur haben. Als Stichworte aus Cannes seien nur noch Olivier Assayas fünfeinhalbstündiges Terroristen-Biopic „Carlos“ und Rachid Boucharebs Algerien-Drama „Hors-la-loi“ genannt.
Zurück zum Direktor des Deutschen Filmmuseums und seinem Text. In Rainer Rothers Aussage stecken drei Annahmen:
1. Die Postmoderne und mit ihr der Glauben an das Ende von Geschichte ist überwunden.
1.2. Die Spaßgesellschaft, der nichts heilig ist und die mit allen Dingen nur virtuos spielt, liegt ebenfalls hinter uns. Eine neue Ernsthaftigkeit kehrt ein.
1.3. Neues Geschichtsbewusstsein – gerade in Deutschland – macht sich breit.
1.Alle drei Kriterien sollen zu etwas führen, das man dann politischer Film nennt.
Nur: was ist das? Reicht es aus, wie Rother unterstellt, dass ein Film eine “Botschaft” hat? Ist Film zu Bildern geronnene Politik? Vom Aufschrei gegen den Krieg bis zum Bemühen um Menschenrechte oder den Schwierigkeiten der Integration? Und wie “politisch” muss es dann sein? Reicht eine eindrückliche Schilderung, nach der jeder erschüttert aus dem Kino geht, oder muss es dann der agitatorische Film sein, der den Zuschauer zu einer klaren Stellungnahme und der dann folgenden Tat animiert, wie Slatan Dudow es einst mit “Kuhle Wampe” wollte oder Godard mit vielen seiner Filme? Was machen wir dann mit der Aussage eines früheren Mächtigen des Fernsehens, dass das, was früher im realistischen und damit auch im politischen Film verhandelt worden ist, inzwischen als Futter in den Krimi abgewandert ist? Dort werden diese Stoffe sozialrealistisch im „Tatort“ oder in einem der düsteren Schweden-Krimis abgehandelt. Wir merken schnell, dass wir uns mit dieser Suche nach einer befriedigenden Definition auf einem schwammigen, unübersehbaren Terrain bewegen. Und was machen wir mit dem berühmten Satz Godards? Es gehe nicht darum, einen politischen Film zu machen, sondern einen Film politisch zu machen.
Beginnen wir damit. Dieser Satz wird oft als Matra von Filmemachern und der Filmkritik eingesetzt, oft ohne sich zu fragen, was das eigentlich heißen soll. Meines Wissens hat Godard seinen Satz nie selbst erklärt. Wenn wir es versuchen, dann kommen wir schnell zu zwei Gedanken. Der erste ist eher erschreckend: “Filme politisch machen” ist genau das, was Joseph Goebbels als NS-Reichspropadandaminister getan hat. Als Lenker der nationalen Filmproduktion hat er den politischen Stellenwert eines jeden Films im System der Propaganda genau abgeschätzt. Die direkten, ideologischen Propagandafilme wie “Jud Süss” oder “Der ewige Jude”, die zum Einverständnis mit der Judenvernichtung verleiten sollten, hat er homöopathisch dosiert und in ein Umfeld der Harmlosigkeit und des Entertainments gebettet, das vor allem aus Komödien bestand, die den “Volksgenossen” die Normalität ihres Lebens und ihrer privaten Freuden vermittelten. Gerade das „Unpolitische“ an den Ufa-Unterhaltungsfilmen des Dr. Goebbels war eminent politisch. Die systemstabilisierende Kraft von Film zeigte sich darin, wie Filme dazu beitragen, ein politisches System zu stützen, weil sie immer wieder den stillschweigenden Konsens einer Gesellschaft herstellten.
Wenn wir das auf heute beziehen, kann man zu nicht sehr freundlichen Auffassungen über das Fernsehen heute kommen, das an die Stelle einer prosperierenden Kinokultur getreten ist. Wieviel Systemstabilität wird heute von der Überfülle an „Süßstoff“-Schmonzetten geleistet? Was sagt das aus über eine mögliche langsame Erosion unserer Gesellschaft, dass der Anteil solcher Filme am allgemeinen Programm in den letzten Jahren so gestiegen ist? Ist das überhaupt vergleichbar? Bevor wir jetzt in eine resignierte und zu allgemeine Antwort fallen, sollten wir uns zwei Dinge klarmachen: Auf der einen Seite ist der Mensch ein politisches Wesen, ein zoon politikon, und alles, was mit Menschen gesellschaftlich zu tun hat, ist politisch. Selbst sein Verhältnis zur Natur, wie er ihr begegnet, wie er sie sich aneignet, ausbeutet oder schont, ist dann “politisch” in dem Sinne, dass die gesamte Medienproduktion auch in nicht diktatorisch gelenkten Staaten Teile eines großen Stromes von Bewusstem, Halbbewusstem, Verdrängung und hoch codierter Verarbeitung ist, der, da der Mensch, wie gesagt, ein zoon politikon ist, “politisch” ist. In allen Facetten der Medienprouktion wird Politisches im Sinne von Gesellschaftlichem verhandelt und das in den unterschiedlichsten filmischen Formen. Auch amerikanische Science-Fiction-Filme und scheinbar belanglose Teenager-Popcorn-Filme haben in diesem Sinne einen politischen Stellenwert, weil sie sich mit gesellschaftlichen Phantasien und Ängsten beschäftigen. Und zwar, das ist jetzt sehr wichtig, als Metatext, der so in der Diegese aufgeht, dass sich seine Botschaft scheinbar ohne jede Botschaft vermittelt.
Das alles wird oft nicht bedacht, wenn vom politischen Film die Rede ist. Reflexartig kommen dann eher die Filme in den Sinn, die Rainer Rother genannt hat , angereichert durch aktuellere Beispiele. Immer aber orientiert sich eine solche Aussage Inhalten, Plots, Botschaften und Aussagen. Doch die Zeiten eines offen agitatorischen Films sind vorbei. Kunst, die auf sich hält und die nicht im Strudel von Werbung, Amateurvideos und Internet-Beiträgen untergehen will, muss heute schon aus purem Selbsterhaltungstrieb auf ihrer Autonomie bestehen und kann nicht länger Mittel zum Zweck sein. Sie darf kein Transmissionsriemen zur Übermittlung politischer Botschaften sein. Man darf nicht vergessen, dass der agitatorische Film, der zur unmittelbarem Handeln aufrief, eine Filmform war, die in den 20er Jahren und wieder nach 1968 ihre Blüte erlebte. Das war die Zeit der Ideologien, die eine klare Vorstellung davon hatten, wie die Welt geordnet sein musste und wie der Kampf dafür auszusehen hatte. Diese Filmform ist mit den Ideologien des 20. Jahrhunderts untergegangen.
Geblieben ist eine Art Malaise, dass der Film doch zu politischen Fragen etwas zu sagen haben müsste, aber nicht mehr weiß, in wessen Namen er denn spricht. Der Regisseur Ulrich Köhler hat gesagt, politische Filme seien da „zur Beruhigung des politischen Gewissen.“ Selbst wenn man zögern würde, dieser Aussage generell zuzustimmen, ist man doch immer wieder in Versuchung zu sagen: er hat ja Recht, besonders wenn man sich das Fernsehprogramm ansieht, besonders jene Form von “politischen Film”, der sich an einem historischen Fall aufhängt, ihn mit allen Mitteln der fiktionalen Dramaturgie so erzählt, dass die Sender sich gezwungen sehen, einen dokumentarischen Film direkt danach zu zeigen, in dem klargestellt wird, was der fiktionale Film nicht erzählt hate oder wo er auch platt gelogen hat, zum Beispiel bei der Hinzufügung eines “love interest”, ohne den heute fast kein Film mehr glaubt auszkommen zu können.
Sie werden jetzt vielleicht sagen: Und was ist mit Michael Moore, dessen phänomenaler Erfolg mit Filmen wie „Roger and me“ (1989), „Bowling for Colombine“ (2002), Fahrenheit 9/11“ (2004) das Wort von der „Renaissance des politischen Films“ wesentlich begründet hat? Oder auf den deutschem Kontext bezogen: Was ist mit Andres Veiel?
Aber allein mit der Erwähnung der beiden Namen Moore und Veiel ist ein Thema angeschlagen, das uns beschäftigen wird: Die eigentliche Rückbesinnung auf den “politischen Film” ging von Dokumentarfilmen aus. Und dabei von Filmen, in denen der Filmemacher selbst sich der Wirklichkeit aussetzt, die er schildern will. Michael Moore geht mit seiner ganzen schwergewichtigen Person an die dunklen Orte, deren Verbrechen er aufklären will. Es ist wie eine Versicherung für Authentizität, die im digitalen Medienzeitalter, wo alles möglich ist, einen besonderen Wert hat und auf besondere Weise betont werden muss. In diesem von Moore losgetretenen Boom – in seiner Nachfolge sei explizit ein Foodwatch-Film wie „Supersize me“ (2004) genannt, aber auch ein so ganz anderer Film wie Sacha Baron Cohen „Borat“ (2006) – beglaubigt der Filmemacher die Wahrheit dessen, was er erzählt, mit seiner wirklichen Person oder genauer: mit der Wirklichkeit seiner Person. Und das zeigt: Wir sind uns inzwischen bewusst, dass nicht nur der fiktionale Film lügen kann, sondern auch der dokumentarische. Was immer schon klar war, wird heute besonders sichtbar: Jeder Film ist Manipulation allein durch die Tatsache, dass er bestimmte Dinge zeigt und andere nicht und das als Basis, bevor die Gesetze einer fiktionalen Dramaturgie, die die Wirklichkeit in ihr erzählerisches Schema pressen will, greifen würden. Kein Film ist ein Spiegelbild der Realität, sondern jeder eine Realität zweiter Ordnung.
Das wird auch an den Filmen von Michael Moore sofort klar, denn sie sind ja auch ein inszenierter Selbstversuch. Wahrscheinlich liegt genau in dieser Kombination von realer Person, die für Authentizität steht, realem Ort des Geschehens und Inszenierung ihre Wirkung. Diese Kombination ist inzwischen auch für Filme, die sich des Politischen auf andere Weise annehmen, beispielhaft geworden. Das Schulmassaker von Colombine hat außer Moore auch einen Regisseur wie Gus van Sant („Elephant“) beschäftigt und „Syriana“ mit George Clooney ist auch eine Antwort auf Moores Abrechnung mit George Bush in „Fahrenheit 9/11“. Es gibt heute keine dichotomische Gegenüberstellung von Dokumentarischen und Fiktionalen mehr, die Grenzen zwischen beiden Bereichen verschwimmen. Michael Moores Filme lassen sich wie ein Hohn auf den klassischen Dokumentarfilm lesen. Hier sprechen nicht mehr die objektiven Fakten, die Kamera ist nicht mehr unsichtbar und beobachtet etwas, was auch ohne sie geschehen wäre. Statt um dezente Aufklärung geht es bei Moore um hemdsärmelige Einmischung. Der Autor ist der rasende Reporter, der die Konfrontation sucht, den Gegner stellt und zur Strecke bringt und ihm mit den gleichen, kleinen Münze heimzahlt. Was Generationen von Dokumentarfilmern als reine Lehre hochhielten, wird bei Moore geopfert und von seinem deutschen Kollegen Andres Veiel als „Chimäre“ beerdigt. Den puren, ja puristischen Wahrheitsbegriff des klassischen Dokumentarfilms lehnt Veiel ebenso ab wie Moore, doch der Arbeitsstil seines berühmten amerikanischen Kollegen ist Veiel trotzdem nicht geheuer: „Wenn jemand bewusst denunziert oder zur Karikatur gemacht wird, ist für mich eine Grenze erreicht.“ Veiel verspürt eine Verantwortung des Autors für seine Protagonisten, gleich ob sie ihm sympathisch sind oder nicht. Zwischen Interviewer und Interviewten herrscht eine gewisse Asymetrie, ein Machtgefälle. Denn von der Kamera geht eine Sogwirkung aus und eine Mischung aus Eitelkeit und Exhibitionismus verführt den Zeugen nur zu leicht dazu, sich vertrauensvoll und hemmungslos der Kamera und den Fragen auszuliefern. Veiel praktiziert in „Black Box BRD“ virtuos eine Mischform zwischen Dokumenten und der nachträglichen Inszenierung, er manipuliert im besten Sinne des Wortes, aber er kennt auch Grenzen: „Im Unterschied zu Michael Moore habe ich nicht von vornherein eine These im Kopf, die durch das Material dann nur noch illustriert wird.“ Natürlich geht auch Veiel mit einer Absicht in ein Gespräch, aber er setzt sie nicht um jeden Preis gegen die Anderen durch. Er lässt sich korrigieren, er ist biegsamer und geschmeidiger – im Unterschied zu Moore.
Ganz anders wieder, aber mit ähnlich erfrischenden Ergebnissen arbeitet Paolo Sorrentino in seinem Spielfilm „Il Divo“ an einer Entgrenzung, wenn er rund um den ewigen italienischen Ministerpräsidenten Mario Andreotti Szenen und Dialogen nachstellt resp. erfindet in dem Gestus einer haargenauen Dokumentation. Wie ein Filmemacher, der sich als Spielfilmer bezeichnen würde, mit dieser Vermischung umgeht und wie ein Filmemacher, der sich Dokumentarfilmer nennen würde, auch das eine Herausforderung für den künftigen Film-Diskurs.
Halten wir für den Moment fest: Die „unreine“ Form, in der sich die verschiedenen Formen und Stile mischen, ist wichtig geworden, auch und gerade für Filme, die sich als politisch empfinden. Georg Seeßlen zieht hier eine interessante Parallele zwischen Film und Leben: „Einen vorkinematographischen Zustand des Unbeobachtetseins, einer Wirklichkeit vor ihrer Inszenierung und ihrer medialen Reproduktion gibt es offensichtlich hierzulande nicht mehr.“ Das gilt verschärft für den sog. Politischen Film. Wo alles medial vermittelt ist, da darf sich eine filmische Wahrnehmung, die auf der Höhe ihrer Zeit sein will, nicht mehr auf e i n e Form beschränken und sich quasi selbst als Genre begreifen analog zu den Genres von Krimi oder Science fiction. Eine zunehmend komplexe Wirklichkeit wird vom medialen Schein trügerisch beleuchtet, lässt sich aber von ihm auch nicht mehr sauber unterscheiden.
Und das ist zumindest eine der Bedeutungen, die der Satz von Godard hat und weshalb er auch über die Zeit hinaus, in der er ausgesprochen worden ist, weiterhin aktuell ist. Die kritische Absicht, auf einen Misstand zu verweisen, sich eines Themas anzunehmen, so notwendig sie als geistige Grundausrüstung ist, reicht nur für oder bis zu einer TV-Reportage. Aber auch die Reportage ist eine Form, die ihren Gegenstand nicht ungefiltert, unbearbeitet präsentiert. Die gesicherte politische Haltung, die viele frühe Defa-Filme prägte, fand ihren Niederschlag in einer Form des “sozialistischen Realismus”, die meist alles andere war als realistisch, denn sie sollte Reklame machen für den positiven Helden. Gefilmt war das in einem Abbildrealismus, der versuchte, eine psychologische Wahrscheinlichkeit mit einer moralischen Ideologie irgendwie zur Deckung zu bringen. Die Ideologie ist spätestens mit dem Untergang des Sozialismus und dem Eintritt in die Post- oder gar Postpost-Moderne verloren gegangen. Die Form, in der diese Geschichten erzählt wurden, existiert aber weiter, auch wenn uns heute der fixe Referenzpunkt für eine konkrete politische Utopie fehlt. Sie beherrscht, modernisiert, weil sich das Empfinden für Tempo und Schnitt geändert hat, heute weitaus größten Teil unserer Fernseh- und Filmproduktion. Egal, ob es sich dabei um das Leid von Kindersoldaten, von Zwangsprostituierten, von Flüchtlingen aus der Dritten Welt handelt. Es sind diese Filme, die Ulrich Köhler gemeint hat. Sie haben nicht zufällig starke melodramatische Anteile, die das, was früher in politische Aktion münden sollte, jetzt in “Mit-Leiden” überführen. Die Tränen der Zuschauer, die sich häufig nach Kino-Premieren so ergriffen äußern, sind das Surrogat für eigenes oder kollektives Handeln.
Gibt es heute noch einen politischen Film, wenn er doch keine konkrete Lösung anbieten kann, weder innerhalb der Bilder noch in den Erzählungen oder gar in den Charakteren? Oder ist er erst dann wirklich “politisch”, wenn er sich dieses Versagens bewusst ist und– um mit Georg Seeßlen zu sprechen – auf einen Punkt außerhalb des Films zielt: „Ein ‚transzendentaler’ Film zeigt das Elend der Menschen (ohne Ideologie, ohne Gerechtigkeit), und verfolgt es bis an den Punkt, an dem es wahrhaft unerträglich ist. Was dann bleibt, ist nur die Empfindung der Gnade – oder die Revolte.“
“Einen Film politisch zu machen” bedeutet wohl heute, ein Empfinden dafür zu haben, dass unsere Welt in einem solchen Zustand ist, dass kein abbildrealistischer Film dem ernsthaft nahekommen kann. Die Welt ist keine geschlossene Erzählung, sie bietet sich voller Abstraktionen dar, ist voller Zerklüftungen und Fragmentarisierungen. Ein Regisseur wie Alain Resnais und die cineastische Bewegung des „rive gauche“ versuchte schon vor Jahrzehnten dem Rechnung zu tragen. „Das moderne Leben ist fragmentiert. Jeder fühlt das; die Malerei wie die Literatur bezeugen es; warum also sollte es das Kino nicht ähnlich tun, statt sich an die traditionelle lineare Konstruktion zu halten?“, notierte Resnais 1961. Der französische Regisseur hat in der Theorie wie in seiner eigenen Praxis zu einer eigenen Filmhandschrift gefunden. Er hat das klassische, chronologische Erzählen hinter sich gelassen und er hat eine Reihe von eminent wichtigen politischen Filmen geschaffen: Von „Guernica“ über „Nacht und Nebel“, „Hiroshima, mon amour“, „Muriel oder die Zeit der Wiederkehr“ bis zu „Der Krieg ist vorbei“. Filme, die zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Schauplätzen um ein Thema kreisten: Das Trauma des Kriegs und den damit verbundenen Demütigungen und Leiden der Opfer. Aber ist Resnais stilbildend geworden? Eher nein. Er ist – zusammen mit wenigen Anhängern – ein bewunderter Einzelgänger geblieben, dessen Filmwerk als schwierig rezipierbar gilt.
Auf der Ebene des Handwerks sind wir damit wieder bei den filmischen Formen und filmsprachlichen Handschriften. Deren Kenntnis ist in Deutschland in den letzten 15 bis 20 Jahren mit dem Untergang des Autorenfilms sträflich vernachlässigt worden. So wie das sozialrealistische Erzählen als ehernes Gesetz gilt, so ist die Linearität der Handlung auch zum dramaturgischen Grundmuster geworden. Ich will die Berechtigung dieser Art von filmischer Grundversorgung gar nicht in Abrede stellen – das ist der Preis dafür, dass Film massenkompatibel ist – , aber mit Blick auf die aktuelle Kino- und Fernsehproduktion gewinnt man den Eindruck, dass hier ein gnadenloser Verdrängungswettbewerb stattgefunden hat. Das Bewusstsein von der Vielzahl der Formen ist verloren gegangen zugunsten eines ästhetischen Konformismus.
Es existiert kein Bewusstsein mehr dafür, dass ein Schnitt an einer bestimmten Stelle für den Gehalt eines Films wichtiger ist als die wohlgesetzte, politisch korrekte, moralisch sympathische Aussage eines Protagonisten oder gar seines Regisseurs. Die schon sehr alten dramaturgischen Vorschriften, die Hollywood einmal entwickelt hat und die festlegen, wie erzählt werden muss werden bei uns immer noch viel zu sehr für verpflichtend angesehen, wo sich doch Hollywood längst davon befreit hat. Das hat hierzulande zum selbstreferentiellen System der Quote oder der Box Office-Zahlen geführt und zu dem Paket-Denken, das ich schon geschildert habe: Man glaubt, dem Publikum einen Film nicht zumuten zu können, der sich mit der Natur des Politischen beschäftigt. Deswegen produziert man einen Film nach den Gesetzen des fiktionalen Schemas im Abbildrealismus, orientiert sich an gängigenGenres und Schauplätzen, erzeugt einen mehr oder minder starken Thrill.
In diesem verminten Feld möchte ich, um pragmatisch auf der Ebene des Regiehandwerks anzukommen, zwei Forderungen aufstellen. Die erste: Ein Regisseur, mag er ein noch so kritisches inhaltliches Bewusstsein zu seinem Thema haben, muss sich immer auch kritisch Rechenschaft über die Wahl seiner Mittel ablegen. Leider steht die Wirklichkeit dieser Praxis diametral entgegen. Das in Deutschland (aber auch in den meisten anderen großen Filmnationen) gängige mediale Vermittlungsmodell priviligiert den Inhalt vor der Form und führt zu grotesken Verzerrungen zwischen einem womöglich interessanten filmischen Sujet und dessen fragwürdiger ästhetischer Umsetzung. Egal ob Fernsehsender, Förderer, Festivals, Medienpädagogik , Sozialarbeiter oder gar Kulturwissenschaftler: Sie alle verstehen Film zuförderst als große Plot-Maschine, aus dem man sich nach Belieben bedienen darf. Ein riesiger Apparat, der uns zu Tränen rühren soll, unsere Affekte ansprechen soll oder der im übrigen unsere „kollektiven Fantasien spiegelt“, wie es der berühmte Kulturwissenschaftler Michael Rohrwasser in einem Aufsatz zur Darstellung von „Vaterlosigkeit“ in fiktionalen Filmen ungerührt sagt. Die mehrheitlich ablehnende Meinung der Fachkritik wird meist ignoriert. So wie vor Jahren bei Arthur Brauners unsäglichem Holocaust-Film „Der letzte Zug“ (2006, Regie: Josef Vilsmeier) wird schon die bloße Absicht belobigt. In der Praxis führt das dazu, dass sich prominente Politiker für eine Drehgenehmigung für Tom Cruise als Graf Stauffenberg im Berliner Bendlerblock stark machen. Oder noch schlimmer: dass sich die Abgeordneten des Bundestags gemeinsam fiktionale Filme ansehen, und auf diese Weise meinen, ihr historisches Wissen aufbessern zu können. Selbst Kanzlerin Merkel hat diesbezüglich Nachholbedarf.
Was für den Regisseur eines jeden Films gilt, gilt besonders für einen Regisseur, der sich einem politischen Thema nähert: Er muss sich ständig des Doppel-Charakters seines Produkts bewusst sein. Auf der einen Seite ist sein Film eine Ware, halt eine besondere immaterielle Ware, die sich auf einem ständig überquellenden Markt behaupten muss, auf der anderen Seite ist es ein filmisches Werk, das womöglich eben diesen unendlichen Markt der Möglichkeiten kritisch behandelt. Es ist ein schizophrener Akt. Etwas anzuprangern und im gleichen Augenblick den ungeschriebenen Gesetzen der Warenlogik gehorchen zu müssen. Dabei hat die Ökonomie der Politik längst den Rang abgelaufen. Das Posthistoire kommt und geht, die Zirkulation von Waren oder nur noch Derivaten beschleunigt sich eher noch.
Einem Film ist unter diesen verschärften Umständen eine Rück-Besinnung auf „Bildpolitik“ abzuverlangen. Der bewusste Einsatz von Bildern – oder eben der Verzicht auf Bilder, Kamerafahrten, Schnitte – führte in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu aufsehenerregenden Debatten, die in Godards Formel, wonach Kamerafahrten „eine Frage der Moral“ seien, gipfelten. Das klingt für uns ein wenig verstiegen und erinnert am den Ausdruck von der „falschen Bewegung“, wo das Zoomen der Kamera gegen die „echte“ Bewegung der Kamera ausgespielt wurde. Oder ein Beispiel aus der feministischen Filmtheorie, wo der „weibliche Blick“ sich in die Höhe der Kameraposition dokumentieren sollte. Was zur Folge hatte, dass die Kamera in einschlägigen Filmen nicht mehr auf der (männlichen) Schulter sondern auf Bauchnabelhöhe getragen wurde.
Was uns heute dogmatisch erscheinen mag, hat doch einen tieferen, berechtigten Sinn: Die erkennbare Haltung des „Menschen zu dem, was er filmt und folglich zur Welt und allen Dingen“ , wie Jacques Rivette es einmal formuliert hat, spricht aus solchen Entscheidungen. Statt nur immer zu fragen: Was sehe ich da?, sollte die Fragestellung bei ernsthaft politischen Filmen einem Vorschlag der Medienwissenschaftlerin Stefanie Schlüter folgend lauten: „Wie schaut dich das an?“ Denn mindestens so wichtig wie das Bild, das einem im Film begegnet, ist der Blick, mit dem der Zuschauer es betrachtet.
Autor: Michael André
geschrieben Mai 2010
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