Überlegungen zu einer Ästhetik des Bösen im Film

Das Böse ist in den letzten Jahren zu einem Modebegriff geworden, der sich in unterschiedlichsten Bereichen ausbreitet. In der populistischen politischen Rhetorik taucht er ebenso als Schlagwort auf („Achse des Bösen“) wie als ethische Kategorie in der Einschätzung von Terrorakten, Kriegen und sanktionierter Folter. Wer sich auf der Seite des Guten wähnt, scheint eine Definition des Gegenteils bereits mit zu denken. Von daher scheint sich eine Definition meist zu erübrigen. Doch was geschieht, wenn auch das sogenannte Gute sich einer klaren Positionierung entzieht? Und schwieriger noch: Wie steht es in der Kunst, die das Böse weniger zu einer ethischen oder rhetorischen Kategorie als vielmehr zu einer ästhetischen erhoben hat?

Der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer entwickelt in seinen Aufsätzen zur „Imagination des Bösen“ (2004) Ansätze zu einer Begründung des Bösen als ästhetische Kategorie. Er sieht Gewalt und Ästhetik à priori als Bedingungsverhältnis und beobachtet große Unterschiede in der reinen Reflexion von grausamer Wirklichkeit und gewalttätiger Fiktion – bereits in der Antike: „So ist die Darstellung der Angst des Kriegers in der Schlacht, wie sie Homer in der Ilias gibt, prinzipiell zu unterscheiden von Aristoteles’ Rede über die Angst des Soldaten in der Schlacht.“ Die Kunst bedient sich der Darstellung von Gewalt aus anderen Gründen, gestaltet diese mit anderen Mitteln und vermittelt auch eine andere Perspektive.

Im Gegensatz zur Literatur haftet gerade dem Film als fotografischem Medium von Beginn an der Nimbus des Spiegels der Wirklichkeit an. Doch ebenso wie die Fotografie meist auf Inszenierung basiert, ist die filmisch reproduzierte Welt stets eine Welt der Fiktion – bereits durch die gewählte Kameraperspektive, die mit dem, was sie zeigt, vor allem auch verweist auf das, was sie nicht zeigt, also ausblendet. Siegfried Kracauers Idee, Film könne die Errettung der physischen Wirklichkeit sein, ist daher zunächst mit Skepsis zu begegnen: Sich ein Bild auch vom Schrecklichsten zu machen, bedeute ihm nach, dieses direkt zu erfahren, es ‚wirklich zu machen‘. Film könne somit den Zuschauer dazu zwingen, der Medusa – jenem absoluten mythischen Schreckensbild – ins (gespiegelte) Antlitz zu blicken. Schreckensbilder, „die um ihrer Selbst willen erscheinen, locken […] den Zuschauer, sie in sich aufzunehmen, um seinem Gedächtnis das wahre Angesicht von Dingen einzuprägen, die zu furchtbar sind, als daß sie in der Realität wirklich gesehen werden könnten.“[1] Diese Dinge, von denen man sich in der Realität abwendet, in einem filmischen Spiegel zu erblicken, hieße nach Kracauer, sie zu „erfahren“.[2] Und so könne Film helfen, die „physische Wirklichkeit“, selbst die der Massenvernichtungslager des Dritten Reiches, zu „erretten“:

Wenn „erfahren“ „erblicken“ heißt, dann wäre die Massenvernichtung nur erfahrbar, soweit sie visualisierbar wäre. Visualisierbar ist nur, was konkreten Charakters ist, was der Welt physischer Dinge zugehört. In Kracauers ontologischer Unterfütterung des Optischen, des Bildes als „Errettung der physischen Wirklichkeit“, liegt in der Tat ein geradezu maßloses Vertrauen, daß im Transfer ins Bild sich verflüchtigt, was gegen Errettung immun ist.[3]

Wichtig sei nach Kracauer also ganz grundsätzlich der Blick in den Spiegel, um wenigstens dort das Antlitz des Schreckens zu erblicken, dem wir uns sonst nur allzu gerne entziehen. Im Gegensatz zu der noch immer diskutierten Habitualisierungs-These der publizistischen Medienwissenschaft – die Annahme, filmischer Konsum von Gewalt könne einen Nachahmungseffekt auf den Zuschauer ausüben und müsse daher eingeschränkt werden – könnte man mit Kracauers Idee sogar von einer Notwendigkeit ausgehen, filmisch auch das Schrecklichste zu spiegeln und somit dem Zuschauer die alltägliche Todesflucht unmöglich zu machen.

Das Medium Film ist aufgrund seiner medialen Spezifika offenbar geeignet, eine überzeugende Simulation von Realität zu vermitteln, auf das sich der Zuschauer mit nahezu allen Sinnen und Emotionen einlassen kann. Bilder und Klänge umgeben ihn, Details entziehen sich jedoch immer wieder, und letztlich handelt es sich bei der filmischen Projektion um nichts weiter als ein phantomhaftes Lichtspiel. Vielleicht ist es auch diese Flüchtigkeit des vorbeirauschenden Spektakels, das den Zuschauer verleitet, dieses Lichtspiel als einen Spiegel von Welt anzuerkennen (immer wieder kommt Platons Höhlengleichnis in den Sinn). Kracauers Idee, Film könne dem Zuschauer auf diesem Wege mit ausgeblendeten Elementen von Welt konfrontieren und damit zu Erkenntnis und gedanklicher Reflexion bewegen, ist also zunächst einmal eine These oder Utopie, die es zu Überprüfen gilt. Und die ästhetische Kategorie des Bösen eignet sich dafür in besonderem Maße, da sie darauf überprüft werden sollte, ob sie sich im reflektierten Sehen wiederum in eine ethische Kategorie zurückdenken lässt.

Gibt es das böse Kunstwerk?

Karl-Heinz Bohrer definiert den Bezug zwischen dem Ästhetischen und dem Bösen wie oben erwähnt als ein Bedingungsverhältnis. Hauptmerkmal des von ihm vor allem in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts nachgewiesenen ‚Bösen’ ist die „Sinnverweigerung“. Grausamkeit, Zerstörung und Massaker tauchen dort scheinbar um ihrer selbst Willen auf und dienen keinem nachvollziehbaren ideologischen oder materialistischen Ziel mehr. Das Verbrechen erhebt sich förmlich über die Moral. Der Brite Patrick Fuery nennt das in seiner Filmtheorie metaphorisch die „Verführung durch die Finsternis“ (im Gegensatz zur „Verführung zum Licht“, die ebenfalls vorkommt). Solche seduktiven villain-Konstruktionen in der Charakterisierung der Vertreter des Bösen z.B. wandern in Abwandlung des Prototypen der schwarzen Romantik (gothic villain) durch die ganze Filmgeschichte. Einen massenwirksamen Typus schuft etwa George Lucas in seiner Science-Fiction-Oper Star Wars (1976) mit dem Vertreter der „dunklen Seite der Macht“, Darth Vader, der immer wieder zur Verlockung für den ‚Lichthelden’ (Luke Skywalker) wird. Gibt es also das ‚böse Kunstwerk‘?

Karl Heinz Bohrers Thesen werfen trotz ihrer literaturwissenschaftlichen Ausrichtung interessante Bezüge zum filmischen Kontext auf: „Was Kleist und Nietzsche für das 19. Jahrhundert fordern, ist nichts anderes, als dass die Ausgrenzung des Bösen ästhetisch wieder rückgängig gemacht werde.“[4] Bis dahin wäre das Böse auch als „hermeneutische Kategorie unterschlagen“[5] gewesen, es sei denn in spezifischer ideologischer oder zumindest narrativer Konnotation. Doch das Böse liege eigentlich im nicht klar Definierbaren, im ‚Negativen‘, einer sich der Definition entziehenden Kategorie. Immer wieder wurde in einer aufklärerischen Gegenbewegung versucht, das Böse inhaltlich einzugrenzen: „Die Dichter stellen das Böse in der Welt dar. […] eine mimetische Funktion, d.h. die Wiederholung der bösen Wirklichkeit, die nicht zu leugnen ist.“[6] Auf diesem Pfad kommt Bohrer schließlich zu seiner zentralen Frage: „Wer die Ästhetik des Bösen, wer den Befund des Bösen in der Literatur [bzw. Kunst] erkennen will, sollte von solchen liebgewonnenen Plausibilisierungen Abschied nehmen. […] Gibt es das böse Kunstwerk?“[7] An zwei Aspekten entwickelt er seine Antwort: am Begriff der Imagination des Bösen, den er an Edgar Allen Poe und Charles Baudelaire verdeutlicht, sowie an der Organisation dieser Imagination, wozu er Gustave Flauberts exotischen Historienroman Salammbô heranzieht. In der ‚Imagination des Bösen‘ „erscheint das Böse vornehmlich als eine Rhetorik des Bösen als des Schönen.“[8] Als filmische Vergleiche drängen sich Kenneth Angers thematisch vor allem mit Baudelaire verwandte Experimental- und Ritualfilme Scorpio Rising (1963), Lucifer Rising (1970-1980) und Invocation of My Demon Brother (1969) auf, mit denen der Filmemacher assoziativ montierte Collagen einer Ikonografie des Bösen  schuf. Zugleich sind die bereits im Titel geführten Schlüsselmotive, der Skorpion, der Lichtgott und der ‚dämonische Bruder‘ – in diesem Fall Popstar Mick Jagger, Sänger von ‚Sympathy for the Devil’ – in diesem Kontext als Ikonen des Schönen und des Erhabenen zu betrachten.

Das Imaginationsprinzip und das ästhetische Böse verschmelzen in Literatur wie Film. Nach Bohrer kann man noch weiter gehen: „Es gibt eine menschliche Affinität zum ‚Perversen‘. Die ästhetische Seite: diese Affinität darzustellen gelingt nicht der philosophischen, sondern nur der poetischen Rede. Mehr noch: die poetische Rede und der ‚Geist der Perversheit‘ haben etwas miteinander zu tun […].“[9] Mit seinen Ausführungen öffnet sich ein Ansatz, der in einer Übertragung auf den visionären Vietnamkriegsfilm Apocalypse Now (1979, von Francis Ford Coppola), diesen zu einem „bösen Kunstwerk“ in Bohrers Sinne machen könnte: der exotische Schauplatz, das potentiell Fremde, Andere und zugleich der in Flauberts Roman Salammbo wie auch in Coppolas Film fabulierte ‚Molochismus‘. In Apocalypse Now wird das Böse belegt mit der ‘Verführung zum mythischen Denken’, wobei der Mythos als Gegenbild zu Logos und Aufklärung steht. Basierend auf Joseph Conrads Kolonialroman Heart of Darkness erzählt der Film von der Reise eines Aufklärungskommandos in den Dschungel des kriegserschütterten Vietnams, um dort einen selbsternannten Gottkönig (Marlon Brando) zu entmachten. In der Konfrontation zwischen dem potentiellen Königsmörder (Martin Sheen) und dem philosophischen Tyrannen entwickelt der Film eine fatale Logik von Opferung und Zerstörung, die sich im mythischen Subtext des Films als Auseinandersetzung mit dem existenziell ‚Bösen‘ entpuppt. Kein anderer moderner Film ließ sich so weitgehend auf die seduktive Kraft des mythischen Denkens ein. Col. Kurtz tritt hier als ungebrochene Inkarnation eines ‚Moloch‘, dem Menschenopfer gebracht werden, auf. Apocalypse Now hat zu zwei Dritteln einen geschichtsphilosophischen Bezug – den Vietnamkrieg –, den er jedoch im letzten Teil verlässt, wodurch die filmische Imagination sowie Kurtz‘ Reden sich einer irrationalen, mythischen Ebene nähern. Daher ließe sich Apocalypse Now in diesem Teil als „gegen-aufklärerisch“ bezeichnen, da er einen „radikalisierten poetischen Diskurs darstellen, der sich Sinn herstellenden Eintragungen entzieht.“[10]

Wie das Böse in der Literatur entzieht sich auch das Böse im Film einer klaren Definition: Nur Andeutungen oder stellvertretende Symbole und Zeichen umschreiben das Böse selbst. Das eigentlich Bedrohliche vergleichbarer Filme, das immer wieder in zeitgenössischen oder späteren Rezensionen Unverständnis und Ablehnung hervorrief, ist das Irrationale, nicht Definierbare dieses geheimnisvollen Bösen, das die Filme genüsslich umspielen. Gerade das Rätsel des „Grauens“, das der sterbende Kurtz verbal beschwört, verleiht Apocalypse Now jene schillernde Faszination, die den Film immer neu rezipierbar macht. Ein hermetischer Mikrokosmos des Bösen ist es, mit dem sich der Zuschauer hier konfrontiert sieht, eine risikoreiche Herausforderung, denn: „[…] wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“ (Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Sprüche und Zwischenspiele 146). Die seduktive Strategie solcher Filme liegt darin, den Zuschauer mit seinem eigenen Abgrund vertraut zu machen – und könnte somit doch dem Spiegelbild der Medusa gleichen, das Kracauer bezeichnete.

Die Verführung durch das „Böse“ ist in diesem Sinne also zugleich die Verführung zum „Bösen“ – die Verführung zur Umwertung der moralischen Werte. Um sich dem Bösen aber zunächst als einer ästhetischen Kategorie im Film zu nähern, ist es notwendig, eine kleine Motivliste von dessen Erscheinungsformen aufzustellen.


Das finstere Double

Die Idee des finsteren, bösen Doppelgängers gibt es in Literatur und Film gleichermaßen, vielleicht, weil man auf diese Weise den moralischen und amoralischen Aspekt der Dinge in Bilder fassen kann. Dostojewskijs Doppelgänger, Stevensons Mr. Hyde – der Doppelgänger steht offenbar für eine Begegnung mit dem eigenen Tod, der dem Leben inhärent ist.[11] René Girard zeigt in seiner kulturanthropologischen Untersuchung La violence et le sacré (1972)[12] zudem den Zusammenhang zwischen dem monströsen Doppelgänger und dessen Beschwörung im Opferritual durch Masken auf. Diese Form des Maskenrituals bezeichnet Girard als Besessenheit:

Der monströse Doppelgänger tritt die Nachfolge all dessen an und nimmt den Platz all dessen ein, was die Gegenspieler in einem weniger akuten Krisenstadium faszinierte; er tritt an die Stelle all dessen, was jeder zugleich in sich aufzunehmen und zu zerstören, zu verkörpern und zu verstoßen wünscht. Besessenheit ist nichts anderes als die Extremform der eigenen Entfremdung im Wunsch des anderen.[13]

Mit Julia Kristeva müsste man in diesem komplexen Wunsch-Abwehr-Komplex auf das „Abjekt“ verweisen, jenen dunklen Aspekt des Ichs, welcher in der Abgrenzung zur mütterlichen ‚Chora‘ entsteht.[14] Das Abjekte, das Ausgegrenzte, wird trotz des Abscheugefühls immer wieder als Teil des Selbst empfunden, letztlich ist es dessen negative Projektion, und bedroht daher die Grenze der Selbstdefinition. Prominentestes Beispiel für dieses böse Double ist Robert Louis Stevensons Modell von „Dr. Jeckyll und Mr. Hyde“, wie es in zahlreichen Verfilmungen auftaucht, speziell, wenn beide Abspaltungen vom selben Schauspieler gespielt werden.

Der britische Filmemacher Nicolas Roeg etwa zeigt sich von Beginn seiner Regiekarriere an fasziniert von visuellen Doppellungen, Analogien und Doppelgängerfiguren. Unvergesslich ist wohl der leuchtend rot bemäntelte, zwergwüchsige Killer aus Don’t Look Now / Wenn die Gondeln Trauer tragen (1973), den der vermeintlich strenge Positivist John Baxter (Donald Sutherland) für die verstorbene Tochter hält. Obwohl hier Baxter selbst den entscheidenden Satz des Films formuliert – „Nichts ist, was es scheint“ –, gelingt es ihm selbst nicht, diese Skepsis auch auf seine nur scheinbar rational erklärbaren Beobachtungen anzuwenden. Die Vision des eigenen Todes, den Moment also, „wenn die Gondeln Trauer tragen“, nimmt er ebenso wenig ernst wie frühe Hinweise auf die Existenz des Killers im roten Mäntelchen. Erst im Moment seines Todes fügen sich die Wahrnehmungsfragmente zu einem verständlichen Puzzle zusammen. Dabei unternimmt Roeg in Don’t Look Now das radikale Experiment, einen streng auf sich selbst bezogenen filmischen Mikrokosmos zu entwerfen, der in seiner zyklischen Struktur die Künstlichkeit der Inszenierung oft konsequent deutlich macht.

Im Gewand eines antiutopischen Science-Fiction-Films erzählt Roeg in The Man Who fell to Earth (1975) vom luziferischen Fall des ‚schönsten Engels‘ der Popkultur seiner Zeit – David Bowie – auf die Erde, wo er Wasser für seinen Heimatplaneten organisieren soll. Doch die Begegnung mit dem amerikanischen Materialismus macht dem Besucher die Rückkehr unmöglich und zwingt ihn, in ewiger Jugend auf der Erde zu verweilen. Dieses visionäre antikapitalistische Drama nutzt die seduktive Aura des androgynen Popstars Bowie, um von einer zerstörerischen Welt aus der zunächst unschuldigen Außensicht zu erzählen. Bereits Performance (1969) von Roeg und Donald Cammell entwickelte vergleichbare Mechanismen, die moralische Polaritäten auflösen und das ‚Böse’ mit dem Verlockenden und Ästhetischen koppeln: Ein bis zur Misanthropie rationaler Londoner Gangster (James Fox) muss flüchten und versteckt sich im Haus des freidenkerischen Rockidols Turner (Mick Jagger), wo sich im sexuellen Kontakt mit zwei Frauen und einem Mann seine Identität langsam aufweicht und er am Ende die eigene Rationalität in Frage stellen muss. Diese Umerziehung des gewalttätigen Materialisten im Geiste der Hippie-Bewegung involviert den Rezipienten durch seinen komplexen Bild- und Montage-Stil in eine sinnliche Verführung zur Irrationalität. Dieses Modell ähnelt wiederum der schrittweisen Angleichung von Königsmörder und Tyrann in Apocalypse Now.


Die sinnlose Tat

David Finchers aktueller Film über den Serienmörder Zodiac (2007) verdeutlicht im Zitat der Bekennerbriefe des Killers immer wieder die Willkür und Zufälligkeit, mit der dieser seine Opfer auswählt. Er töte einfach aus Spaß, denn der Mensch sei das gefährlichste Tier, das man jagen könne. Gerade diese Willkür qualifiziert den bis heute nicht identifizierten Zodiac-Killer als Inkarnation des Bösen. Eine besonders böse Qualität sieht auch Bohrer – wie erwähnt – in der sinnlosen Gewalttat, die nur noch auf sich selbst verweist. „Veranschaulichen sie sich doch: ein Verbrecher weder aus Leidenschaft noch aus Not! Der Grund, der ihn treibt, das Verbrechen zu begehen, ist eben der Trieb, ein Verbrechen ohne Grund zu begehen.“[15] Der immoralische Dandy Lafcadio, der diese Worte spricht, hat zuvor den Adligen Amadeus Fleurissoire völlig ohne Grund aus einem fahrenden Zug gestoßen und damit getötet. Nun plant er, einen Roman über ein solches Verbrechen jenseits der Moral und rationalen Begründung zu schreiben. Mit diesen Überlegungen aus dem fünften Buch seines Romans Les Caves du Vatican (Die Verliese des Vatikan, 1918) begründete der Autor André Gide den acte gratuit, die scheinbar willkürliche Tat ohne Motiv, in der die größtmögliche ‚Souveränität‘ und Freiheit eines Individuums liege. Zwei Umstände konnten zu diesen radikalen, immoralischen Überlegungen führen: die Auffassung vom Menschen als Individuum und die gesellschaftliche Polarisierung zwischen Einzelne und einer unbestimmbaren ‚Masse‘. Martin Raether verweist in seinen Ausführungen[16] auch auf die Schlüsselfunktion von Descartes‘ Satz „Cogito ergo sum“, dem eine nahezu ‚egoistische‘ Subjektbehauptung innewohnt. Es gibt einige zentrale Elemente des acte gratuit: „Grundlosigkeit, Willkür, Mutwilligkeit, Zweckfreiheit, Motivlosigkeit, Sinnlosigkeit, Absichtslosigkeit“[17] usw. Für den Willkürtäter des acte gratuit liegt in der ziellosen Tat eine Selbsterhöhung – die ultimative Freiheit im völligen Verfügen über das Leben der/des Anderen: das Blut der Anderen vergießen, um sich selbst in seiner Exklusivität zu behaupten. Auch für den Zodiac in Finchers Film liegt hier eine Erhebung über seine Umwelt. Der Film verdeutlicht diese kleinen Momente des grausamen Triumphs in der Nachinszenierung der Taten, im Rahmen derer die Opfer schon bald verstehen, dass sie der Bedrohung auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Es ist diese ausweglose Situation, die gerade als Basis für den aktuellen Terrorfilm dient: Hostel (2005), Wolf Creek (2006) und High Tension (2002) rekurrieren allesamt auf den von Willkür geleiteten Täter, der seine Taten genießt und die Opfer wählt wie sie kommen. Hier wird keine Schicksalshaftigkeit mehr simuliert, es kann schlicht jeden Treffen in einer Welt, in der der sinnlose Gewaltakt zu einem weiteren Verfügbaren Zeitvertreib geworden ist. Und dass in Hostel 1 und 2 (2007) daraus bereits ein florierendes Geschäft gemacht wurde, unterstreicht nur die nächste Stufe des Bösen, das hier in seiner Kommerzialisierung und Globalisierung erreicht wurde. Hier sind ausgerechnet die amerikanischen Touristen zum hochbezahlten Wunschopfer geworden.


Der dunkle Souverän

Die Polarisierung zwischen Individuum und Masse findet sich auch in der Philosophie Friedrich Nietzsches, der dieses Modell im Bild von der „Herde“ und dem „Raubtier“ verdichtete. Nietzsches Bild des „Übermenschen“ ist letztlich selbst eine metaphorische Revolte gegen die Phänomene des ausgehenden 19. Jahrhunderts: Technisierung, Demokratie, Christentum und Utilitarismus. Nietzsche beschwor die Revolte des Einzelnen ‚wider die Masse‘. Das souveräne Individuum sollte sich aus den gesellschaftlichen und moralischen Zwängen lösen und sich selbst an die Stelle des ‚toten Gottes‘, der ‚umgewerteten Werte‘, als Absolutum setzen. Genau in diesem Modell lag natürlich auch das Potential, Nietzsches Gedanken für die Selbstdefinition eines totalitären Systems zu missbrauchen, das seinerseits eine Hierarchie zwischen ‚Herde‘ und ‚Raubtieren‘ etablieren möchte. Raether isoliert auf der Basis von Nietzsches Modell des „Willens zur Macht“, wie er beim acte-gratuit-Täter auftritt: „1. betonte Individualität, 2. aktives Freiheitsstreben bis zur Revolte, 3. Folgenindifferenz bis zum Verbrechen, 4. Gott-Teufel-Ambivalenz (oder Über- und Unmensch), 5. Scheitern.“[18]

Einen nach solchen Gesetzen funktionierenden gothic villain als Superstar inszenierte Jonathan Demme in The Silence of the Lambs (1991). Diese Mischung aus Psychothriller, Polizeifilm und gothic horror zeigt eine junge FBI-Anwärterin (Jodie Foster) im Banne des hochintelligenten, gebildeten und charmanten Psychiaters und kannibalischen Triebtäters Hannibal Lecter (Anthony Hopkins). In der Inszenierung dieser Figur kulminiert das seduktive Potential dieses Films, der den Zuschauer mit der absoluten Souveränität eines Menschen konfrontiert, der entschieden nach seiner eigenen Moral handelt, das Urteil über Leben und Tod seiner Mitmenschen selbst fällt und ihre Leichen als Kunstwerke arrangiert. Die seduktive Strategie dieses Films birgt eine radikale Herausforderung an die ethischen Werte des Publikums. Und auch hier erscheint das Böse wiederum als in letzter Instanz sinnverweigend: Grausamkeit und Tod stehen für sich und erzeugen allenfalls ihrerseits ein bizarre Variante von Ästhetik. Anthony Hopkins in seiner Rolle als hyperintellektueller kannibalischer Serienkiller Hannibal Lecter kann als Prototyp des bösen Souveräns bis heute gelten, auch wenn der Schauspieler selbst in dem jüngsten Prequel Hannibal Rising (2006) nicht persönlich auftaucht. In seiner unbezwingbaren Souveränität dominiert er die unerfahrene FBI-Anwärterin Clarice Starling (Jodie Foster) sogar aus seiner panzerglasgesicherten Zelle heraus. Bemerkenswert in ihrer Eigenständigkeit ist die Inszenierung jener ersten Begegnung zwischen der „Schönen und dem Biest“, deren anfängliches Lehrer/Schüler- bzw. Vater/Tochter-Verhältnis sich in der Fortsetzung Hannibal (2000) von Ridley Scott zu einer makabren Liebesgeschichte ausprägen wird.

Gegenüber seinen Mithäftlingen, die wie ungeliebte Raubtiere im Dunkeln hinter ihren Käfiggittern hausen, erscheint der mörderische Psychiater Hannibal Lecter wie eine Lichtfigur – ganz im Gegensatz zu den grauenvollen Geschichten, die Clarice Starling und das Publikum zuvor über ihn mitgeteilt bekamen. Interessant ist auch hier die Blickdramaturgie: Die anderen Insassen, die in der Dunkelheit meist nur zu erahnen sind, zeigt die subjektive Kamera erst, nachdem Clarice Starling sich direkt neben der Zelle befindet. Anders bei Lecter: Hier nähert sich die Subjektive langsam der Lichtquelle, die Mauer schiebt sich förmlich zur Seite und gibt den Blick auf einen freundlich blickenden Mann mittleren Alters frei. Keine Zellengitter versperren den Blick, vielmehr ist die Zelle durch eine weitläufige Panzerglaswand begrenzt. Die Raffinesse der Inszenierung setzt sich in der psychologischen Gestaltung des nun folgenden Dialogs fort, in dem es Lecter schafft, vom vermeintlich Verhörten immer wieder in die Position des Fragenden zu gleiten. Immer wieder greift er detaillierte Beobachtungen auf, um kleine Schwächen gegen die junge Frau auszuspielen. Und doch wird sich zwischen der FBI-Anwärterin und dem psychopathischen Psychiater ein fast zärtliches Verhältnis ausprägen, gelegentlich untermauert von kleinen Gesten, etwa wenn er später bei einer Dokumentenübergabe ihren Finger leicht streichelt. Mit blutrünstigen Mitteln gestaltet sich Dr. Hannbial Lecter die Welt, absorbiert förmlich jene Menschen, die sich in seinen Weg stellen, schlüpft ganz wörtlich in ihre Haut, als er flüchtet, und wird sich später auch an Dr. Chilton rächen, der ihn in seiner Zelle demütigte. Lecters Intellektualität verortet ihn jenseits aller gültigen moralischen Normen und Gesetze, doch ist sein Wirken nicht gezeichnet von der Auflösung der Rationalität, sondern ist jenseits eines mitmenschlichen sozialen Verhaltens verortet. Lecter praktiziert die absolute Souveränität, sobald es ihm möglich ist, er lebt den Traum vom erhabenen Geist jenseits humaner Bezüge und Einschränkungen. Das absolut Böse an Hannibal „the Cannibal“ ist, dass er nur noch sich selbst als Referenz anerkennt. Der unglaubliche Erfolg dieses Films und die Ikonenhaftigkeit dieser Rolle, die Anthony Hopkins noch in zwei Fortsetzungen verkörperte, zeugt von der Verführungskraft dieses Traumes, alle Grenzen zu transzendieren – und sei es um den Preis der Vernichtung anderen Lebens.


Terror und Krieg

Es dauerte eine geraume Zeit, bis auch der Krieg dem Reich des Bösen zugerechnet wurde – oder doch zumindest die positive Konnotation des Krieges als unethisch galt. Speziell das 20. Jahrhundert hat durch die umfassende mediale Reflexion des Krieges ein deutliches Bild von Schrecken und Tod hinterlassen, das zumindest im Westen mehr denn je in Frage stellt, ob ein kriegerischer Schlag das legitime Mittel der Politik sei. Der Herr des Krieges ist zugleich auch eine Inkarnation des Bösen – an der kritischen Diskussion um George W. Bushs Irakpolitik, aber auch die Drohgesten Nordkoreas, wird diese Übereinkunft täglich deutlich. Schwierig wird es, wenn man es mit auf den ersten Blick undurchschaubaren und daher ethisch schwer einschätzbaren Kontexten zu tun bekommt: Diese Ratlosigkeit zeigt sich in Filmen wie Lord of War (2005) über internationalen Waffenhandel, und auch Blood Diamond (2006) von Edward Zwick, der den afrikanischen Bürgerkrieg in Sierra Leone thematisiert. Wie kann man ein Phänomen wie die Kindersoldaten fassen? Hier verwischen sich Grenzen von Täter und Opfer, weichen klare ethische Angrenzungen auf. So verweisen diese Filme auch nicht mehr auf Personifikationen des Bösen, wie sie etwa Steven Spielbergs Kriegsfilm Saving Private Ryan / Der Soldat James Ryan (1996) in der Zeichnung der deutschen SS-Soldaten noch hat, sondern verlegen sich ganz auf eine grundsätzliche Verurteilung gewalttätiger Interaktion. In dem amerikanischen Irakkriegsfilm Jarheads (2005) ist der Feind nur noch als Phantom und in extremer Entfernung präsent. Lediglich Tears of the Sun / Tränen der Sonne (2003) mit Bruce Willis konstruiert sich eine Handlung im afrikanischen Bürgerkrieg, die Polaritäten zulässt und sich weit von den historischen Fakten entfernt. Ridley Scotts Black Hawk Down (2001) dagegen arbeitet mit einer konsequenten Mehrfachcodierung, die eine Dämonisierung des anonymen Feindes aus subjektiver Sicht der in Somalia abgestürzten Amerikaner erklärbar macht.

Der Actionstar Bruce Willis ist auch der Protagonist von inzwischen Die Hard-Filmen, in denen er als hartgesottener Cop Jack McClane gegen internationale Terroristen antritt. Hier dient die verbreitete wie diffuse Terrorangst in Amerika und Europa allerdings eher als Stichwort für ein verheerendes Actionfeuerwerk. Die Terroristen des ersten Teils waren noch deutscher Herkunft, heute lauert die Gefahr ehr aus Nahost.

Auch hier dient der Entwurf des bösen Gegenspielers der Abgrenzung und Vereinfachung der Verhältnisse. Selten bekommen diese villains ein Charisma zugesprochen, wie wir es von einer Figur wie dem Serial Killer kennen. Zugleich verfolgen ihre destruktiven Akte ein spezielles, ideologisch konnotiertes Ziel, das sie vom selbstzweckhaften Souverän unterscheidet. Ihr böses Wirken ist aufgeklärter und rationaler Natur, was ihnen eine gewissermaßen widersprüchliche Qualität verleiht. Die Söldner aus Blood Diamond etwa beschönigen ihre Position nicht: Egal, um wen es geht, alle sollen sterben, wenn der Auftrag gegeben ist. Die Aufklärung begegnet im Söldnertum ihrem eigenen verfemten Schatten, ihrem eigentlichen dark double.


Im Angesicht des Nichts

Im Sinne des Existenzialismus besteht eine ewige Wahl zwischen dem Sein und dem Nichts. Insofern das Nichts ein Reich der Wertelosigkeit und Bedeutungslosigkeit ist, könnte es als die Sphäre des Bösen begriffen werden. Eine Konfrontation des Zuschauers mit dem existenzialistischen Nichts im Film ist immer verunsichernd: In Bruno Dumonts Twentynine Palms (2002) erleben wir die ziellose Reise eines Pärchens durch die kalifornische Wüste, bis das Böse in Form von brachialer Gewalt Einzug in die flirrende Hitze hält und neben zwei Toten vor allem Fragen zurücklässt. Dabei sind Dumonts Filme immer schon Annäherungen an das Nichts. Kein Schicksal, keine nachvollziehbaren Zusammenhänge werden deutlich. Das Leben fließt, und manchmal bleibt jemand auf Strecke… In Cube (1999) sind einige Leute in einem bizarren Würfelsystem gefangen, das einen nach dem anderen das Leben kostet. Als der letzte Überlebende, ein Autist, die Freiheit erreicht, erwartet ihn nur ein blendendes Weiß. Warum die Menschen hier aus ihrem Alltag gerissen wurden und einer fatalen Grenzsituationen ausgeliefert wurden, bleibt offen.

Das Nichts entspricht nach Rüdiger Safranskis Interpretation von Joseph Conrads Roman Heart of Darkness jenem Realm des Nichts. Der Ausspruch des sterben Kurtz „Das Grauen! Das Grauen!“ sei der Einblick in die totale Bedeutungslosigkeit des Daseins – die Konfrontation mit dem Nichts, das jeder Menschlichkeit spottet. Und just dieses Nichts wartet am Ende einer Revolte gegen die Aufklärung: Was der Roman letztlich erzähle, sei eine komplex verschlüsselte physische Reise in die Abgründe der eigenen Seele. Zunächst mutmaßt Marlow über die befremdliche Entwicklung, die Kurtz im Dschungel durchgemacht zu haben scheint, als sei es eine Regression in barbarische, archaische Gefilde der menschlichen Entwicklung, der Umschlagspunkt einer Dialektik der Aufklärung, an dem sich der einst schöngeistige, gebildete und künstlerisch begabte Mann selbst zum Gott ernannte. Als sich die beiden Männer – der eine geschickt als Ablösung für den anderen – schließlich begegnen, wird deutlich, dass die Dinge komplizierter sind. Natürlich sind es jene „wilden“ Riten, mit denen er sich umgibt, doch als rationaler, aufgeklärter Europäer zeigt sich darin letztlich nichts als ein dekadenter Manierismus. Was Kurtz hier zugrunde gehen lässt, ist nicht die Verzweiflung an der eigenen Fähigkeit, die Finsternis rituell zu leben. Das eigentliche Grauen liegt darin, dass sich der Dschungel, der zu ihm „wispert“, jeder rationalen Sinnzuschreibung entzieht. Als Kurtz das „Herz der Finsternis“ erreicht hat, sieht er sich dem existenzialistischen „Nichts“ gegenüber, dem Camus’schen „Absurden“. Er macht die Erfahrung des Abgrundes, wie er bei Friedrich Nietzsche als Alptraum auftaucht: die Erkenntnis, keine Bedeutung zu haben, nichts zu sein inmitten des Nichts. Das war es, was er aus der Finsternis des Dschungels vernommen hatte. Conrads Reise ins Herz der Finsternis ist eine erste Begegnung mit der völligen Abwesenheit von göttlicher Präsenz und Ethik. Conrads Dschungel ist das Bild gewordene Nichts. Kurtz ist im Moment seines Todes zu einer Erkenntnis gelangt, die ihn jenseits moralischer Kategorien von Gut und Böse verortet. Den heidnischen Bombast wie Kannibalismus, Orgien und Blasphemie hat er dann bereits hinter sich gelassen. Und tatsächlich konnte dieser Versuch, das kulturell konnotierte Böse zu leben, den Widerspruch zur zivilisierten Welt zu verkörpern, ihn nicht auf jene finale Begegnung mit dem vorbereiten, was er in seinen letzten Worten als „das Grauen“ umschreibt. Dieser Einblick in die eigene Bedeutungslosigkeit ist angesichts eines rituell gelebten Werdens und Vergehens nicht zu ertragen. Kurtz wurde zu einem „Hollow Man“ aus T.S. Eliots späterem Gedicht, einem „hohlen, gestopften Menschen“. Und mit Kurtz gelangt auch der Leser an das Ende der romantischen Lebenshaltung: „Die Romantiker, die nach der großen Götterdämmerung aus eigener Kraft ihre Götter hervorbringen wollen, stecken in folgendem Dilemma: Sie sollen an das glauben, was sie selbst gemacht haben, sie sollen das Hergestellte wie etwas Empfangenes erleben.“[19]

Das Verführerische an der Konfrontation Willards und des Publikums mit Col. Kurtz ist also in einer ersten Instanz die Verführung zum mythischen Denken als ein bewusster Aufstand gegen das rationale, aufgeklärte Denken: „Das mythische Grauen der Aufklärung gilt dem Mythos“, schreiben Adorno und Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung.[20] Insofern sich Kurtz selbst zum Gott erklärt und die ‚sakrale Zeit‘ ausgerufen hat, da er sich allen Gesetzen des aufgeklärten Humanismus‘ entgegenstellt, verkörpert er den Antipoden zu einem westlich-zivilisierten Kulturbegriff: Seine Blutrituale voller Verschwendung, Opfer und Kannibalismus brechen systematisch die Tabus eines christlich geprägten Humanismus, stellen gar in einer letzten Instanz sämtliche Grundrechte des Menschen in Frage. In Kurtz kulminiert eine schwärzeste Romantik mit dem Aufstand gegen die auf die Entfaltung des Individuums ausgerichtete Moderne. Kurtz hat den Endpunkt des totalitären Staates erreicht, ein Stadium des totalen Krieges, an dessen Ende nur der eigene Untergang stehen kann, der einzig die Hoffnung auf einen Neubeginn trüge – im mythischen Denken wohlgemerkt. All dies umschreibt einen Begriff, der nur aus einer Umkehr von Werten und immer neu definiert werden kann: das Böse. Und Coppolas Film ist – so viel mehr als Conrads Roman – eine rituelle Auslieferung an dieses Böse, der Blick in Medusas Antlitz, in den ‚dunklen Spiegel‘ des modernen Menschen.

Autor: Marcus Stiglegger

Text geschrieben Januar 2010


Literatur:

Roy F. Baumeister: Inside human cruelty and violence, New York 1999

Karl-Heinz Bohrer: Imaginationen des Bösen. Zur Begründung einer ästhetischen Kategorie, München / Wien 2004

Gabriele Meierding: Psychokiller. Massenmedien, Massenmörder und alltägliche Gewalt, Reinbek bei Hamburg 1993

Susan Neiman: Das Böse denken: Eine andere Geschichte der Philosophie [2002], Frankfurt am Main 2004

Frank Robertz / Ruben Wickenhäuser: Wenn das Böse siegt, in: Psychologie heute, Februar 2007, S. 70-73

Rüdiger Safranski: Das Böse oder Das Drama der Freiheit [1997], Frankfurt am Main 1999

Paul Virilio: Die Kunst des Schreckens [2000], Berlin 2001



[1] Kracauer [1960] 1985, S. 396

[2] Kracauer [1960] 1985, S. 296. Koch 1996, S. 142 verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass die Besucher der realen Leichenberge in befreiten Konzentrationslagern ihren Blick abgewendet hätten, Dokumentarfilme davon jedoch gebannt angesehen hätten.

[3] Koch 1996, S. 145

[4] a.a.O., S. 114

[5] a.a.O.

[6] a.a.O., S. 115

[7] a.a.O., S. 116

[8] Bohrer 1988, S. 117

[9] Bohrer 1988, S. 121

[10] Bohrer 1988, S. 125; siehe auch Bohrer 2004

[11] “Bei seiner Erkundung des Unbewussten und des Ungedachten entdecke der Autor ‘einen Teil seines Selbst und sogar noch mehr: seine Wahrheit, seine einzige Wahrheit’, wobei er ‘in kalter Erstarrung, von der er sich nicht abwenden, in deren Nähe er sich jedoch auch nicht aufhalten kann,’ herumtreibe, seien doch die Wiederholungen und Wiedererscheinungen […] nichts anderes als der Sirenengesang ‘des Todes selbst’.”[11] So erläutert James Miller das Doppelgängermotiv der Surrealisten und Maurice Blanchots.

[12] Girard [1972] 1994, S. 211-247

[13] a.a.O., S. 243

[14] Siehe hierzu: Julia Kristeva: Pouvoir de l’horreur. Essai sur l’abjection, Paris 1983; zur Doppelgängerthematik siehe auch: Bohrer 2004, S. 106ff.

[15] Gide 1973, S. 400

[16] Raether 1980, S. 73

[17] Raether 1980, S. 76

[18] Raether 1980, S. 103

[19] Safranski 1997 / 1999, S. 228; wiederum ist die Entstehungszeit des Romans zum Ende des 19. Jhs. zu beachten, die mit dem Ende der romantischen Epoche zusammenfällt.

[20] Horkheimer / Adorno [1944] 1988, S. 35