Mythos | Moderne

 

1. Das Projekt Moderne

Im akademischen Konsens haben sich Mythos und Moderne als unvereinbares Gegensatzpaar etabliert. Dabei kommt gerade das Schlüsselwerk der aufgeklärten Moderne, Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung, nicht ohne den Begriff des Mythos’ aus. Nicht nur bezieht er seine elementaren Beispiele aus der klassischen Mythologie (etwas Homers Odyssee), auch kann der Umschlagspunkt von Aufklärung in Barbarei nicht vom mythischen Denken gelöst werden, in der das individualistische, lineare, rationale Denken in ein kollektives, zyklisches und eben mythisches übergeht. Die Autoren verdichten ihre Thesen immerhin selbst: „schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.“[1] Mythos und Moderne stehen also selbst mindestens in dialektischem Verhältnis, wenn nicht die Moderne selbst zu einem Mythos der aufgeklärten Philosophie geworden ist. Die vorliegenden Studien begreifen sich keineswegs als weitere Aufklärungskritik, und schon gar nicht als ein möglicher anti-moderner Gegenentwurf. Vielmehr soll es darum gehen, den engen Bezug zwischen Mythos und Moderne in Phänomenen der populären Kultur, der Medien, Musik und Literatur zu untersuchen. Die Quellen dieses Diskurses sind ebenso in der modernen Philosophie, die der Aufklärung verpflichtet ist (Habermas, Adorno etc.) zu finden, wie auch in der selbst schon mythophilen Moderne (Nietzsche, Bataille, Heidegger etc.). Auch wird man nicht die offensichtlichsten Vertreter der Aufklärungskritik wie Botho Strauss oder Ernst Jünger hier thematisiert finden, sondern vielmehr Grenzgänger zwischen den Disziplinen und Ideologien, die bislang selten beleuchtete Aspekte deutlich machen können und umso mehr das Bedingungsverhältnis zwischen Mythos und Moderne verdeutlichen. Und was in der Literatur längst selbstverständlich ist, wurde für die (populäre) Musik und den Film bislang kaum reflektiert.

Hergeleitet von seinem lateinischen Ursprung bezeichnet das Wort „modernus“ das Neue, neuzeitliche oder schlicht Gegenwärtige, bezogen wiederum auf „modo“, was neu bedeutet. In Europa entwickelte sich dieser Begriff in den Sprachen unterschiedlich, einen festen Umriss erhält es jedoch erst im ausgehenden 19. Jahrhundert, wo es im Deutschen den Gegensatz zwischen antik und neu kennzeichnet, und im Französischen („moderne“), wo es bereits einen leicht pejorativen Beigeschmack hatte im Sinne von modisch und somit vergänglich. Diese Kennzeichnung des Modischen taucht noch heute abwertend in der Umgangssprache auf, wenn auf den vergänglichen Spleen von Kunst, Kleidung oder Architektur verwiesen wird. Anders wird diese Perspektive, wenn man Moderne als Stilbegriff verfolgt. Die Moderne steht hier für eine grundsätzliche Überwindung der Tradition in den unterschiedlichen Bereichen des gesellschaftlichen, politischen und kreativen Leben. Das ist geisteswissenschaftlich bis in die Aufklärung des 17. Jahrhunderts zurückverfolgbar, beginnt wirtschaftlich aber erst im 18. Jahrhundert mit der Industrialisierung, politisch gar erst mit der französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts  und setzt als Stil der Kunst erst im späten 19. Jahrhundert an. Zu dieser Zeit beginnt die klassische Moderne, die sich von der Mimesis des Realismus und Naturalismus programmatisch abwandte.

Mit Lászlo F. Földényi möchte ich noch einmal Jürgen Habermas’ Idee einer philosophischen Moderne in Erinnerung rufen, die sich konkret im Gegensatz zu einer mythischen Tradition lesen lässt: „Die Moderne ist ein historisches Gebilde, dessen Anfänge für das ausgehende 18. Jahrhundert anzusetzen sind; ihr bestimmendes Kriterium ist die Ablehnung fremder Maßstäbe, weswegen die Zeit genötigt ist, die Grundlagen ihrer Normativität in sich selbst zu finden; dies ist die Grundlage: überwuchernde Subjektivität im Vergleich zu den vorangegangenen Zeiten; Vorherrschaft der Selbstreflexion: das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst wird zur letzten Gewissheit; dieses Verhältnis verdoppelt sich zu einem transzendentalen und einem empirischen sowie zu einem bewussten  und einem unbewussten; eine beschränkte, endliche Erkenntnisfähigkeit wird zur transzendentalen Voraussetzung  der ins Unendliche gerichteten Erkenntnis (Kant): das ich erlebt sich gleichzeitig als Subjekt innerhalb einer Welt (als ein Objekt unter anderen Objekten) und als der Welt gegenüberstehendes transzendentales Subjekt; Verdoppelung des Subjekts zu einem von Grund auf schöpferischen und zugleich zu seinem Ursprung entferntes Wesen; Trennung von Staat und Gesellschaft in einen bürokratischen Staat und in politikfreies Wirtschaften; radikale Geschichtsbetrachtung (Marx, Nietzsche, Walter Benjamin); neue Schlüsselwörter: Revolution, Fortschritt, Emanzipation, Entwicklung, Krise, Zeitgeist.“[2] Und doch: Indem Habermas die Moderne nicht als Epoche, sondern als Mentalität begreift, die ausnahmslos jeden betrifft, indem er also die Dialektik der Aufklärung als grundsätzliches Kennzeichen der Moderne begreift, hat er den Mythos, die Tradition den Irrationalismus latent und hintergründig in seiner Definition bewahrt.

Noch problematischer ist eine Definition der Moderne in der Filmgeschichte gelagert. Natürlich ließe sich argumentierten, dass das populäre Medium Film per se ein Medium der Moderne sei, und daher stets mit ihr verbunden bleibe. Andererseits dauerte es einige Zeit – bedingt auch durch technische Entwicklungen –, bis der Film als Kunst die Komplexität etwa der zeitgenössischen modernen Literatur erreicht hatte. Vorreiter der filmischen Moderne waren zugleich die russischen Montagetheoretiker wie auch die epischen Spielfilme von David Wark Griffith, die bereits in der Zeit des Stummfilms mit einer bewusstseinsschaffenden Verschachtelung von Zeit- und Bewusstseinsebenen arbeiten. So beginnt die filmische Moderne um 1920. Die Verzögerung, mit der der Film von seiner ‚naiven’ Phase den Status der Moderne erreichte, wirkte sich auch auf das Ende dieser epochalen Kennzeichnung aus. So spricht man noch in den späten 1960er Jahren von prototypischen Werken der Moderne, wenn es um die Popartfilme von Andy Warhol und Paul Morrissey geht, oder etwa Nicolas Roegs und Donald Cammels Gangster-Pop-Drama Performance (1969). Erst in den 1980er Jahren diagnostizierte man den Postmodernen Film[3], den Thomas Elsässer zugleich als „postklassisches Kino“ bezeichnet – was indirekt andeutet, dass es sich beim vorangehenden Kino um das klassische handle. Wie man das Phänomen auch bezeichnen mag, die postmodernen Filme von Luc Besson, Jean-Jacques Beineix, Peter Greenaway, David Lynch, Oliver Stone oder Quentin Tarantino sind dennoch untrennbar verknüpft mit der Moderne.

Die Herausforderung wäre es, ausgehend von archäologischen Recherchen in der populären Kunst und Kultur des ausgehenden 20. Jahrhunderts (vor allem also Film, Literatur, Performance und Musik), eine andere Geschichte der Moderne zu erzählen, einer Moderne, die gerade nicht die Tradition und das mythische Denken überwunden hat, sondern ihre wesentliche Substanz auf diesen Phänomenen aufbaut. Und wie gesagt: Dabei soll es nicht um eine Gegenmoderne gehen, nicht um eine explizite Kritik an Adornos Idee vom Mythos als Feind der Moderne. Denn letztlich ist in der Moderne jener Bezug zum Mythos bereits mit angelegt. Der Umschlag der Aufklärung in die Barbarei zeigt diesen in einem fatalen Bedingungsverhältnis, zerrissen zwischen Tradition und Moderne, zwischen Mythos und Aufklärung. Die in den vorliegenden Aufzeichnungen betrachteten Künstlerinnen und Künstler, Kollektive und Artefakte sind Zeugnisse eines produktiven Kampfes zwischen Mythos und Moderne. Und es eignet ihnen als Qualität, dass sie diesen Kampf mitunter selbst zum Thema machen – mit Wort, Bild, Klang – oder gar dem eigenen Körper. Dies ist eine andere Geschichte der Moderne, ein mitunter erschreckender, manchmal amüsanter, immer aber radikaler Blick in den Abgrund des aufgeklärten Denkens. Ist die Moderne am Ende selbst schon ein Mythos?

Dabei sollen einige Schlüsselbegriffe erläutert werden, ohne die der Diskurs um Mythos und Moderne nicht auskommt: Souveränität, Transgression und Transzendenz. Nicht immer treten diese Phänomene, die es im Folgenden zu definieren gilt, in Verbindung auf, doch sie lassen sich als eine triadische Relation begreifen, innerhalb der sich die folgenden Werke verstehen lassen. Interessanter Weise sind es allesamt Begriffe, denen im Denken des französischen Philosophen Georges Bataille eine wichtige Rolle zukommt. So bietet es sich an, Batailles Ideen mit auf diese Reise zu nehmen, die zu mitunter unerwarteten Stränden führen wird.

 

2. Souveränität

„Veranschaulichen sie sich doch: ein Verbrecher weder aus Leidenschaft noch aus Not! Der Grund, der ihn treibt, das Verbrechen zu begehen, ist eben der Trieb, ein Verbrechen ohne Grund zu begehen.“[4] Der immoralische Dandy Lafcadio, der diese Worte spricht, hat zuvor den Adligen Amadeus Fleurissoire völlig ohne Grund aus einem fahrenden Zug gestoßen und damit getötet. Nun plant er, einen Roman über ein solches Verbrechen jenseits der Moral und rationalen Begründung zu schreiben. Gewalttat und ästhetische Reflexion werden von ihm in einem Zug gedacht. Mit diesen Überlegungen aus dem fünften Buch seines Romans Les Caves du Vatican (Die Verliese des Vatikan, 1918) begründete der Autor André Gide den acte gratuit, die scheinbar willkürliche Tat ohne Motiv, in der die größtmögliche ‚Souveränität‘ und Freiheit eines Individuums liege. Das Verbrechen selbst als Akt der Kunst. Zwei Umstände konnten zu diesen radikalen, immoralischen Überlegungen führen: die Auffassung vom Menschen als Individuum und die gesellschaftliche Polarisierung zwischen Einzelne und einer unbestimmbaren ‚Masse‘. Martin Raether verweist in seinen Ausführungen[5] auch auf die Schlüsselfunktion von Descartes‘ Satz „Cogito ergo sum“, dem eine nahezu ‚egoistische‘ Subjektbehauptung innewohnt. Oder Sören Kirkegaards „Selbstkonstitution des Individuums im Trotz“ in Die Krankheit zum Tode (1849): Dort drückt sich das Bedürfnis, der „eigene Herr zu sein“, in einer rational nicht weiter fassbaren Revolte aus. Raether nennt zahlreiche Elemente des acte gratuit: „Grundlosigkeit, Willkür, Mutwilligkeit, Zweckfreiheit, Motivlosigkeit, Sinnlosigkeit, Absichtslosigkeit“[6] usw. Wir haben es also mit einer Reflexion der Polatsch-artigen Selbstverschwendung bis hin zur nicht erwiderbaren Gabe zu tun, die Bataille und Baudrillard definieren, hier jedoch in einen nach außen gerichteten destruktiven Akt verkehrt.

Ohne den Begriff des acte gratuit zu kennen, beschrieb Fjodor M. Dostojewski bereits 1866 in Schuld und Sühne das doppelte Verbrechen Rodion Raskolnikoffs als einen selbstzweckhaften Akt, der in der blutigen Tat letztlich den „gewöhnlichen“ vom „besonderen Menschen“ trennt, um aus „tausend Menschen einen wenigstens etwas selbständigeren Menschen zu gebären.“[7] Hier wird deutlich: Für den Willkürtäter des acte gratuit liegt in der ziellosen Tat eine Selbsterhöhung – die ultimative Freiheit im völligen Verfügen über das Leben der/des Anderen. In diesem Sinne leuchtet die innere Logik des Gedankens ein, wenn sich Raskolnikoff als Mörder schließlich u.a. mit Napoleon vergleicht: das Blut der Anderen vergießen, um sich selbst in seiner Exklusivität zu behaupten. Hier wird auch der Unterschied dieses Modells zu Batailles „allgemeiner Ökonomie“ deutlich: Sich selbst zu verschwenden entspricht dem Einverständnis des Selbst mit der Tat, den Anderen zu verschwenden ohne dessen Einwilligung dagegen, setzt diesen Begriff der ‚Freiheit‘ und ‚Souveränität‘ mit Grausamkeit, Barbarei und Willkür gleich. Zugleich liegt in dem acte gratuit auch eine enorme Schwäche, die diesen Tätern offenbar verschlossen ist: „Seine Tat ist nicht nur vernichtend für das Opfer, sondern auch für den Täter, denn nicht die Tat ist ziellos, sondern der Mensch, der sie begeht.“[8]

Die Polarisierung zwischen Individuum und Masse findet sich auch in der Philosophie Friedrich Nietzsches, der dieses Modell im Bild von der „Herde“ und dem „Raubtier“ verdichtete. Nietzsches Bild des „Übermenschen“ ist letztlich selbst eine metaphorische Revolte gegen die Phänomene des ausgehenden 19. Jahrhunderts: Technisierung, Demokratie, Christentum und Utilitarismus. Nietzsche beschwor die Revolte des Einzelnen ‚wider die Masse‘. Das souveräne Individuum sollte sich aus den gesellschaftlichen und moralischen Zwängen lösen (hier sieht man noch den Ursprung von Batailles Transgressionsidee) und sich selbst an die Stelle des ‚toten Gottes‘, der ‚umgewerteten Werte‘, als Absolutum setzen. Genau in diesem Modell lag natürlich auch das Potential, Nietzsches Gedanken für die Selbstdefinition eines totalitären Systems zu missbrauchen, das seinerseits eine Hierarchie zwischen ‚Herde‘ und ‚Raubtieren‘ etablieren möchte. Raether isoliert auf der Basis von Nietzsches Modell des „Willens zur Macht“, wie er beim acte-gratuit-Täter auftritt: „1. betonte Individualität, 2. aktives Freiheitsstreben bis zur Revolte, 3. Folgenindifferenz bis zum Verbrechen, 4. Gott-Teufel-Ambivalenz (oder Über- und Unmensch), 5. Scheitern.“[9] Wenn man die individuelle Revolte durch Revolution ersetzt, erhält man tatsächlich eine Beschreibung totalitärer Minderheitendiktaturen. Auf der Ebene des Subjekts jedoch verbleibt der scheiternde Gewalttäter bei André Gide, Dostojewski oder Albert Camus‘ L’étranger (Der Fremde, 1942). Beide Modelle, Revolte und acte gratuit, wurden später wiederholt von der populären Kunst der Moderne aufgegriffen und zu einer unerhörten ästhetischen Überhöhung von Gewalt und Verbrechen verfeinert.

Gegenwärtig finden wir die Ästhetisierung der sich selbst erhöhenden und im willkürlichen Akt souveränen Gewalttäter in zahlreichen populärkulturellen Bereichen, von der subkulturellen Popmusik (Gangsta-Rap, Gothic, EBM) über eine Schwemme von Bestsellerromanen über Serienmörder (u.a. Bret Easton Ellis, Jonathan Nasaw) bis hin zum Kino von Quentin Tarantino und David Lynch. Elementar aber ist die von Thomas Harris entwickelte Romanfigur des kannibalischen Künstlers und Mörders Hannibal Lecter, ikonisch verkörpert in den Verfilmungen von Anthony Hopkins. In dieser immoralischen, im philosophischen Sinne souveränen Figur birgt der Endpunkt der Aufklärung eine Überwindung der humanen Ethik und schlägt direkt um in einen reflektierten menschenverschlingenden Barbarismus. Hannibal the Cannibal ist somit zugleich auch die treffendste Metapher für diese Zustand eines gefährlichen Endpunktes der modernen Dialektik.

 

3. Transgression

Grenzen zu überschreiten, um Souveränität zu erlangen, ist ein von Georges Bataille in der modernen Philosophie fest verankertes Konzept. Transgression (lat., “Überschreitung”, “Grenzüberschreitung”, “Übertretung”), ein von Bataille vor allem poetisch umschriebener Schlüsselbegriff, kennzeichnet die Grenzüberschreitung als Willensakt des Menschen im Sinne einer Tabuverletzung. Das Bedürfnis nach der Transgression wird nach Bataille von dem Tabu bzw. Verbot selbst ausgelöst, wobei er damit meist einen sexualisierten Kontext verbindet: die tabuisierte Handlung sei durch das Verbot selbst sexualisiert. Transgression sei genuin „menschlich“, da nur die menschliche Gesellschaft Tabus kenne, die ihr Zusammenleben regeln. Mit der Transgression sind vor allem Momente der Angst und des Ekels verbunden. Für Bataille unterläuft die Transgression nicht einfach das Tabu, sondern steht in einem komplexen Abhängigkeitsverhältnis, woraus ein ritualisiertes „Spiel“ entstehen kann, vor allem im Rahmen der Erotik. In seinem Buch L’Erotisme (Der heilige Eros (gekürzt) / Die Erotik, 1957) entwickelt Bataille am Umfassendsten den wechselseitigen Zusammenhang und das Bedingungsverhältnis von Sexualität, Tod und gesellschaftlichen Sanktionen. Michel Foucault bindet Batailles Transgressions-Begriff in dem Aufsatz „Préface à la transgression / Zum Begriff der Übertretung“ (1963) zurück an die Philosophie Nietzsches und de Sades, indem er in der sexuellen Souveränität und Transgression die Idee vom „Tod Gottes“ entdeckt. Wenn Friedrich Nietzsche vom „Tod Gottes“ sprach, von der Umwertung aller Werte, spreche er über eine Überschreitung der selbst gesetzten Grenzen: „Gott zu töten bedeutet bei ihm letztlich einen Gott zu töten, der bereits tot ist, bzw. den Gott nur zu beschwören, um ihn in einem Akt der Grenzüberschreitung immer wieder töten zu können. Der Tod Gottes schenkt uns nicht einer begrenzten und positiven Welt wieder, sondern einer Welt, die sich in der Grenzerfahrung entfaltet, die sich im Exzess, der die Grenze übertritt, bildet und auflöst.“[10] Das ist Michel Foucaults später Nietzscheanischer Kommentar zum Werk Batailles, der den Akt der exzessiven Grenzüberschreitung bereits in den fünfziger Jahren zur Utopie erhoben hatte. Er definierte diese Grenze bereits weniger als eine allseits feststellbare moralische Demarkationslinie, sondern als ein flüchtiges Phänomen, das sich im Grunde erst im Moment der Transgression offenbart. Der Transgressionsakt kann also nicht beliebig auf Wunsch herbeigezwungen werden, sondern bedarf einer latenten Bemühung, sich dieser so diffusen wie mächtigen Grenze zu nähern. Die Transgression wird zum Lebensprinzip der Philosophie Batailles. „Wenn man versuchen will, diese so reine und so verkapselte Existenz zu denken, […], so muss man sie aus allen zweideutigen Verwandtschaften zum Ethischen lösen. Sie vom Skandalösen oder vom Subversiven befreien, d.h. von dem, was von der Kraft des Negativen getragen ist.“[11] Analog zu Nietzsche wenden sich Foucault und Bataille gleichermaßen gegen eine Definition ex negativo, statt dessen denken sie die Transgression als einen Akt der kulturellen Befreiung. Batailles Begriff der Transgression bezeichnet den Zustand jenseits von Moral und ethischer Grenze, jenseits schließlich von Gut und Böse.

Im Zusammenhang mit dem Transgressionsakt muss Batailles Modell einer „Theorie der Verschwendung“ gesehen werden. Ausgehend vom destruktiven „Todestrieb“, den Sigmund Freud in Jenseits des Lustprinzips (1920) dem von ihm konstatierten „Lebenstrieb“, also einer konstruktiven Form der Sexualität, zur Seite stellte, unternahm Bataille Überlegungen zum Punkt des „Umschlagens“ vom Lebenstrieb zum Todestrieb. Die Sexualität wird in ihrer Verselbständigung zur Feier zunächst des emotionalen und schließlich des physischen Todes. Batailles Modell einer „allgemeinen Ökonomie“ der Verschwendung schimmert bei Freud bereits durch: Die Annahme, überschüssige Energie, die nicht mehr zu einem Wachstum tauge, müsse notwendigerweise „verschwendet“ werden, „willentlich oder nicht, in glorioser oder in katastrophischer Form.“[12] In zahlreichen Filmen, die den Komplex Liebe, Wollust, Begehren, Schmerz und Tod behandeln, spielt dieses prägnante Dreieck – Transgression, Todestrieb und Verschwendung – eine wesentliche Rolle.

In dem episodischen Geschichtenzyklus Histoire de l’oeil (Geschichte des Auges), seiner eigenen sadomasochistischen Prosa, spielt Bataille Akte der Grenzüberschreitung modellhaft durch, nähert sich de Sades pathologischen Todesriten ebenso wie einer enthemmten Körperfeier, die später der sexuellen Revolution der sechziger Jahre vorschwebte. Das „Auge“ des Titels ist nicht nur das Auge des Voyeurs, es ist vielmehr Batailles visionärer Blick angesichts der nahenden Grenze, ein „Auge“, das sich öffnet im Moment der Passage, während „das Ziel meiner sexuellen Ausschweifungen eine geometrische Weißglut (unter anderem die Koinzidenz von Leben und Tod, von Sein und Nichtsein), makellos funkelnd,“ sei.[13] Im Gegensatz zu Todeswunsch, Hass und Aggression sind für Bataille die einzigen fruchtbaren Medien für die Transgression die vielfältigen Riten der Sexualität.

Der Begriff der Transgression mag in den populären Medien der letzten Dekaden selten wörtlich vorkommen (obwohl sich Filmemacher(innen) wie Bernardo Bertolucci, Nagisa Oshima, Gaspar Noé oder Cathérine Breillat durchaus direkt auf ihn beziehen), dennoch kommt dem Phänomen zweifellos eine enorme Bedeutung zu. Vor allem die theatrale Performance, die Musik der Subkulturen (Industrial, Black Metal), das extreme Genrekino (Horrorfilm, Gangsterfilm, Thriller) und die populäre Literatur von Vladimir Sorokin über Jack Ketchum bis zu Charlotte Roche arbeiten mit einer dezidierten Ästhetik der Überschreitung, die sich nicht im bloßen Tabubruch erschöpft. Hier geht es nicht nur um den Gestus der ästhetischen Revolte, sondern um eine zutiefst moderne Weltsicht, die die eigene Ambivalenz bereits als Existenzform denkt. Und die schillernden Aspekte dieser zugleich modernen und die klassische Idee der Moderne transzendierenden Existenzform haben zu eine ganzen Reihe faszinierender Blüten geführt.

 

4. Transzendenz

Der für die aufgeklärte Moderne am wenigsten fassbare Bereich ist die Transzendenz. Was der Sphäre des Göttlichen und Heiligen angehört ist mit dem Begriffen des Menschen nicht mehr fassbar. Was nicht von dieser Welt scheint, entzieht sich auch den Kontrollmechanismen dieser Welt, ist an sich bereits souverän. Und gerade deshalb ist die Transzendenz, die Annäherung an das Heilige, zum besonderen Faszinosum für den Film geworden, denn was sich den Worten entzieht, könnte sich noch immer in Bildern und Klängen ‚lichten’.

Der Filmkritiker, Drehbuchautor und Regisseur Paul Schrader entwarf in seinem 1972 erschienenen Buch Transcendental Style in Film eine Idee von der audiovisuellen Begegnung mit dem Transzendentalen. Anhand des Oeuvres dreier Regisseure – Yasujiro Ozu, Robert Bresson und Carl Theodor Dreyer, allesamt Vertreter einer filmischen Moderne – untersucht er deren inszenatorische Versuche, das Heilige filmisch auszudrücken. Die auftauchenden stilistischen Gemeinsamkeiten bezeichnet er als transcendental style, wobei er all die verwendeten Begriffe einer eingehenden Definition unterzieht: „The Transcendent is beyond normal sense experience, and that which it transcends is, by definition, the immanent. […] It can mean directly or indirectly: (1) the Transcendent, the Holy or Ideal itself […], (2) the transcendental, human acts or artifacts which express something of the Transcendent […], (3) transcendence, the human religious experience which may be motivated by either a deep psychological need or neurosis (Freud), or by an external, „Other“ force (Jung). […] Transcendence in art is often equated with transcendence in religion because they both draw from common ground of transcendental experience.“[14] „Like transcendence,‘ the term ‚style‘ is susceptible to semantic confusion. It can have various meaning: it can mean, as Wylie Sypher states, ‚a contemporary view of the world‘ expressed by a particular geographical-historical culture, or it can mean the individual expression Raymond Durgnat describes as the ‚creation of a personal, a subjective, a ‚non-objective‘ world,‘ or it can mean what Heinrich Wölfflin called a ‚general representative form.‘ The style described in this essay is a style in the way that Wölfflin used that term, a style like the primitive or classic styles, the expression of similar ideas in similar forms by divergent cultures.“[15] „[…] transcendental style […]: a general representative filmic form which expresses the Transcendent. […] The study of transcendental style reveals a ‚universal form of representation.‘ That form is remarkably unified: the common expression of the Transcendent in motion pictures.“[16] Schraders These nimmt also eine kulturübergreifende Gemeinsamkeit an, die in der (filmischen) Inszenierung des Heiligen zutage tritt. Methodisch geht Schrader bei seiner Analyse von zwei Voraussetzungen aus: „that there are such things as hierophanies, expressions of the transcendent in society“[17] und „that there are common representative artistic forms shared by divergent cultures.“[18]

Die spezifischen Werke, die der Autor analysiert, bemühen sich eher um eine Distanz, die in Ruhe, Arrangement und minimalistischem Schauspielstil den Zuschauer auf die Begegnung mit dem Heiligen vorbereiten soll. Die Filme von Ozu, Bresson und Dreyer stehen in ihren stillen, konzentrierten Bildarrangements in deutlichem Gegensatz zu Hollywoods expressivem Ansatz, ein christlich-religiöses Propagandakino zu inszenieren, etwa in Cecil B. DeMilles The Ten Commandments / Die zehn Gebote (1956). Schrader polarisiert diese beiden Ansätze in „sparse“ und „abundant“[19], in „stasis films“[20] und „religious films“[21]. Im Extrem gesehen: Der überbordende religiöse Film gerät somit leicht in die Nähe des Kitsches, der extrem minimalistische Film kann leicht ins Apathische abgleiten. Den transcendental style, wie er auch bei Ozu, Bresson und Dreyer auftritt, verortet Schrader zwischen diesen Polen: „In a film of spiritual intent it is necessary […] to have an everyday and a disparity; there can be no instant stasis. The everyday both adheres to the superficial, ‚realistic‘ properties of cinema and simultaneaously undermines them.“[22] Da sich das Heilige – ebenso wie das ‚Böse‘ – offenbar einer konkreten Darstellung entzieht, kann es nur als eine Differenz auftreten zwischen nachvollziehbarer Alltagssituation und jener leichten Differenz, in der sich die Hierophanie offenbart. In diesem Kontext machen Bressons und Ozus aufs Äußerste reduzierte Inszenierungen Sinn. Und dieser Idee der Reduktion findet sich in theatralen Inszenierungen der jüngeren Gegenwart wieder, ist mitunter in den Dramentexten bereits angelegt, wie man in Botho Strauß’ Neuinterpretation des letzten Gesanges der Odyssee sehen kann (Ithaka).

Das Transzendentale zeigt sich also nicht in der Übererfüllung der Erwartungen. Diese produziert nur unfreiwillige Komik. Man vergleiche unter diesem Aspekt etwa Martin Scorseses fast schon existenzialistische Interpretation der Jesus-Geschichte in The Last Temptation of Christ / Die letzte Versuchung Christi (1988) mit dem naiven The Ten Commandments oder Mel Gibsons The Passion of the Christ (2000), der mit Lichtaura und himmlischen Chören stellenweise ganz vorsätzlich religiöse Kitschbilder reproduziert und vor allem ein katholisches Publikum weltweit begeisterte (wenn er auch zweifellos transgressive Momente ausspielt).

Der transcendental style der modernen Populärkunst liegt mit Schrader gesehen also in der Reduktion, Konzentration und Abstraktion, auch wenn unterschiedliche Medien und Kunstformen hier unterschiedliche kreative Zugänge fordern. Es lohnt sich, den transzendentalen Stil auch in anderen Künsten als dem Film zu entdecken, denn die Darstellung des Transzendentalen bleibt eine der großen Herausforderungen der aufgeklärten Moderne.

Ausgehend von den hier bereits vorgestellten Schlüsselbegriffen ist dieser Beitrag in drei thematische Blöcke gegliedert, die unterschiedlichen Gewichtungen mit Souveränität, Transgression und Transzendenz arbeiten. An speziellen Aspekten untersuchen sie in diesem Zusammenhang den Umgang mit dem Körper, die Kontinuität der Mythen in der populären Kultur und schließlich das mögliche ‚Ende der Symbole’ im Prozess der Mediatisierung.

 

5. Der ewige Leib

Es gibt eine Domäne, die trotz zahlreicher Versuche einer Virtualisierung bislang widerstanden hat: Es ist der versehrbare Leib des Menschen. Er bleibt als letztes authentisches Refugium, wenn die Wahrnehmung bereits aufgegangen ist in einer Welt der Simulation. Und so verwundert aus auch nicht, dass sich die modernen Medien auf ihrer Suche nach Authentizität immer wieder an dieses Refugium halten: den ewigen Leib. Während sich Musik und bildende Kunst in die Welt der Abstraktion zurückziehen kann, bleiben die szenischen Medien primär anthropozentrische: Im Mittelpunkt dieser Medien steht der menschliche Körper in all seinen Facetten. Und nirgendwo ist der Mensch mehr bei sich als in der Lust und im Schmerz. Dabei wird der Leib zum Arbeitsmaterial des Performance-Künstlers, zum Zeichensystem des Theaterschauspielers, zum „Rock’n’Roll-Temple“ (G.G. Allin[23]) des Rockstars – oder aber zum Montagekonstrukt des Films.

Der menschliche Leib in den audiovisuellen Medien ist kein per se authentischer Körper, sondern vielmehr die idealisierte Simulation eines solchen, fest eingebunden in das inszenierte Spiel und die Montage des Filmmaterials. Als Konsequenz daraus ist das Spiel des Schauspielers ebenso fragmentiert, wie die technische Apparatur dessen Körper visuell zerlegt und neu zusammensetzt: In der Montage erst entsteht die filmische Repräsentation eines menschlichen Körpers, der vom Publikum als solcher überhaupt wahrgenommen werden kann. Eine der Voraussetzungen des Mediums Films und dessen Vertretern ist also letztlich das Vertrauen auf die eigenen Simulationsmechanismen.

Dabei ist die Körperpolitik des Films unberechenbar und exzessiv, etwa wenn gerade im Slapstickfilm die Komik auf Kosten der Protagonisten geht, wenn z.B. Stan Laurel Oliver Hardy zur Strafe – und zum Vergnügen des Publikums – den Finger ins Auge stößt. Es scheint also nicht nur so, dass die filmische Repräsentation den Menschen immer neu als physisches Simulakrum für das Publikum konstruiert, sondern dass sich zudem der ehemals authentisch-sinnliche Körperbezug dieses Publikums in der Rezeption dieser Simulation wandelt: In der filmischen Repräsentation können mitunter Körpermisshandlungen nicht nur goutiert, sondern sogar als amüsant wahrgenommen werden. Sich der Problematik filmischer Körperpräsentation zu nähern, öffnet demnach unzählige Möglichkeiten, die zudem einen kompletten filmhistorischen Fokus zu berücksichtigen haben. So könnte etwa die Rede sein von den Bodydoubles der großen Stars, die stets in risikoreichen Momenten als Ersatzkörper zum berühmten Gesicht einspringen müssen, handelt es sich nun um Nacktszenen oder um gefährliche Stunts. Die Montage kreiert später den korrekten Körper, schafft die Simulation einer totalen Hingabe an das Publikum. Dziga Vertov brachte dieses Phänomen bereits in seinem Aufsatz Kinoki – Umsturz (1923) deutlich zum Ausdruck: »Ich bin Kinoglaz, ich schaffe einen Menschen, der vollkommener ist als Adam, ich schaffe tausende verschiedener Menschen nach verschiedenen, vorher entworfenen Plänen und Schemata. – Ich bin Kinoglaz. – Von einem nehme ich die stärksten und geschicktesten Hände, von einem anderen die schlankesten und schnellsten Beine, von einem dritten den schönsten und ausdrucksvollsten Kopf und schaffe durch Montage einen neuen, vollkommenen Menschen.«[24]

Ungeachtet dieser Idee eines von den modernen Medien simulierten und konstruierten Körpers gibt es immer wieder Versuche einer Re-Authetifizierung der Körpers. Dabei wird die Mediatisierung des Körpers als Mangel begriffen, den es zu überwinden gilt. Der Körper muss zu diesem Zweck wieder zum versehrbaren Leib werden. Solche Versuche findet man in Sam Peckinpahs Todesballetten, Richards Kerns sadomasochistischen Tableaus und den quasireligiösen Messen der Gesangskünstlerin Diamanda Galàs gleichermaßen. Wo andernorts fleißig an einer Auflösung des biologisch determinierten Körpers in Virtualität, Androgynie und letztlich Redundanz gearbeitet wird, bemühen sich diese Künstler aktiv und mit unterschiedlichsten Mitteln um eine Rückeroberung des ewigen Leibes. Auch das ist ein Bekenntnis zur Moderne.

 

6. Die Kontinuität der Mythen

Dass die Medien der Moderne, und allen voran Kino, Literatur und Theater, sehr bald zum Mythenreservoir der Moderne wurden, ist bereits in frühen medientheoretischen Schriften festzustellen. Welche Definition von Mythos diesen Schriften jedoch zugrunde liegt – denn es gibt deren bekanntlich zahlreiche – ist damit noch nicht geklärt. Auch hier werden wir diese Frage nicht erschöpfend klären können, es scheint aber angebracht, einige grundlegende Definitionen und Ansätze zu umreißen.

Einer grundsätzlichen, der Ethnologie entstammenden Annahme nach ist unter Mythos eine mündlich, schriftlich oder anderweitig überlieferte Erzählung mit sakralem Gehalt zu verstehen. Mircea Eliade hat in Die Religionen und das Heilige (1954) verschiedene Elemente aufgezählt, die der Mythos enthält: 1. Der Mythos erzählt in letzter Instanz eine ‚wahre‘ Geschichte; damit kann u.U. eine so elementare, unleugbare ‚Wahrheit‘ wie die Geburt oder der Tod gemeint sein. 2. Die mythische Fabel ist heilig, d.h., ihr Gehalt ist dem profanen Bereich entzogen. 3. Der Mythos ist stets der Zeit des Ursprungs oder der Schöpfung zugeordnet; dieser Ursprung muss nicht einer früheren Zeit angehören, sondern kann jede Form des Neubeginns bezeichnen. Folglich ist der gelebte Mythos eine Zeit, in der ‚alle Zeiten in eine fallen‘. 4. Der Mythos enthält die Begründung und Basis der Rituale; der Mythos hat daher moralisch bindende normative Kraft. 5. Die Protagonisten der mythischen Fabel sind ‚übermenschliche‘ Wesen. Der Mythos bezeichnet insofern den Einbruch des Heiligen ins Alltägliche – bzw. auch umgekehrt: den Moment des Alltäglichen im Heiligen. Mythos und Leben sind eng verknüpft und eignen sich im Besonderen für eine strukturalistische Analyse im Kontext regionaler und sozialer Eigenheiten (wie Claude Levi-Strauß in Strukturale Anthropologie nachgewiesen hat). Zugleich wird im Mythos eine ‚Aussage‘ formuliert und verdichtet – das entspricht Roland Barthes‘ Mythendefinition aus Mythen des Alltags. Im Mittelpunkt des Mythos kann die Entstehung der Welt, des Menschen oder auch der Kultur stehen, immer geht es um elementare Wahrheiten, die im Mythos verdichtet und erfahrbar werden, selbst wenn es sich um ‚moderne Mythen‘ „des Alltags“ (Barthes) geht, die oft um kulturelle (Selbst-)Bilder kreisen.

Wenn also mit Eliade der Mythos als ‚Schlüsselsituation des Menschen und der Kultur‘ begriffen wird, ist auch verständlich, wie und warum er sich von einem Werk ins andere transportieren lässt. Nicht zuletzt bieten die bekannten Mythensammlungen, wie Sir James Frazers The Golden Bough, ihrerseits eine bedeutende Inspirationsquelle für den Künstler.[25]

Ein weiterer Schritt der Mythentheorie wird hier wichtig: Ernst Cassirer und Claude Lévi-Strauß begreifen in Mythisches Denken (1925) bzw. La Pensée sauvage (Das wilde Denken, 1962) den Mythos zudem als Denkfigur, als eine Möglichkeit, Welt zu begreifen. Dabei kommt wieder jene ‚Allgegenwart‘ des mythischen Geschehens zum Tragen; das mythische Denken ist zyklisch angelegt, arbeitet mittels ritueller Strukturen auf eine Wiederholung des Schlüsselereignisses hin. Auch das Medium Film eignet sich diese zyklische Form an: im westlichen Kino, Fernsehen und in Computergames – aber mehr noch im asiatischen (z.B. Japan) – werden gezielt immer dieselben Fabeln variiert und reproduziert, als gelte es, dem heiligen Mythos permanente Gegenwart zu gewähren. Das führt so weit, dass gar eine Erwartung des Publikums konstatiert werden kann, dass das Vertraute aber stets neu Bewegenden zyklisch wiederkehre.

Das Medium Film speziell arbeitet entweder mit klassischen Mythen bzw. mit mythologischen Motiven (Orpheus, Ödipus, der Sündenfall usw.) oder erschafft seine eigenen Mythen und Kulte – oft durch charismatische Protagonisten wie James Dean, Bruce Lee, Marilyn Monroe oder Romy Schneider. Gerade jene Stars, die früh oder unter mysteriösen Umständen sterben, eigenen sich zur Mythenbildung, da von ihnen nur mehr das Bild, das filmische Phantom bleibt und wie ein Fetisch rituell – etwa in der wiederholten Betrachtung der Filme – verehrt werden kann: Auf diese Weise lassen sich Kultfilmphänomene erklären.

Die Protagonisten (Helden) des Mythos‘ werden oft als Wesen übernatürlicher Herkunft beschrieben. Nimmt man aber die soziale Verflochtenheit des Mythos als gegeben an, kann man in diesen mythischen Wesen nur die Projektion des Menschlichen in eine religiöse (oder heilige) Form erkennen. Und wiederum qualifiziert sich die ‚überlebensgroße‘ Qualität des Hollywoodkinos als mythentauglich: An längst ikonischen Heldenfiguren wie jenen, die von John Wayne, Bruce Willis, Clint Eastwood oder Sylvester Stallone geprägt wurden, wird gerade jene den menschlichen und profanen Horizont überschreitende Qualität bewundert und verehrt. Filme, in denen diese ‚mythischen‘ Qualitäten gebrochen und dekonstruiert werden, haben dagegen weit weniger Chancen. Das Publikum sieht seine latente Sehnsucht nach einem Anschein des ‚Jenseitigen‘ und Göttlichen in der Dekonstruktion betrogen.[26] Dabei widerspricht die Gebrochenheit des Helden selbst nicht immer seiner mythischen Funktion: In den Filmen Gladiator (2000) von Ridley Scott und Unforgiven / Erbarmungslos (1992) von und mit Clint Eastwood etwa wird der Mythos selbst zum Diskurs. Auch wenn diese Filme weniger naiv mit ihrer Materie umgehen als ihre jeweilige genretypische Basis, der Monumentalfilm bzw. der Edelwestern der fünfziger Jahre, so lassen sie den Helden doch zum Ziel kommen und seine gewalttätige Mission erfüllen. Wenn der Shootist[27] am Ende stirbt, mag er einige bösartige Menschen mit in den Tod genommen haben, im Grunde aber bleibt er eine tragische Untergangsfigur; wenn Gladiator Maximus dagegen mit letzter Lebenskraft den Tyrannen tötet, hat er einem ganzen Reich die Freiheit wiedergegeben.

Film generiert also seinen eigenen Mythos und bietet seine eigenen ‚übermenschlichen‘ Protagonisten auf. Er ist bereits von daher als Mythenträger geeignet, da er stets in einer relativen Gegenwart erlebt werden kann: Indem der Film rituell neu gesehen wird (man denke hier vor allem an das Phänomen des Kultfilms), wird er für das Publikum zur genuinen, gegenwärtigen Erfahrung. Zugleich kreist der filmische Mythos um elementare und existenzielle Motive: Geburt, Leben, Tod, Sexualität, Gewalt, Angst, Freude, Hass, Glück usw. Es erweist sich als eher kontraproduktiv, den mythischen Gehalt des Films als ‚Regression‘ zu werten, wie es Hartmut Heuermann in seinem Buch Medienkultur und Mythen (1994) unternimmt, oder gar den Mythos ganz allgemein als Angst- oder Feindbild des Denkens zu betrachten, wie man es gelegentlich in der linken Theorie beobachten kann. Film und Mythos sind in jedem Fall eng verwoben. Tatsächlich ist es eher die Frage, ob ein filmisches Artefakt den Zuschauer entmündigen und manipulieren möchte oder gar mit dem Mythos produktiv arbeitet. Gerade das manipulative amerikanische Mainstreamkino baut seinen größten Reiz mitunter auf seiner mythischen Qualität auf, ersetzt sogar Ideologie und Geschichtsbewusstsein durch allgemein zugänglicheren mythische Modelle.

 

7. Melancholia: Vom Ende der Symbole und was bleibt

Auch Symbole können sterben. In vorindustriellen Gesellschaften war die Kraft der Symbole ungebrochen. Insignien der Macht, der Mythen und der Religionen waren unhinterfragt, wurden geachtet und als nahezu beseelt betrachtet. Mit der Herausbildung der Weltreligionen und der Durchsetzung der westlichen Demokratien verringerte sich die kulturelle Bedeutung der Symbole. Nicht nur wurden sie hinterfragt oder ‚gestürzt’, auch galten sie – wie auch der Mythos – als reaktionär und suspekt, da sie vor allem in der populären Kultur immer neu mit Bedeutung belegbar waren.

Dabei sind Symbole per se prinzipiell ‚unschuldig‘. Kein Symbol kann an eine spezifische Konnotation gekettet werden. Das gilt insbesondere für sehr alte Symbole, die in zahlreichen Kulturen auftauchen – oft in unterschiedlichster Bedeutung –, z.B. der Blitz, das Herz, der Kelch, die Sonne, das Auge, das Ei, das Schwert usw. All diese Symbole können in Form ihrer diversen Piktogramme individuelle Bedeutung erlangen. Sie können also – ähnlich dem magischen Sigill – immer wieder mit spezifischer Energie aufgeladen werden oder immer neue Assoziationen binden. Es scheint naheliegend, sich aus dem Symbolsystem der eigenen kulturellen Tradition zu bedienen; diese Entscheidung setzt natürlich eine eingehende Beschäftigung mit dem voraus, was ‚kulturelle Tradition‘ für das jeweilige Individuum bedeutet.

Die moderne Philosophie in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen betrachtete vor allem jenes große Stigma des 20. Jahrhunderts, den deutsche Nationalsozialismus, als ein ‚Reich der Symbole’ – ein Reich, dessen ganze Wirkungskraft auf der inflationären Verwendung archaischer Zeichensysteme gefußte hatte. Das gilt jedoch vornehmlich für den deutschsprachigen Raum, denn gerade die postmodernen Ansätze – sowie die amerikanische Populärkultur – haben durch willkürliche Bedeutungsvariationen und Entbindungen für einen Tod der einst mächtigen Symbole gesorgt. So wurde etwa Quentin Tarantinos Umgang mit einer stereotypen Darstellung des Nationalsozialismus’ in Deutschland bereits im Vorfeld kritisiert (und zensiert): Während das O im Titel seines Kriegs/Actionfilms Inglourious Basterds (2009) im Original von einem Hakenkreuz geziert wird, ist davon in der deutschen Werbung lediglich ein Einschussloch geblieben.

Während also einige Künstler mit passionierter Verzweiflung dem heiligen Projekt der Moderne anhängen und die elementaren Energien bündeln wollen durch Körperkunst, Mythen- und Transzendenzbeschwörung (einige von ihnen finden sich in diesem Buch), herrscht andernorts eine seltsame Melancholie: Das Bewusstsein, in einer Welt des Abschieds von diesen einstigen Werten zu leben, vielmehr auf ein Kunst vertrauen zu müssen, die populär, ironische und rein dekonstruktivistisch ist. Aus Perspektive dieser Melancholie könnte man dann doch von einem Zustand ‚nach der Moderne’ sprechen – einer tatsächlichen Post-Moderne.

 


[1] Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main [1944] 1969 / 2000, S. 6

[2] Lászlo F. Földényi: Aufklärung – um jeden Preis. In: Der Pfahl. Jahrbuch aus dem Niemandsland zwischen Kunst und Wissenschaft IV, München 1990, S. 65

[3] siehe hierzu: Jürgen Felix (Hg.): Die Postmoderne im Kino. Ein Reader, Marburg 2002, v.a. S. 153ff.

[4] André Gide : Die Verliese des Vatikan, in: ders.: Romane und lyrische Prosa, Stuttgart 1973, S. 400

[5] Martin Raether: Der Acte gratuity. Revolte und Literatur, Heidelberg 1980, S. 73

[6] Raether 1980, S. 76

[7] Fjodor M. Dostojewski: Schuld und Sühne, o.A. [1866] 2000

[8] Raether 1980, S. 85

[9] Raether 1980, S. 103

[10] Michel Foucault 1979, S. 72

[11] Foucault, S. 74

[12] Georges Bataille [1967] 1975, S. 45

[13] Georges Bataille : … 1972, S. 23

[14] Paul Schrader: Transcendental Style in Film, Los Angeles u.a. [1972] 1988, S. 5-7, Hervorhebungen hier und ff. von M.S.

[15] Schrader [1972] 1988, S. 8

[16] Schrader [1972] 1988, S. 9-10

[17] Schrader [1972] 1988, S. 9

[18] Schrader [1972] 1988, S. 9

[19] Schrader [1972] 1988, S. 159ff.

[20] Schrader [1972] 1988, S. 166ff.

[21] Schrader [1972] 1988, S. 162ff.

[22] Schrader [1972] 1988, S. 160

[23] „My body is the rock’n’roll-temple. I like to share it with my audience,” sagte der Punkmusiker in einer Videodokumentation auf die Frage, warum er seine Exkremente ins Publikum werfe.

[24] Vertov in: Albersmeier

[25] Filme wie Apocalypse Now (1979), Gladiator (2000) oder Conan the Barbarian (1982) wären ohne diese Vorlage kaum denkbar – speziell bezogen auf den latenten Subtext des Königsmordes.

[26] Man denke an Clint Eastwood als gebrochenen Veteranen in The Beguiled / Betrogen (1970) von Donald Siegel, der einer Gruppe Frauen und Mädchen zum Lustobjekt gerät, oder den krebskranken John Wayne, der in The Shootist / Der Scharfschütze (1976), ebenfalls von Don Siegel, verzweifelt um seinen ‚heroischen Abgang‘ kämpft. In diesen Filmen ist wenig geblieben vom geheimnisvollen und stets überlegenen ‚Fremden ohne Namen‘ aus Sergio Leones Western oder aus dem aufrechten Verteidiger amerikanischer Werte, wie ihn John Wayne als Rollentypus etabliert hatte.

[27] Siehe Text auf Getidan / LINK

 

Autor: Marcus Stiglegger

Bilder: Erbarmungslos, Warner