BÜCHERBRIEF AN BAUMI |

lieber baumi,

kulturrevolution, hast du gesagt, weißt du wie lang das her ist. ich weiß nicht mal mehr, wo: im strandcafé, im aufschwung, im holzhausenpark? wahrscheinlich in der hermannstraße, irgendwann in der nacht, beim übersetzen von pasolini während der fußball-wm 1986, in diesen bewußtseinserweiternden landschaften mit carecas kolibrigeflatter, dem klatsch von tonino delli colli und den angriffen der engländer, die so oft mit flanke-lineker-tor endeten, dazwischen platzen die sätze von ninetto davoli und totò auf wie aus irgendeinem fenster geschmissene wasserbeutel, fußball und vergangenheit, während die gegenwart brach lag, was passierte damals schon groß, es fehlte an kühnheit, an poesie, an dem wunsch, träume aus dem schlaf auf die straße zu holen: wir brauchen, hast du also gesagt, dringend mal wieder eine kulturrevolution. zu spät, baumi, wir habens vergurkt: die revolutionen machen jetzt die, die von kultur nichts halten, nichts wissen, die vor allem getrieben sind von einem säuberungswahn, der sich gewaschen hat und die sprache gleich mit, die danach aussieht wie bürokratische formulare. den rest erledigen die algorithmen. ah ja, und die künstliche intelligenz, aus der einige gern eine künstlerische machen würden. fehlt ihr dafür nicht schon die voraussetzung: ki, wie jeder algorithmus, beruht auf rechenoperationen mit wahrscheinlichkeiten. während kunst genau das braucht: die unwahrscheinlichkeit, das konsenswidrige, aus dem blauen kommende, unvorhergesehene. die sprengsätze und regelbrüche.

noch aber gibt es immer wieder unglaubliche bücher, wenn man die liest, spürt man den eigenen herzschlag über den körper hinaus in den seiten: ‚weiße rentierflechte‘ ist so eins. ein diamant, würde alf sagen, oder: eine kathedrale (bei einer wein-verkostung hat er das gemacht, hast du das eigentlich noch mitgekriegt, daß er da einen von reinhards roten angepriesen hat mit den worten: das ist kein wein, das ist eine kathedrale). ein buch, aus dem ihr hättet einen film machen können, es wäre bei pandora gut aufgehoben. nomaden in nordwestsibirien, in den küstenregionen des nördlichen eismeeres, nenzen heißen sie und leben mit und von ihren rentierherden. und leben heißt hier: ums überleben kämpfen, heißt kälte und hunger und seetaucher, deren heulen dem menschlichen leid einen ausdruck gibt, heißt: männer, die das sagen haben, und frauen, die das feuer hüten, heißt, daß alte bräuche schwerer wiegen als die liebe, daß die trauer ein schwarzes spinnentier ist und ein mensch, der seinen namen abwirft, nichts als ein stein. wie anna nerkagi davon erzählt, nicht: als würde sie worte benutzen, sondern fleisch schneiden aus ihrem leib, aus wölfen, bäumen und zelten, und weil alles beseelt ist, weil alles lebt, lassen sich auch mit schlitten gute gespräche führen.

die für die nenzen so wichtigen seetaucher: sie nisten auch in ‚wie man langsamer verliert‘, ich wollte das buch haben wegen des titels und weil es einer geschrieben hat, der sonst gedichte schreibt: und das ist es an unzähligen stellen auch, ein klagelied, als würden sämtliche vögel aus dem dschungel steigen und hoch über dem grün in brüllenden rauch aufgehen. einer, der wiederkehrt aus dem krieg und nicht heim will: die, die ihn kennen, sollen ihn nicht so zu gesicht bekommen, versehrt an leib und seele, den krieg noch im kopf, den er überall sieht: bilder, die waren, bilder, die sind: das elend in den straßen von new york, los angeles, san francisco, die morde in den kneipen und den dunklen winkeln der stadt, die morde im krieg, die nicht so heißen, aber die körper sind trotzdem zerfetzt. die zeilen: atmender schmerz. und reine poesie: wie er das hinkriegt, der schottische dichter, zerstörtes in schönheit aufblühen zu lassen: ohne das grauen zu mildern, es dringt tief, es reicht bis dorthin, wo wir aufhören zu sein. wie muß es bestellt sein um einen, der den spiegel zerschießt, um sich nicht selbst sehen zu müssen. für den tage nichts sind als unterbrechungen einer endlosen nacht. einer, der walker heißt wie der schriftsteller von ‚der kinogänger‘: und ins kino geht walker oft, auch, weil das übernachten dort billiger ist als in einer billigen absteige. aber auch sonst: filme und filme, wieviel wurde damals gedreht, und wie schnell, in nahezu jeder ecke von los angeles, kiss me deadly, gun crazy, act of violence, the big combo, wir haben das alles, jahrzehnte später, gesehen, in der harmonie, im kommunalen kino, schatten und licht und der staub, der darin tanzt und im whiskey nach unten sinkt. und „an den füßen fehlt immer ein schuh“, heißt es im text: und dieser schuh liegt in den ‚kaffeeblüten‘, liegt in dem gedicht von der sonnigen fratze des wasserspeiers, in der torausfahrt, unter der brücke, und auf einem foto von weegee unter dem hinterrad eines autos, von welcher leiche auch immer gerenkt. fühlt man sich nicht verwandt mit all jenen, die einen ähnlichen blick auf die welt werfen wie man selbst, die in ähnlichen bildern wahrnehmen und das wahrgenommene in ähnliche klänge verwandeln: und noch einmal, gegen ende des klagelieds, vertraute töne: „gold wieder stroh“, der titel eines gedichts aus den ’schatten‘, die märchen vergangen, die mitternacht, die spinnen wie sprünge in jeder hoffnung. und robertsons buch, baumi, sein buch: ein rhythmus, der den worten das heilige zurückgibt, das nichts zu hat mit religion: sondern mit arbeit und wertschätzung und ernsthaftigkeit.

noch einer, der filme erwähnt, intellektueller allerdings, akademischer, er benutzt sie zur illustration von rachephantasien und gier und der nicht-existenz, ein österreicher: und du weißt, wie sehr ich das mag, wenn sie österreichisch reden, ich schreck sogar vor blöden krimis im fernsehn nicht zurück, um diese durchhängenden vokale zu hören, lasche wäscheleinen im hof, spielende kinder. und daß, auch wenn die messer gezückt sind, selbst beleidigungen dermaßen entspannt daherkommen, macht grinsen und gute laune. damit hat franz schuh allerdings weniger zu tun, sein ‚lachen und sterben‘ bündelt sowas wie vorlesungen über die leut‘, die er schätzt, den qualtinger, karl kraus, canetti und bernhard, und wie er mit musil gegen dummheit und eitelkeit ins feld zieht: klar, klatscht man da beifall. und doch hat schuhs polemik etwas freundliches, zivilisiertes: gerhard ammanshauser wäre das vehementer angegangen. und paar sätze gibts, verhuscht, denen fehlt was: paar worte, ein verb, manchmal nur ein buchstabe, ein e, ein s, unterschlagungen, die einen beim lesen ins stolpern bringen. und dann hab ich das spiel mitgemacht und mich, auf seite 247, auch noch verlesen: das leben, das manchmal sonnig beim fernseher hereinsieht. fand ich hübsch hintergründig. aber dann stand da doch fenster. das übliche eben. egal, es ist ein buch, dem du was hättest abgewinnen können. zum geburtstag geschenkt hätte ich dir trotzdem das andere, das von robin robertson: nur, wie soll das gehen, ist eh komisch genug, dir zu schreiben. was solls: daß einer tot ist, hat julian barnes in etwa gesagt, heißt nicht, daß es ihn nicht mehr gibt. und wenn ‚briefe von toten‘ in umlauf sind, ist auch das umgekehrte möglich.

ich umarm dich also, wie man freunde, die halt

grad nicht da sind, trotzdem umarmt

ingrid

 

© 2021 ingrid mylo

 

Anna Nerkagi: Weiße Rentierflechte

(Fotos: Sebastiao Salgado)

Aus dem Russischen von Rolf Junghanns

Faber & Faber 2021

191 Seiten | € 22,-

 

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Robin Robertson: Wie man langsamer verliert

Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag

Hanser 2021

251 Seiten | € 25,-

 

 

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Franz Schuh: Lachen und sterben

Zsolnay 2021

331 Seiten | € 26,-

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