Zum Einfluss shintoistischer Motive auf den westlichen Genrefilm
1. J-Horror: Schwarze Haare, weißes Gewand
Mitten in einem Wohnzimmer ereignet sich das Unfassbare: Eine bizarre weibliche Gestalt kriecht langsam aus der flimmernden Bildröhre des Fernseher und bewegt sich in unnatürlich ruckartigen Bewegungen auf den fassungslosen Zeugen zu. Lange schwarze Strähnen verbergen ihr Gesicht, ein einfaches weißes Leinengewand ihre Gestalt. Ein Auge schimmert durch die Haare, es erscheint grotesk aufgerissen, die Pupille nach oben verdreht. Als sich die Finger in den Boden krallen, wird deutlich, dass alle Nägel ausgerissen wurden. Dieses Schreckensbild beschreibt eine Szene aus dem japanischen Erfolgsfilm Ringu (Ring, 1999) von Hideo Nakata, der auf einem Bestseller von Koji Suzuki basiert und alleine in Asien in mehreren Version – u.a. für das japanische Fernsehen und in Korea – neu verfilmt wurde. Bis heute entstanden noch drei offizielle Fortsetzungen von Nakatas Film in Japan. Das weltweit erfolgreiche Phänomen J-Horror war geboren und prägte fortan die populäre Wahrnehmung des japanischen Films im Westen. Filme von Takashi Shimizu und Kiyoshi Kurosawa definierten das scheinbar neu geborene Genre und versorgten es mit neuen Erfolgen (Ju-On – The Grudge, 2001, und Pulse, 2000), während Nakata mit Dark Water (2002) einen weiteren Hit nachschob.
2003 machte sich der Hollywood-Routinier Gore Verbinski an ein amerikanisches Remake namens The Ring und bereitete den Film sorgsam für den westlichen Markt auf. Für die Fortsetzung The Ring 2 (2004) holt man dann Nakata persönlich in die USA, um eine Variante seines Stoffes zu drehen. Westliche und japanische Versatzstücke verschmolzen und brachten eine Mutation hervor, einen Genresynkretismus, der zugleich shintoistische und buddhistische Motive in die westliche Industriegesellschaft trug, wie er die moderne westliche Lebensart mit animistischer Tradition verband.
Der folgende Text möchte beleuchten, aus welchen Quellen sich diese Konstrukte speisen, und in welchen Abstufungen japanische Traditionen in die populäre westliche Filmästhetik übernommen wurden.
2. Shintoismus – japanischer Animismus
Der Animismus, also grob gesagt der Glaube an die Beseeltheit der Welt, ist seit Jahrhunderten fester Bestandteil der japanischen Kultur. Der Shintoismus ist in Japan neben dem aus China und Indien importierten Buddhismus die wichtigste und älteste Religion. Die Bezeichnung ‚Shintoismus’ kam im 6. Jahrhundert zum ersten Mal vor, als sich der Buddhismus allmählich verbreitete. Vorher gab es keinen Grund, sich mit einem eigenen Begriff gegenüber anderen Glaubensformen abzugrenzen. Die wesentlichen Merkmale des Shintosimus sind Geisterglaube, Ahnenverehrung und der schließlich Glaube an eine belebte Natur. Früheste literarische Quellen wurden meist von Shinto-Priestern verfasst und setzen sich weitgehend mit märchenhaften und religiösen Themen auseinander, Geschichten von Tiergeistern und Ahnenflüchen waren daher verbreitet. Mit der Zeit gewann daher die Philosophie des Buddhismus an Bedeutung, da der Shintoismus keine vergleichbare philosophische Basis vorweisen konnte. Die spätere Mischform des Ryobu-Shinto entstand aus dieser Mischung.
Während im christlichen Kontext der Glaube an Geister und Monstren als Aberglaube abgelehnt wird, ist der Geisterglaube das wesentliche Merkmal des Shintoismus. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass sowohl der Natur als auch den menschlichen Beziehungen eine gutartige Harmonie (wa) eignet, die es dringend zu bewahren gilt. Im Zentrum steht der Glaube an kami. Kami bezeichnet einen „Gott“, kann aber auch grundsätzlich einen Geist meinen, oder eine übernatürliche Kraft bezeichnen. Der Überlieferung gemäß haben kami zwei Seelen: eine sanfte und freundliche (‘nigi-mi-tama’) sowie eine wilde, gewalttätige (ara-mi-tama). Keines dieser Konzept ist mit dem christlichen Dualismus von Gut und Böse vergleichbar. Allerdings werden im Shintoismus die Übergänge zwischen der realen und der geistigen Welt als fließend angesehen. So könnte jedes Wesen nach seinem Tod zu einem Gott werden, die Anzahl shintoistischer Gottheiten ist unermesslich.
Demnach finden sich auch die unterschiedlichsten Formen von kami: Ahnengeister (tama), also die Seele eines Verstorbenen; Familien-kami (das Kollektiv der jeweiligen Ahnengeister); die Schutzpatrone der Clans (uji), von Dörfern und Gemeinden (ujigami), sowie Schutzpatrone einzelner Berufsgruppen; Ortsgeister prägnanter geographischer Punkte (Berge, Wälder); dazu kommen Mischungen aus shintoistischen und buddhistischen und daoistischen Gottheiten; und schließlich die Tier-kami, die in Geistergeschichten häufig auftauchen (etwa als Katzengeister in Kuroneko, 1964, von Kaneto Shindo oder in Ju-On von Shimizu).
3. Yurei – weibliche Rachegeister
Die Vielfalt der Geister, die u.a. auch im japanischen Film vorkommen, ist unbegrenzt. Der japanische Ausdruck obake bzw. bakemono („verwandelndes Ding“) etwa bezeichnet die plötzliche Veränderung eben noch vertrauter Dinge und Gegenstände. Manche Lebewesen können überraschend spontane Wandlungen und Transformationen durchlaufen, und Tiere, die der Legende nach – so wie der Fuchs – übernatürliche Kräfte besitzen und über die Fähigkeit verfügen, ihre Gestalt zu verändern wie z.B. der Waschbär oder die Schlange, gelten als Tier-obake. Ein weites Spektrum von Kobolden, Trollen, Ghoulen und ähnlichen Schreckgestalten wird unter dem Begriff yokai (d.h. „verhexende Erscheinung“) zusammengefasst. In den yokai vermischen sich oft anthropomorphe Merkmale mit tierischen Attributen (Schnäbel, Schwimmhäute, Klauen, Tierkörper u.ä.). Manche von ihnen sind furchterregend, einige grotesk, andere belustigend. Der Anime Sen to Chihiro no Kamikakushi (Chihiros Reise ins Zauberland, 2001) von Hayao Miyazaki gibt einen originellen Eindruck von dieser Vielfalt. Shinya Tskuamoto zeigte in seinem Horrorfilm Hiruko – Yokai hanta (Hiruko – The Goblin, 1991) Riesenspinnen mit Menschenköpfen.
Weiterhin weiß die japanische Folklore von unerbittlichen Geschöpfen mit wirren Haaren. Bei diesen zudem mit Fangzähnen, Klauen und Hörnern bewehrten Kreaturen, die durch den Einfluss des Buddhismus Eingang in die japanische Glaubenstradition fanden, handelt es sich um die ‘oni’ (d.h.„Dämonen“,„Oger“ oder „Teufel“). In Kaneto Shindos Geisterfilm Onibaba (Onibaba – Die Töterinnen, 1966) z.B. – das heißt übersetzt etwa „Dämonenfrau“ – trägt die Ritualmaske, deren unheilbringender Einfluss im Verlauf des Film bestimmend wird, die verzerrten Gesichtszüge eines oni.
Am nächsten an der Ikonographie westlicher Spuk- und Schauergeschichten aber sind die sogenannten yurei (übersetzt „nebelhafter Geist“, also gewissermaßen: ein „Gespenst“). Die Seele eines Menschen wird zum yurei, wenn dieser nicht angemessen begraben wurde, eines gewaltsamen Todes oder ohne inneren Frieden gefunden zu haben starb. So sind ‚yurei’ Geister des Zorns, die den Ort ihrer früheren Existenz heimsuchen und die Lebenden terrorisieren. Oft handelt es sich bei den yurei allerdings um weibliche Rachegeister, die im Moment ihres Todes von Gefühlen wie Eifersucht, Trauer oder Wut beherrscht wurden. Ein Beispiel für die seltenere Erscheinungsform des männlichen yurei findet sich in Gestalt des ruhelosen Kriegers, dem es nicht gelingt, sich von den historischen Ereignissen, die zu seinem Tod führten, zu lösen und der nun auf vorbeiziehende Menschen wartet, denen er von der Vergangenheit berichten kann. Masaki Kobayashis berühmter Episodenfilm Kwaidan (1964) erzählt von vergleichbaren Ereignissen.
Im Laufe der Jahrhunderte wurden den yurei immer deutlichere Attribute zugeordnet: So sind sie meist in einen weißen Kimono gekleidet (den katabira oder kyokatabira), verfügen nicht über Beine, sondern bewegen sich in einem rauchähnlichen Dunst vorwärts. In den Kabuki-Theatern kamen yurei in Geistergeschichten (kaidan) vor. Diese entwickelten im 18. Jh. die Konvention, yurei durch ausgestreckte Arme und leblos herabhängende Hände zu charakterisieren. Die strähnigen langen Haare der weiblichen Geister verwiesen auf ein Element des Wahnsinns, denn nur verwahrloste und psychisch kranke Frauen waren im traditionellen Japan mit solcher Haartracht denkbar. Diese Elemente fanden alle einen Niederschlag im modernen japanischen Geisterfilm.
Die spezifische Motivation des Rachedurstes für yurei betreffend ist zwischen persönlichen und zwischenmenschlichen Versäumnissen sowie gesellschaftlichen Problemen zu differenzieren. In der japanischen Gesellschaft spielen die kollektive Harmonie, die Bemühung um Gemeinschaft und radikale Loyalität eine wesentliche Rolle. In einer so klar reglementierten Gesellschaft werden alle Abweichungen zu einem gemeinschaftlichen Problem. Das Versagen der Gemeinschaft wird vom jeweiligen Opfer geahndet: Die Gemeinschaft wird durch die Heimsuchung bestraft. Während frühe japanische Geisterfilme wie Ugetsu monogatari (Erzählungen unter dem Regenmond, 1953) von Kenji Mizoguchi oder Kwaidan (Kwaidan, 1964)[1] von Masaki Kobayashi stets in der Vergangenheit spielen und das Geschehen aus der Distanz des Märchens vermitteln, ist den neuen Geisterfilmen gemeinsam, dass sie vor allem die Auswirkungen gesellschaftlichen Versagens auf die Gegenwart thematisieren. Ju-On von Takashi Shimizu oder Ringu suchen Nähe statt Distanz und sind daher umso effektiver als Genrewerke. In vielen Beispielen sind die Geister das Resultat einer Vernachlässigung oder Misshandlung, die unbemerkt von der Gemeinschaft abläuft. Die Opfer kehren als Geister wieder, deren Fluch sich überträgt und fortpflanzt.
Am Beginn von Ju-On: The Grudge steht der Mord eines Mannes an seiner Frau und vermutlich seinem Kind. Das harmonische Gleichgewicht der Familie wird gewaltsam zerstört. Eine Leerstelle ist an diesem Ort – einem bürgerlichen Vorstadthaus – entstanden, die jeden, der sich nähert, mit ins Verderben zieht. Für die Altenpflegerin Rika scheint es sich auf den ersten Blick um einen typischen Fall sozialer Verwahrlosung zu handeln, als sie an ihrem neuen Arbeitsort, jenem Haus, eine einsame Greisin vorfindet, die auf einer kotverschmierten Matratze vor sich hindämmert. Doch allmählich kommt sie hinter das dunkle Geheimnis des Hauses. Als groteske Schattenwesen spuken die Geister der Ermordeten durch die Räume und rauben all jenen die Lebensenergie, die mit ihnen in Berührung kommen. So ist Ju-On nicht nur ein Film über ein Spukhaus, als vielmehr ein Film über einen tödlichen Fluch, der sich wie eine Krankheit ausbreitet und in der Psyche der Betroffenen fortpflanzt. Der Tatort ist nur der Ursprung einer langen Kette von Ereignissen, die sich in das Alltagsleben der Protagonisten hinein auswirken. Über persönliche und soziale Kontakte verbreitet sich der Fluch und wird zur tödlichen Bedrohung für alle, die in Beziehung zu einem der vorangegangen Opfer stehen. Das soziale System selbst wird zur tödlichen Falle. In der Gesamtperspektive offenbart sich das Bild einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft.
Schon Ringu erzählte 1999 von einem Schrecken, der sich wie eine Epidemie von einer Person auf die nächste überträgt und in der letzten Konsequenz (dem vierten Film der Reihe) über die ganze Welt ausbreitet. In Ringu zeigte Hideo Nakata eine Pervertierung der in der japanischen Gesellschaft als wichtiger sozialer Mechanismus fungierenden Geste des Schenkens, indem es den Trägern des Fluches möglich ist, diesen abzuwenden, indem sie ihn weitergeben.
Auch in Hideo Nakatas Film Honogurai Mizuno Sokokara (Dark Water, 2001), ebenfalls nach einem Roman von Koji Suzuki, geht es um den Tod der Familie: In einem düsteren, heruntergekommenen Wohnhaus findet die geschiedene Yoshimi für sich und ihre kleine Tochter Ikuko eine Wohnung. Zu dem Streit um das Sorgerecht für die Tochter und der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz gesellen sich die Bemühungen der junge Frau, sich der Anonymität der neuen Umgebung zu stellen. Ikuku muss in ihrem neuen Kindergarten mit der Ausgrenzung durch die anderen Kinder zurechtkommen, und die einzige Person bei der Yoshimi ein wenig Halt findet, ist ein Scheidungsanwalt. Das einsame kleine Mädchen, das vor dem Kindergarten darauf wartet, dass die Mutter kommt, um es abzuholen, wird zum Sinnbild dieser Situation. Ein trauriges kleines Mädchen, das im Regen steht und vergeblich wartet. Dasselbe kleine Mädchen, das vor einigen Jahren unter ungeklärten Umständen in dem Wohnblock verschwunden ist, ebenfalls aus einer zerbrochenen Familie stammte und nun eine unheimliche Existenz in den dunklen Fluren des neu bezogenen Hauses führt. Der kindliche yurei der in Dark Water Yoshimi und Ikuko heimsucht, wird zum Zeichen für das, was mit einer Gesellschaft passiert, wenn ihre Grundpfeiler zu bröckeln beginnen. Sein Auftreten ist zugleich Warnung und Vorwurf. Letztendlich können die aus dem Gleichgewicht geratenen Mächte, nur durch ein Opfer beschwichtigt werden. Es ist die ohnehin vom Schicksal schwer geprüfte Yoshimi, die sich schließlich, um das Leben des einen Kindes zu retten, dem anderen Kind hingibt. Die Harmonie ist so wieder hergestellt. Aber zu einem hohen Preis.[2]
Sowohl in Ju-On: The Grudge als auch Dark Water sind es die traditionell bekannten Ursachen, die dazu führen, dass die Seelen der Verstorbenen als yurei wiederkehren und die Lebenden heimsuchen. In Ju-On: The Grudge ist es ein Mord, in Dark Water ertrinkt das vernachlässigte kleine Mädchen beim Spielen in einem Wassertank, gilt daraufhin als vermisst und erhält dementsprechend kein Begräbnis. Es wird deutlich, dass die yurei in beiden Fällen zunächst selbst die Opfer sind, Opfer der Umstände, die zu ihrem Tod führten. Sie werden zu rächenden Tätern, um auf das Unrecht, das ihnen widerfuhr, aufmerksam zu machen. Beide Filme nutzen die jeweilige Ausgangssituation, um einerseits über das Leben innerhalb der japanischen Gesellschaft zu reflektieren, andererseits bedienen sich beide Filme der klassischen Mittel des Horrorfilms, und sind damit auch einem Publikum, das sich weniger intensiv mit den japanischen Verhältnissen beschäftigt, auf einer emotionalen Ebene unmittelbar zugänglich, sei es durch den effektiven Einsatz von optischen und akustischen Überraschungsmomenten und Schockeffekten oder durch die Etablierung einer unbehaglichen, beklemmenden Atmosphäre. Geschickt verbindet sich in diesen Filmen das Rätselhafte mit dem Nachvollziehbaren, das Fremde mit dem transkulturell Erfahrbaren.
Ein Begriff, der all diese Phänomene auf den Punkt bringt, ist onryou, die japanische Bezeichnung für Rachegeister, wie sie in japanischer Literatur, im Theater und schließlich im Kino immer wieder auftauchen.[3]
4. Einflüsse des Nô-Theaters auf das japanische Horrorkino
Neben der shintoistischen Mythologie und Ikonografie ist es vor allem das traditionelle japanische Theater, aus dem sich die Vorstellungswelt der J-Horrorfilme speist.
Die Theaterform Nô entwickelte sich im 14. Jahrhundert aus rituellen Tänzen und Ernteritualen. Vor allem in den Städten Kyoto und Nara war das Nô-Spiel an den Höfen und in den shintoistischen Tempelschreinen populär. Durch den religiösen Kontext, aus dem diese Theaterform entstand, wurde das Schauspiel als ein Weg der Erleuchtung verstanden: Es finden sich enge Bezüge zur Meditation, körperliche Übung und Aufführungspraxis sollten heilende Kräfte für Körper und Geist bergen. Die einzelnen Stücke behandeln meist mythische und spirituelle Themen. Geister und Dämonen sind ebenso ein fester Bestandteil der Figurenkonstellation eines Nô-Stückes wie auch eifer- und rachsüchtige Frauen. Im 15. Jahrhundert entwickelte sich das Nô-Theater hin zu einer kammerspielartigen Form für ein Elitepublikum. Zwei Faktoren konkurrieren in diesem Prozess: Zum einen brachte der soziale Aufstieg der Spieler, ihre zunehmend stärkere Bindung an das höfische Leben eine verstärkte Anlehnung der Bühnengestik an die Körper- und Gebärdensprache der Kriegerkaste. […] Zum anderen – und dieses Phänomen wurde lange von der Forschung vernachlässigt – üben sich die Krieger selbst in der Nô-Kunst und erklären diese Ende des 16. Jahrhunderts zu einer obligatorischen körperlich-geistigen Disziplin im pädagogischen Curriculum der Samurai.“[4] Das Shogunat erwirkte im 16. Jahrhundert eine vollständige Kontrolle über die Kunst: Es erfolgte ein Verbot der Weiterentwicklung dieser Theaterform, die unter anderem das Erfinden neuer Stücke untersagte. Seit dieser Zeit ist Nô nahezu unverändert und wurde mehr und mehr von bürgerlichen Theaterformen wie etwa dem Kabuki verdrängt. Im Nô-Theater etablierten sich über die Jahrhunderte Traditionen des shunen („Rachedramas“) und des shuramono („Geisterspiel“), während sich im Kabuki-Theater die Darstellung des Übernatürlichen (kaidan) differenzierte.[5]
Die auffällig langsame Erzählweise der beiden klassischen Geisterfilme von Kaneto Shindô, Onibaba und Kuroneko, stellt eine deutlich Parallele zum Nô-Theater dar. Auch die körperlichen Bewegungen der Schauspieler wirken sehr theatral: die häufige Hockhaltung der Darsteller etwa, die das Nô-Theater ursprünglich aus einer Bewegung der Samurai übernahm, welche von den Kriegern zur Vorbereitung auf einen Kampf praktiziert wurde. Ein weiteres Indiz ist die maskenhaft starre Mimik der Protagonisten. Auch das Unwahrscheinliche und das Unerwartete sind beim Nô-Theater ein entscheidendes Stilmittel. Durch das partielle Auseinanderfallen von Musik, Spiel und Sprache werden dem Zuschauer mehrere Optionen für den Fortgang der Handlung zur Verfügung gestellt. Ein Nô-Stück, das mehrere Ausgangsmöglichkeiten aufwies und mit unerwarteten Wendungen versehen wurde, galt als interessante Herausforderung des Zuschauers. Bis heute weisen viele J-Horrorfilme eine deutliche Mehrfachcodierung auf, die mehrere Möglichkeiten der Lesart oder Ausgangs zu lässt. Es ist auffällig, dass diese Mehrdeutigkeit, die eine Verbindung zum Nô-Theater darstellt, in den westlichen Remakes meist zugunsten einer Vereindeutigung aufgegeben wird.[6]
5. Japan – USA
In seinem umfassenden Buch „J-Horror“ (2007) stellt David Kalat noch einmal unmissverständlich fest, dass das zeitweise äußerst populäre Phänomen, das man im Westen unter dem Begriff J-Horror verbucht hat, nicht nennenswert vor 1990 auftritt.[7] „It is a phenomenon that arose from a certain special coincidence of factors.” Die erste Bedingung ist der technische Fortschritt, der als ein Moment der Bedrohung stilisiert wird. In einer Welt, in der nur wenige verstehen, wie technische Apparturen tatsächlich funktionieren, erscheinen diese nahezu als ‚magisch’. Und sofern man diese Magie als Teil des alltäglichen Lebens akzeptiert, umso nachvollziehbarer erscheint die shintoistische Perspektive, dass auch Maschinen ein Geist innewohnt, dass diese letztlich beseelt sind.[8] Die zweite Bedingung ist nach Kalat die Krise der traditionellen Familie in Japan, den USA und Westeuropa. Durch eine langsame Veränderungen von sozialem Bewusstsein haben sich die traditionellen Strukturen aufgelöst, zahlreiche Kinder sind mit neuen Elternkonstellationen konfrontiert – das reicht von alleinerziehenden Vätern und Müttern bis hin zu gleichgeschlechtlichen Paaren. Dieser ‚Tod der Familie’ im klassischen Sinne wirft die Frage auf: Was wird aus den Verlierern des neuen Systems? Und tatsächlich ist der Subtext von J-Horrorfilmen meist in Zusammenbruch der Familienstruktur zu finden. Und drittens schließlich ist es um die Jahrtausendwende umso wichtiger geworden, junge Publikumsgruppen anzuziehen, speziell auch den weiblichen Anteil zu gewinnen. Das gelang in ihrer Hochphase den J-Horror-Hits, indem sie emotionale und melodramatische Dispositionen mit dem zeitgenössischen hochtechnisierten Alltag verbanden und erstarrte Genrestrukturen mit neuer Relevanz aufluden.[9]
Rufen wir uns noch einmal die anfangs zitierte Szene in Erinnerung: Die yurei Sadako kriecht aus dem Fernseher in die profane Welt des Protagonisten und trachtet ihm nach dem Leben. Jenseits und Alltagswelt werden durch das Medium Fernsehen in beunruhigendster Weise verbunden. Obwohl man versucht ist, darin eine höchst originelle Variante von animistischem Grusel zu vermuten, betont Regisseur Nakata deutlich, dass diese Szene nicht dem Roman entstammt, sondern von amerikanischen Vorbildern inspiriert ist: Tobe Hoopers Poltergeist (1982), in dem die Tochter des verfluchten Hauses von Geistern aus dem Fernseher attackiert wird – und von David Cronenbergs kanadischer Produktion Videodrome (1983), wo der Protagonist von Halluzinationen geplagt wird und die Bildröhre zur organischen Membran wird, die ebenso Formen generiert wie sie seinen Kopf in sich aufnimmt. Der interkulturelle Synkretismus ist also bereits in Nakatas Film angelegt. Wie zu erwarten, verzichtet auch Verbinskis Remake nicht auf jenen Schlüsselmoment, wobei einige wesentliche Änderungen auffallen: Auf den ersten Blick erscheint die amerikanische Variante wesentlich aufwändiger und verspielter. Hier stehen tatsächlich weniger die grotesken körperlichen Bewegungen im Fokus, sondern der mediale Ursprung des Geisterwesens, das hier Samara heißt. Technisch überzeugend wird der Übergang von der Bildröhrenprojektion in die physische Realität vollzogen. Doch The Ring bewahrt Elemente des Mediums in der Gestaltung des Wesens bei. Während es bei Nakata sehr konkret physisch und wenig verfremdet erscheint (sogar das Gewand ist sauberes weißes Leinen), betont Verbinski das Verrottete des Körpers, dessen Arme Spuren der Verwesung zeigen. Zudem ist Samara von einer flimmernden Aura umgeben – als sei sie eine 3-D-Projektion. Die Unberechenbarkeit ihrer Proxemik äußert sich weniger in ruckartigen Bewegungen, als durch elliptische Sprünge im Raum. Als habe sich die Projektion verschoben, erscheint sie plötzlich einen Meter näher. Während im japanischen Film der tödliche Schock von einer Nahaufnahme des verdrehten Auges motiviert ist, wartet Verbinski mit einer verwesten Fratze auf, die an Linda Blair in The Exorcist (Der Exorzist, 1973) von William Friedkin erinnert.
Doch diese stilistischen Feinheiten sind nicht die einzigen Unterschiede zwischen den modernen Klassikern des J-Horrors und den westlichen Varianten: „Zumeist spielen Hollywoods Schocker an der festgeschriebenen Grenze zwischen dem bedrohlichen Übernatürlichen und einer Naturgesetzen folgenden, per se schützenswerten Normalität. Konservative Familienwerte und ein auf das Christentum zentrierter Monotheismus speisen hier die Furcht vor dem Unbekannten. Eine Verletzung der ideologischen Demarkationslinie zieht in der Regel viel Blut, Geschrei sowie die kathartische Überwältigung des Fremden – das fast immer auch das manifeste Böse ist – nach sich: Das Monster stirbt, die symbolische Ordnung wird wiederhergestellt,“ schreibt David Kleinger im Magazin Der Spiegel.[10] Dieser westliche Ansatz hat wesentliche Konsequenzen für die interkulturelle Übertragung japanischer Stoffe ins westliche Kino. Die radikale Betonung der Integrität der Familie im westlichen Modell geht mit einer weitgehenden Psychologisierung des Grauens einher. Ein simpler Fluch oder Rachdurst reicht nicht aus, um das Unheimliche zu motivieren. Der Geist selbst braucht einen psychologisch fassbaren Charakter, der sich wiederum aus der Desintegration des familiären Gefüges ergibt. Ist Sadako im japanischen Film Ringu noch eine zu Lebzeiten bereits fluchbeladene, parapsychologisch begabte junge Frau, die von der eigenen Familie ermordet wird, ist Samara vor allem ein vernachlässigtes kleines Mädchen, das unter den eigenen destruktiven Akten leidet und nichts weiter als geliebt werden will – so offenbart es The Ring 2 (Ring 2, 2004). Hierbei ist auch nur folgerichtig, das die westliche Fortsetzung weder einen Roman von Suzuki noch den gleichnamigen Film von Nakata als Vorlage hatte. Und statt immer apokalyptischere Dimensionen anzunehmen, wie etwa der japanische Ring – Spiral (2002), der eine Infektion der ganzen Welt mittels des Sadako-‚Signals’ andeutet, ist das Samara-Drama am Ende des amerikanischen zweiten Teils gelöst, indem die verzweifelte Mutter ihren besessenen Sohn zurück erobert. Im westlichen Geisterfilm ist die private Natur des jeweiligen Urdramas eine Universalie, die ebenso in Spanien (El orfanto / Das Waisenhaus, 2007) wie in Frankreich (Saint Ange, 2002) vorkommt. Andererseits sind diese europäischen Filme über defekte Mutter/Kind-Verhältnisse – allen voran Alejandro Amenabars The Others (The Others, 2002) – ohne den Erfolg der J-Horror-Welle in Genrekreisen kaum denkbar.
Kleinger betont weiterhin den Unterschied zwischen westlichen und japanischen Geisterfilmen und resümiert: „Im Gegensatz dazu findet das japanische Horrorkino seine Erdung in der jahrhundertealten Tradition der Geistergeschichten, etwa aus der Heian- oder Edo-Periode. So gehören übernatürliche Erscheinungen zum dramatischen Personal in den historischen Spielformen des Kabuki […], und nicht zuletzt die landeseigene Shinto-Religion nährt den Glauben an eine spektrale Präsenz der Verstorbenen – mit guten oder schlechten Absichten. Die Grenze zwischen Dies- und Jenseits ist diesem Verständnis nach durchlässig; in einer schon immer von Geistern besiedelten Welt kann es nicht um Ausgrenzung, sondern nur um Koexistenz gehen.“[11] Was im japanischen Film also eine Selbstverständlichkeit ist – die Koexistenz von Diesseits und Jenseits, kann im europäischen und amerikanischen Film (The Sixth Sense, 1999; The Others) durchaus der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte sein.
Neben The Ring war es vor allem Takshi Shimizus The Grudge, der als amerikanisch produziertes Remake internationalen Erfolg hatte (er spielte weltweit ca. 188 Mio. Dollar ein). Diesem Vorbild folgend wurde für The Ring 2 ebenfalls der Regisseur des japanischen Originals nach Hollywood geladen, um selbst ein Fortsetzung zu kreieren. Doch Nakatas Ideen erwiesen sich als weniger effektiv als die des Vorgängers von Gore Verbinski. Vor allem wurde eine Sequenz, in der Mutter und Sohn von cgi-animierten Rehen attackiert werden, als unfreiwillig komisch rezipiert. In Nakatas shintoistisch inspirierter Vorstellungswelt macht diese Sequenz allerdings durchaus Sinn. Sie funktionierte lediglich nicht im westlichen Kontext. Während Verbinskis Film noch eine apokalyptisch Ausbreitung des Ring-Virus’ andeutete, kehrt der zweite Film nun ganz in den privaten Kosmos zurück und beschwört die Reinstitution der verlorenen Mutter. Auf diese Weise erinnert er stark an Dark Water. Doch The Ring 2 konnte noch immer als kommerzieller Erfolg verbucht werden.
Weniger Glück war Walter Salles Remake von Dark Water (2006) beschieden, in dem Charakterdarstellerin Jennifer Connelly die Rolle der verlassenen Mutter übernahm. Da The Ring 2 bereits die Grundidee des Films vorweggenommen hatte, erschien der Film vermutlich eher wie ein Nachzieher der J-Horror-Welle, zumal sich Salles eher für die sozialkritischen Aspekte des Stoffes interessierte als für die Genremechanismen. Das macht seinen Dark Water zu einem zweifellos anspruchsvollen, doch weniger kommerziellen Psychodrama.
Takashi Shimizus Ju-On: The Grudge (2002), seine bis dahin dritte Variante des selben Stoffes, lief auch im westlichen Ausland mit einigem Erfolg. Sam Raimi und Robert Tapert, die Schöpfer des Horrorklassikers The Evil Dead (Tanz der Teufel, 1982), luden Shimizu in die USA ein, um ein Remake von Ju-On zu drehen. The Grudge (The Grudge – Der Fluch, 2004) war weniger wie The Ring ein Remake, als vielmehr eine Übersetzung des Originals mit Hilfe westlicher Fixpunkte. So drehte Shimizu in Tokio, jedoch mit amerikanischen Protagonistinnen. Der transkulturelle Aspekt bleibt somit organischer Teil des Dramas. Dieses Konzept funktionierte hervorragend und wurde erfolgreich u.a. auch als Extended Director’s Cut in den westlichen Heimmedien vermarktet. Das gilt allerdings nicht für The Grudge 2 (Der Fluch – The Grudge 2, 2006), der wie The Ring 2 kein Remake von Shimizus japanischem Ju-On: The Grudge 2 ist (2003), sondern eine eigene transkulturelle Geschichte konstruiert, die nun teilweise in den USA spielt. Differenzen zwischen Shimizu und dem Produktionsstudio führten zu einem wenig effektiven Kompromiss. Dennoch wurde 2009 Direct-to-DVD ein The Grudge 3 produziert, bei dem nun der Amerikaner Toby Wilkins Regie führte.
Anderen westlichen Varianten von J-Horror-Hits war noch weniger Zuspruch beschieden. Pulse, ein sehr vordergründiges Remake von Kiyoshi Kurosawas Kairo (2001), wurde mehrere Jahre in den Studios herumgereicht, bis es ohne viel Aufsehen bald wieder verschwand. Takashi Miikes Teenie-Horror One Missed Call (The Call, 2003) bezog das Grauen aus dem Handy und wurde 2008 von Eric Vallette als One Missed Call (Tödlicher Anruf) verwestlicht. Für den Fotografie-Horror Shutter (Shutter – Sie sehen Dich, 2008) holte man sich Masayuki Ochiai in die USA, wobei das Original Shutter (Shutter – Sie sind unter uns, 2004) allerdings ursprünglich aus Thailand stammt. Ähnlich erging es dem Hongkong-Film Gin Gwai (The Eye, 2002) der Pang Brothers und den koreanischen Into the Mirror (2003) und A Tale of Two Sisters (Zwei Schwestern, 2003), die beide im Remake komplett verwestlicht wurden.
6. The Grudge – Eine Amerikanerin in Tokio
Takashi Shimizus eigene Neuverfilmung von The Grudge erwies sich als effektivste Variante und war mit 188 Mio. Dollar Einspielergebnis auch die neben The Ring ertragreichste. Klugerweise verzichtet The Grudge auf eine Verlagerung des Schauplatzes in den Westen. Statt dessen wird ein in trüben Farbtönen gehaltenes Tokio zum Ort grauenhafter Ereignisse. Die Opfer des Fluches sind in dieser Variante zumeist ortsfremde Amerikaner, angeführt von Sarah Michelle Gellar[12] und Bill Pullman, der ähnlich apathisch agiert wie in seiner Hauptrolle in David Lynchs Lost Highway (1996).
Als freiwillige Krankenhelferin Karen gelangt Gellar in ein unscheinbares Einfamilienhaus, wo sie auf eine völlig verwahrloste und traumatisierte Frau (Grace Zabriskie) trifft. Vor allem aber warten dort nur die geisternden Seelen der gewaltsam ums Leben gekommenen Vorbewohner, die all jene heimsuchen, die ihre Kreise stören: eine unheimlich verrenkte Frau und ein blasser Junge, der mit Katzenstimme kommuniziert. All diese Elemente sind den vorangehenden Filmen Shimizus entnommen.
Um dem westlichen Publikum direkt ein vertrautes Gesicht zu präsentieren, sehen wir Bill Pullman sichtlich verstört auf dem Balkon seines Tokioter Appartements stehen. Vor den Augen seiner Freundin stürzt er sich über die Balustrade in den Tod. Dieser Selbstmord etabliert eine beruhigende Präsenz des Todes, die den gesamten Film durchzieht und die moderne Großstadt merkwürdig jenseitig wirken lässt. In der folgenden Sequenz kehrt Shimizu in die vertraute Bildwelt zurück und zeigt, wie eine japanische Krankenpflegerin den merkwürdigen Geräuschen im Spukhaus nachgeht. Auf spektakuläre Weise fällt sie der yurei zum Opfer. Erst dieses Verschwinden ermöglicht Karen (Sarah Michelle Gellar), ihren Job anzutrten – und aich sie wird in die unheimlichen Ereignisse verwickelt, denen ihr ebenfalls amerikanischer Freund am Ende zum Opfer fällt. Beide führen ein etwas isoliertes Leben als westliche gaijin in Japan – den Film aus ihrer Perspektive zu erzählen mutet für einen japanischen Filmemacher eher merkwürdig an, erklärt sich aber aus Shimizus ohnehin starken westlichen Einflüssen.
Karens verzweifelte Suche nach dem Ursprung des Fluchs durchsetzt Shimizu mit Rückblenden, die das schreckliche Ausmaß der Ereignisse enthüllen. Nahezu jede der unheimlichen Sequenzen – die er episodischen Struktur des Originalfilms ähneln – kulminiert im Ableben einer weiteren unglücklichen Figur. Dabei werden noch einmal alle Motive aufgeboten, die wir aus dem Fundus des J-Horrors kennen: die aggressive yurei, die sich stets mit grotesk-kehligen Lauten ankündigt, der eher tragische Kindergeist, der die Stimme seiner gequälten Katze angenommen hat, die körperlose Omnipräsenz der Geister, die überall auftauchen können, die Übertragbarkeit des Fluchs von einer Person zur nächsten und schließlich die Tücke des Objekts: etwas in der Sequenz, als Karen Freundin buchstäblich von ihrem Futon verschlungen wird. In der Inszenierung nähert sich Shimizu mit höherem Budget westlichen Horrorkonventionen deutlich an. Als ein Opfer im Aufzug mehrere Stockwerke fährt, taucht in dem jedem Stockwerk unbemerkt von ihr der Geisterjunge im Fenster auf. War diese Szene in Ju-On noch durch Montage gelöst, hat man sie hier in The Grudge mit überzeugenden CGI-Bildern simuliert. Eindrucksvoll ist auch jener Moment, in dem Karen unter Dusche in ihrem Haar eine Geisterklaue spürt, die aus ihrem Kopf zu kommen scheint – speziell dieser Moment – und die menschenverschlingende Matratze – erinnern deutlich an den Alptraumhorror aus A Nightmare on Elm Street (Nightmare – Mörderische Träume, 1984) von Wes Craven. Es verwundert daher kaum, dass Craven selbst sich einige Zeit als Regisseur des Pulse-Remakes empfahl.
Interessant ist eine Kritik an dem interkulturellen Kurzschluss, den The Grudge in dieser Neuinszenierung unfreiwillig offenbart, so David Kleingers im ‚Spiegel’: „Die unablässige Abfolge der Schocks lässt dabei leicht übersehen, dass der Film mit seinem markstrategisch verständlichen, ideologisch aber zwiespältigen Kunstgriff der amerikanischen Besetzung die Identifikation des Fremden als Ursprung allen Übels zulässt: Zwar gibt es mit dem stoischen Polizisten Nakagawa (gespielt vom in Japan überaus populären Darsteller Ryo Ishibashi) einen durchaus positiv besetzten einheimischen Protagonisten, doch das Schicksal der dahingerafften westlichen Figuren gemahnt bisweilen an das Lamento von Pauschaltouristen: In Mexiko sind es übergroße Kakerlaken, in Japan renitente Geister, die ihnen deutlich machen, dass sie nicht mehr in Kansas sind. – Aus der Perspektive der US-Opfer verschmelzen die unverstandene Kultur und der haarsträubende Spuk erneut in einer indifferenten Furcht vor dem Anderen. Doch es gibt Hoffnung: Das jüngere Publikum – welches zumindest in den USA dank der zumeist unblutigen Schocks zur relevanten Zielgruppe gehört – ist durch Manga, Anime und Computerspiele mit japanischen Erzählformen sozialisiert. Und auch das Thema der Entfremdung im medialen Zeitalter ist längst ihr eigenes geworden: Für sie ist der ‚J-Horror’ ein vertrauter Geist, der sich in die alte Maschine Kino geflüchtet hat.“[13] Für das große Publikum indes war bereits The Ring nur eine spezielle Spielart, ein spezifisches Bild des Grauens, das nicht per se in der westlichen Ikonografie verankert ist, so dass der weibliche Geist aus The Grudge bereits als simple Wiederholung wahrgenommen werden konnte. In der US-Version von Pulse und der offiziellen Fortsetzung The Ring 2 von Hideo Nakata konnte dieses Bild bereits nicht mehr überzeugen. So plötzlich wie er gekommen war, verschwand der J-Horror-Boom im Westen auch wieder aus dem populären Bewusstsein. Gegenwärtig ist der internationale DVD-Markt zwar noch mit der Auswertung der japanischen Genre-Originale beschäftigt, doch die Horrorflaute auf dem japanischen Markt lässt es deutlich an Nachschub mangeln. Dennoch haben J-Horror-Elemente Einfluss auf den westlichen – auch europäischen Horrorfilm – bewiesen. Doch dort haben sie sich längst verselbständigt und ein eigenes Leben begonnen, wie man etwas in Pascal Laugiers von Georges Batailles Philosophie inspiriertem Terrorfilm Martyrs (2008) sehen kann, der ein yurei-inspiriertes Alptraumwesen als falsche Fährte für den genreerfahrenen Zuschauer etabliert. So wurde der zeitweise erfolgreiche japanische Einfluss auf das westliche Kino bereits soweit assimiliert, dass der gegenwärtige Zuschauer nicht einmal mit der Quelle vertraut sein muss.
Autor: Marcus Stiglegger
Bilder: Ju-On – The Grudge
Literatur:
Biodrowski, Steve: Remaking Asian Horror, in: Cinefantastique, 1. 2. 2008, http://cinefantastiqueonline.com/2008/02/01/remaking-asian-horror-a-brief-history/ (Zugriff: 12.3.2009)
Brandon, James R. (Hrsg): The Cambridge Guide to Asian Theatre. Cambridge 1993.
Chei, Woon-Jung (Hrsg.): Märchen aus Japan. Frankfurt am Main 1996.
Creed, Barbara: The Monstrous-Feminine. Film, feminism, psychoanalysis, New York 1993.
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Kalat, David: J-Horror. The Definitive Guide to The Ring, The Grudge and Beyond, New York 2007
Kleingers, David: Japanisches Horrorkino. Grauen in der Endlosschleife, in: Der Spiegel, 3.3.2005, http://www.spiegel.de/kultur/kino/0,1518,344446,00.html (Zugriff: 8.7.2009)
Lokowandt, Ernst: Shinto. Eine Einführung. [Eine Publikation der OAG Deutsche Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens, Tokyo]. München 2001, S. 24
McRoy, Jay (Hg.): Japanese Horror Cinema, Edinburgh 2005
Mes, Tom / Sharp Jasper: The Midnight Eye Guide to New Japanese Film, Berkeley 2005
Scholz-Cionca, Stanca: „Halte den Fächer wie ein Schwert“. Zur Entwicklung der Körpersprache im japanischen Nô-Theater. In: Fischer-Lichte, Erika / Fleig, Anne (Hrsg.): Körperinszenierungen. Präsenz und kultureller Wandel, Tübingen 2000.
Schwade, Arcadio: Die Religionen. In: Hammitzsch; Horst (Hg.): Kultur der Nationen. Japan. Nürnberg 1975, S. 147-178.
Singer, Kurt: Spiegel, Schwert und Edelstein. Strukturen des japanischen Lebens.
Frankfurt am Main 1991.
Tworuschka, Udo: Die Religionen Japans. In: Ders.: Die vielen Namen Gottes. Weltreligionen heute. Gütersloh 1985, S. 205-241, hier.: S. 209.
Weisser, Thomas/Weisser, Yuko Mihara: Japanese Cinema Encyclopedia: Horror, Fantasy and Science Fiction Films, Miami 1997.
[1] Über diesen Film wurde bereits in der japanischen Kritik bemerkt, er sei in all seiner pittoresken Pracht eher für den exotistischen Blick des westlichen Zuschauers inszeniert.
[2] Diese Auflösung war u.a. von großem Einfluss auf den spanischen Horrorfilm El orfanto (Das Waisenhaus, 2007) von Juan Antonio Bayona.
[3] McRoy 2005, S. 175
[4] Scholz-Cionca 2001, S. 139
[5] McRoy 2005, S. 175
[6] In Dark Water etwa ist lange unklar, ob es sich bei den Erscheinungen nicht um Visionen der gestressten Protagonistin handelt, oder gar um eine Inszenierung ihres psychotischen Exmannes.
[7] Die erwähnten Klassiker des japanischen Horrorkinos von Shindo oder Kobayashi gehören zu den eher seltenen Beispielen vor 1990.
[8] Der berühmte japanische Anime-Film Ghost in the Shell (1996) von Mamoru Oshii spielt bereits im Titel mit diesem Motiv und stellt die Frage nach der Menschlichkeit in einer von Prothesenwesen bevölkerten Welt, in der das Bewusstsein längst über das Internet vernetzt wurde.
[9] Kalat 2007, S.268-269
[10] Kleingers 2005, http://www.spiegel.de/kultur/kino/0,1518,344446,00.html (Zugriff: 8.7.2009)
[11] Kleingers 2005, http://www.spiegel.de/kultur/kino/0,1518,344446,00.html (Zugriff: 8.7.2009)
[12] Gellar wurde mit der TV-Serie Buffy the Vampire Slayer zum Genrestar.
[13] http://www.spiegel.de/kultur/kino/0,1518,344446,00.html (Zugriff: 8.7.2009)
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