BÜCHERBRIEF AN ANDREA |

liebe andrea,

falls du nach wien kommst, in der nächsten zeit: schau dir die austellung ‚landing’ von orlando im forum am schillerplatz an. die wenigen bilder, die ich von ihm kenne, sehen aus, als sei der, der sie gemalt hat, schon seit jahrzehnten nicht mehr unter den lebenden (dabei ist er jünger als ich). da ist etwas altmodisches und gleichzeitig bis in die zukunft gültiges, und was mich am meisten frappiert: das, was die bilder zeigen, ist nie das, worum es wirklich geht. was du siehst, sind nur die details am rand, indizien eines geheimnisses, das sich außerhalb der leinwand abspielt. das feigenlaub ist sichtbar: nicht jedoch die vielversprechenden schatten darunter, in denen sich jemand gegen den verbleib im paradies entscheidet und für die neugier und das abenteuer und die dämonen des roten mohns. vor kurzem war ich (mit sandra, sie war für einen tag in kassel) im fridericianum, gelockt von ron nagles kleinen bunten skulpturen, die auf dem plakat aussehen wie ausgesucht närrische petits fours: im raum aber, verherrlicht in den vitrinen, rufen sie ganz andere assoziationen hervor: an kinder, die mit phantasie und knalliger farbe aus hundehaufen was hübsch kitschiges zaubern. die titel hätten’s noch rausreißen können: als bezugspunkt, kontrast, was auch immer, titel sind, auch als ‚untitled‘, teil der arbeit: ’donkey no show’, confirmed spinster‘ oder ’stinkeye staredown‘, witzig genug: aber sie standen eben nicht unter den keramiken sondern in einem beiheft: wer das ganze bild haben wollte, mußte sie nummernweise durch umständliche sucherei den objekten zuordnen. das war das, und in den oberen räumen lucas arruda und ziemlich beeindruckend. obwohl seine gemälde klein sind (oft nur 24 x 30cm). obwohl sie fast monochrom sind. obwohl seine seestücke immer dasselbe zeigen: einen streifen meer am unteren bildrand und einen riesigen raum himmel darüber. und dann tun sie genau das nicht: immer dasselbe zeigen. manchmal sind es nur nuancen, die ein bild vom nächsten unterscheiden: ein pinselschweif mehr hoffnung in der düsternis, ein winziger mondpunkt im nachtdunkel, der dem fleckchen meer darunter sein blau wiedergibt. und na klar, erinnern die helleren stimmungen, diejenigen vor allem, in denen deutliches licht in der bildmitte schwebt wie eine erscheinung, an william turner. wenn du direkt vor den gemälden stehst, siehst du die arbeit, siehst pinselstriche und tupfer und verwischungen, trittst du zurück, wandeln sich die werkzeugspuren zu landschaften und geschichten.

und mit turner bin ich jetzt doch endlich da, wohin ich wollte: bei einem buch, mit dem ich eine nächtliche version des briefes an dich begonnen hatte (turners name fällt, als zitat aus einem andern buch, neun seiten vor schluß), einem buch, in dem der irrwitz poetische possen reißt. das haltlose, frenetische, philosophisch ins kraut schießende ding von yannick haenel ‚roman‘ zu nennen: ich weiß nicht: es ist viel wilder, ungezügelter, brandet über den gattungsbegriff hinaus. spektakel trifft es eher. gleichzeitig kommt das wort einsamkeit fast drei dutzend mal darin vor, das wort wahrheit mehr als drei dutzend mal. und natürlich, mal wieder, die sterne. ohne sterne – und haenel hat berauschende sternbilder in diesen text gerührt – scheint die literatur verloren. es sind allerdings auch sterne darunter, die eher japanischen waffen gleichen, sie „… zerreißen die kehle der menschen, die die sonne bewundern“, (uwe hat mir mal so einen schwarzen wurfstern aus tokio mitgebracht, achtzackig, mit eingraviertem drachen, er liegt in meiner obstschale und hat inzwischen, wahrscheinlich wegen der vielen früchte drumherum, drei rostige stellen davongetragen), und sterne, die nicht wie shakespeares northern star ein synonym für ruhe und standfestigkeit sind, sondern von stürmen durcheinandergewirbelt werden. andere „glänzen im letzten sprung eines tieres.“ da ist soviel wüster expressionismus und rilke und taschenspielerei, soviel von dem, was haenel selbst einmal „halluzinationen eines dichters“ nennt, soviel rätselhaftes und verschrobenes, daß unsinn und erleuchtung eins werden: und du bist vom lesen wie besoffen. nicht nur als echo auf den alkohol, von dem die seiten getränkt sind, nicht nur von den zahllosen kühnen definitionen (klarheit, zeit, bewegung, glück, gewalt), die so kunstvoll verschränkt sind wie diese zauberkästchen, die sich nur öffnen lassen, wenn du die schubladen in der einzig richtigen reihenfolge herausziehst. überbordend vor einfällen, vor passion, vor, ja: auch wahnsinn. und während du davon nicht genug kriegen kannst und liest und liest, kriegst du irgendwann zuviel davon, übersättigt wie auf jahrmärkten oder kindergeburtstagen, verdorbener magen, verdorbenes hirn. und danach kannst du nicht schnell genug wieder weiterlesen. und wiederum: trotzdem: womöglich ist es, bei all dem willkommenen wundersamen, die fehlende normalität als maßstab, die auf dauer das unbehagen schürt. darüber hab ich früher schon mit baumi öfter gestritten, wenn sich in den drehbücher die verrückten häuften oder die verbrecher: wenn alle was an der birne haben oder dreck am stecken, wenn das außerordentliche überhandnimmt, fällt es als außerordentliches nicht ins gewicht. eine dimension fehlt. spürbar. aber du weißt ja, wie baumi war, den haben so kleine kritteleien außerordentlich wenig gekümmert: dem lag was anderes am herzen. ich kann mich noch an sein grinsen erinnern, als ich was an kusturicas ‚papa auf dienstreise‘ (hieß der wirklich so?) beanstandet hab, dieses grinsen von baumi, gleichzeitig verlegen und wie ein lausbub und mit den gedanken ganz woanders, „aber“, hat er gesagt, „der spielt so schön fußball.“ um fußball nicht, aber um filme geht es übrigens auch in haenels buch, ganz heftig vor allem um michael cimino, den er trifft, mit dem er redet (mit dem ich auch mal geredet hab, vor jahrzehnten in frankfurt, weil ich es großartig fand, wie er reagiert hat auf eine dämlich bemerkung von jürgen kritz zu ‚year of the dragon‘, dieser film kommt bei haenel aber nicht vor, dafür ‚deer hunter‘ und ‚heaven’s gate‘), dem er zu füßen liegt, dessen hohelied er singt. aber eigentlich ist der inhalt egal, es ist ein buch, das von seinen grandiosen, schrägen stellen lebt. und die beiden anderen (bislang ins deutsche übersetzen, mein spärliches französisch reicht nur bis knapp hinter die titel) romane von ihm, ganz besonders das mit den bleichen füchsen, in dem sein alter ego beckett liest, will ich auch haben.

ach, bücher, andrea: obwohl hier tausende stehen: niemals genug. hin und wieder schafft man es schweren herzens, sich von ein paar davon zu trennen. ich hab angefangen, diejenigen für dich in bunte papiere zu packen: wir sehen uns nächste woche, dann kannst du sie wieder auspacken.

alles liebe, dir und reinhard, nicht nur bis dahin

ingrid

 

© 2019 ingrid mylo

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Yannick Haenel: Halt deine Krone fest

Roman aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Rowohlt 2019

316 Seiten

22,- Euro

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