Was bisher geschah: Der Würzburger Kaplan Berthold Lutz schuf Aufklärungs- und Benimmbücher mit Titeln wie Peter legt die Latte höher. Außerdem stampfte er, nahezu im Alleingang, die beste Knabenzeitschrift der fünfziger Jahre aus dem Boden: „Unser Guckloch“. Bloß schade, dass fast alle Nummern dieses Magazins heute verschollen sind.
Ein lieber Freund versuchte mir weiszumachen, die „Guckloch“-Bestände seien längst geschreddert. Schließlich handele es sich um brisantes Material, vergleichbar den Stasi-Unterlagen. Er rief mir die Vorfälle rund um das Priesterseminar St. Pölten in Erinnerung; und außerdem, jetzt, wo der Tittmoninger Papst sei, dessen Bruder in der Regensburger Domspatzenszene … Den Rest könne ich mir denken.
Das war im Herbst 2008. Heute, zwei Jahre später, verblüffen uns beinahe täglich die sonderbarsten Meldungen aus Klöstern und Eliteinternaten – und, seltsam, fast immer sind Örtlichkeiten mit sprechenden Namen wie Oggelsbeuren, Großkrotzenburg oder St. Blasien im Spiel. Die Kommentare der zuständigen Seelenhirten sind nicht minder originell, etwa die des ehemaligen Militärbischofs, der die Parole ausgab: Nicht der prügelnde oder piesackende Priester sei pervers, sondern die Situation, in der er lebe. Doch dies nur am Rande, und damit zurück ins Jahr 2008.
Ich hatte die Hoffnung fast aufgegeben, da gelang es dem Sakropopforscher Frank Apunkt Schneider, eine Kiste mit „Gucklöchern“ aus den Beständen des Bamberger Priesterseminars zu bergen – offenbar eine regelrechte Schatzkammer. Wer wie ich die besten Jahre seines Lebens kniend verbracht hat und sich im Hause des Herrn bis heute die Gelenke erfrischt, kann nachfühlen, was in mir vorging, als der Postbote die Treppe hochstieg und mir die Kiste aushändigte.
Den Karton aufreißen und in den heißersehnten Heften wühlen war eins. Was beim Stöbern zunächst ins Auge fällt, sind die vielen Pin-ups. Meßbuben von vorn, Meßbuben von hinten. Zu zweit, zu dritt, zu viert. Auf der Altarinsel mit Wein- und Wasserkännchen, beim Rumalbern im Kreuzgang, unter ziehenden Wolken beim Prozessieren. Kurz, in allen nur denkbaren Posen. Dazwischen anonyme Jungs in Bade- und Turnhose, beim Bockspringen, Grashüpferstreicheln, Fahrradaufpumpen.
Und neben den Tafeln allerlei Kleinformatiges, wie geschaffen für Autospiegelanhänger und Portemonnaie. Damals trugen Seelsorger, die auf sich hielten, noch das Bildnis ihres Lieblingsministranten in der Geldbörse (oder versteckt im Herrenmedaillon).
Wenn der Stubenvogel Schnupfen hat
Kenner der katholischen Kinder- und Jugendpublizistik dürften spätestens hier mit den Augen plinkern. Gilt „Unser Guckloch“ doch als schamlose Kopie der Bubenzeitschrift „Am Scheidewege“ – ein verdientes Monatsblatt, das, im Ersten Weltkrieg gegründet, in den Sechzigern trotz des hohen Pin-up-Anteils sein Erscheinen einstellen mußte, wahrscheinlich auf Grund der harten „Guckloch“-Konkurrenz.
„Hallo, komm her, unser neues Heft ist da!“ Mit diesem Ausruf beginnt eine Debatte auf der Rückseite des „Scheidewegs“ vom November 1937, die sich zwischen fünf Streunern wie folgt entwickelt: „Junge, ist das wieder in Ordnung! Sieh dir nur das erste Blatt an! – Halt, laß mich das Bild genauer sehen: St. Martin! Das Foto hat mir noch in meiner Bude gefehlt! – Was stehen diesmal für Geschichten drin? Die muß ich zu Hause lesen. Die vorigen waren ganz groß.“ Darunter prangt die Losung: „Sie alle lesen froh den Scheideweg“.
Momentchen. Wie kann man froh eine Zeitschrift lesen, die „Am Scheidewege“ heißt? Klingt das nicht nach saurem Apfel? Nach Mädchenkram und Frauenarzt? „Unserm Guckloch“ hingegen, der Schrift aus dem Arena-Verlag, sieht man, wie der Chefredakteur richtig schreibt, schon am Titel an, „dass sie lustig ist“. Denn zwischen den Pin-ups tobt das Lumen Christi: Sachen zum Lachen über das Geheimnis des Glaubens und das Wort, das Fleisch geworden ist!
In Gestalt von Rätseln und Liedern, als „fröhliche Lagergeschichte“, in der sich traute Stunden im Zelt mit komischer „Gabelspießaktion am Bach“ abwechseln, aber auch als „superharter Guckloch-Krimi“, als Gespenster- und Science-Fiction-Geschichte („Wenn Du Dir einmal das Bild ausmalen würdest, dass es keine Priester mehr auf der Welt geben würde, es würde Dich schaudern!“). Mit einem Wort, jede Menge Spaß und Abenteuer, angesiedelt zwischen Sakristei und Opfertisch.
Hier „wogen die Glocken, dröhnen die Klöppel“ (Th. Mann) – und das schönste, die Geschichten sind, bei aller Spannung, immer bildend. Geschichten wie die, in der sich „Toni und Franzl, zwei echte Ministrantenspitzbuben“, mit Lehrer Rumpel und Direx Kreidekloß über den größten Zungenbrecher aller Zeiten in die Wolle kriegen. Ist es das Confiteor, wie Toni und Franzl meinen? Oder das Suscipiat, wie Lehrer Rumpel und der Direx behaupten? Wem bei Suscipiat und Confiteor der Kopf qualmt, keine Bange. Einfach ein paar Seiten weiterblättern und im „Ministranten-ABC“ nachschlagen. Dort werden Monat für Monat die schönsten Fachbegriffe erklärt. Das Purificatorium 1 etwa, oder das zur Inzensation 2 unerläßliche Thuribulum 3, das Sekret 4, die Sutanelle 5, das Ziborium 6.
Nicht nur die Wissenschaft vom lebendigen Gott, auch das Neueste aus Forschung und Technik („In Gangula-na-Bodio, am Ufer des Dunga-Flusses, steht die erste Hochschule für Elefanten …“) füllt die wertvollen Seiten. „Habt ihr stets einen V.W. zu Verfügung?“ neckt Lutz seine kleinen Leser, die natürlich wissen, daß V.W. „Vorsatz der Woche“ heißt. Schon das bloße Durchblättern bereitet Freude. „P.P. Arnold – Negerin im warmen Pelz“, „Wenn der Stubenvogel Schnupfen hat“ oder „Hammer und Sichel – Die Geschichte eines Emblems“ lauten typische Schlagzeilen, allerdings aus der – deutlich schwächeren – Spätphase des Magazins. Da war Lutz längst ausgeschieden, wenn auch vereinzelte Beiträge – „Affen vertragen keine Rockmusik“ zum Beispiel, oder „Haben Tiere ein Verhältnis zur Wagenfarbe?“ – immer noch seinen Geist atmen.
„Gucklochleser wissen, dass jedes Heft auf lange Sicht hin geplant wird und jeder einzelne Beitrag oft unter zwanzig und dreißig anderen ausgesucht ist und dass dann immer noch daran herumgefeilt wird, bis er auch den letzten Anforderungen genügt“, teilt Lutz 1954 wortgewaltig in einem Rechenschaftsbericht mit. Zu diesem Zeitpunkt lässt er sich längst dicke episkopalische Extrawürste schmecken. Julius Döpfner, der gelegentlich selbst im „Guckloch“ publiziert, hat den zehn Jahre Jüngeren, den er am 2. Advent 1949 im Würzburger Kiliansdom zum Priester schlagen durfte, „für literarische Aufgaben“ freigestellt: Dem überlasteten Kaplan drohten die „rund dreitausend Stunden Arbeit, die monatlich nur für das Guckloch geleistet werden“, über den Kopf zu wachsen.
Arbeitsstunden, die vor allem im Schleifchenbinden und Briefmarkenanlecken bestanden haben dürften, denn die Buben werden von der Schriftleitung notorisch beschenkt. Schon in Heft sieben vom Juli 1948 wartet Lutz mit dem ersten Preisausschreiben auf, und als Hauptgewinn winkt, zwei Wochen nach der Währungsreform, ein Säckchen mit 40 Reichsmark. (Noch 25 Jahre später kann man wertvolle Preise abstauben: elektrische Rasierapparate, Markenfüllfederhalter oder – die hätte ich auch gern! – zehn Spiele „Aktenzeichen XY … ungelöst“). Kein Wunder, dass die Antworten waschkorbweise eintreffen, auch dann, wenn die Fragen knifflig sind.
„Bist Du dafür, dass ein Junge, der sich in der Kirche ungezogen benommen hat, vom Kirchenvogt während der heiligen Messe geschlagen wird?“ Oje, schwer zu sagen. Auch Fragen wie jene, was Gott wohl lieber mag: wenn man ihn mit gefalteten oder verschlungenen Händen anruft, sind nicht leicht zu beantworten. So schreibt Rudolf aus Ulm in einem „feinen Brieflein“, das könne man halten wie ein Dachdecker. „Das erste bedeutet doch schließlich das Anstreben der Seele gen Himmel, während das zweite unser enges Verbundensein mit Gott bezeichnet“, begründet er seine interessante Auffassung, kann damit aber keinen Blumentopf gewinnen.
Das mag der Tatsache geschuldet sein, dass Rudolfs Antwort – wie jede zweite, die zum Abdruck gelangt – im typischen Lutz-Sound verfasst ist, nicht anders als die meisten Leserbriefe. Exakt 9.856 sollen es 1951 gewesen sein. „Man hat hier nicht mehr den Eindruck einer Zeitschrift mit Massenauflage“, schreibt inkognito ein „ausländischer Journalist“, sondern „eines köstlichen Filmes, der eigens für einen Freund gedreht worden ist“. Und ein Pfarrvikar Berger, der alle vier Wochen die frischen „Gucklöcher“ an seine Jungschar ausgibt, ächzt: „Die Buben haben mir fast die Haut heruntergetan. Selbst die Eltern können es nicht erwarten.“ „Schau, schau“, heißt es im Mai 1968, als eine parfümierte Karte im Briefschlitz steckt, „sogar ein Mädchen liest das Guckloch“. Ein Mädchen, das, wie Interessierte der Rubrik „Die letzte Spalte“ entnehmen, Maria Blumenstingl heißt.
Wenn der Sauerteig erwacht
Das Treibhaus, in dem das schwüle Blatt, das nicht nur Bubenherzen höher schlagen lässt, aus einem dünnen „Jungschar-Rundbrief“ erblüht und bald prächtig gedeiht – rechtzeitig zur Währungsreform stellt man von acht auf zwölf, wenig später auf 32 Seiten um –, steht im Obstgarten der Familie Popp. Als Redaktionsstube dient ein alter Gartenschuppen.
Der Sohn des Hauses wird vom Würzburger Vormundschaftsgericht vorzeitig für volljährig erklärt. Nur so kann der Buch- und Zeitschriftenvertrieb Georg Popp das kleine Schiffchen, zu dessen Kapitän der Popp-Freund Lutz ernannt wird, heil über die Klippen der Währungsreform bugsieren. Keine zwölf Monate später prüft Popp junior bereits – unterm Pult, während der Vorlesungen an der Universität – die Fahnen für Die Leuchtende Straße.
Lutzens Leitfaden „für Jungen vom Geheimnis des Lebens“ wird das erste Buch des neu gegründeten Arena-Verlages – und dessen erster Bestseller, dem mit den beliebten Frechdachs-Büchern rasch weitere folgen. 1972 kann Georg Popp sogar den Deutschen Jugendbuchpreis in Empfang nehmen: für Krabat, ein philosophisches Pamphlet des Räuber Hotzenplotz-Dichters Otfried Preußler, der sich noch 15 Jahre vorher (in Die kleine Hexe) zwar nicht für die Hexen-, aber für die Bücherverbrennung starkgemacht hatte.
1 Kelchtuch
2 Beräucherung
3 Rauchfass
4 Stillgebet
5 halblanger Priesterrock, auch Priesterzivil
6 Kelch
Autor: Wenzel Storch
Erschienen in „konkret“ 11/2010
Fortsetzung folgt: Verpassen Sie nicht das große Finale: Ende des „Gucklochs“, Bilanz und Ausblick
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