Wer war Edgar Wallace? Willy Haas nannte ihn „einen sich selbst vernichtenden Kolportageschmierer und skrupellosen Geldjäger- aber eben doch ein mythisches Genie, das buchstäblich nur stundenweise zu sich selbst kam und zu seinem Genie“.
Zwischen 1959 und 1964 wurden in der Bundesrepublik Deutschland etwa 40 Kriminalfilme gedreht, die alle unter dem „Markenzeichen“ Edgar Wallace liefen und so viele Eigenheiten und gegenseitige Verweise boten, daß es möglich scheint, von einem der wenigen eigenständigen Genres des deutschen Unterhaltungsfilms zu sprechen. Man könnte diese Serie als das Werk von skrupellosen Kolportagefilmern bezeichnen, welches dennoch Momente mythischer Genialität aufweist. Unter der Oberfläche ihrer oft reichlich billigen Sensationen und durchschaubaren plots lieferten diese Filme so sehr ein treffendes Bild der Wirtschaftswundergesellschaft, wie die Romane und Theaterstücke des englischen Autors ein Bild der britischen Gesellschaft zwischen den Kriegen geliefert hatten. Es war, nicht ohne biografische Bezüge, das Bild vom Geld, das die Menschen in ungeheurer Art deformiert.
Die Serie wurde im Jahr 1959 von der Firma „Rialto“ (insgesamt 32 Filme) begonnen und begleitet von einigen „Nebenwerken“ durch andere Produktionsfirmen (denen später per Gerichtsbeschluss verboten wurde, Merkmale der Serie zu verwenden).
Den Anfang machte Harald Reinls Verfilmung von DER FROSCH MIT DER MASKE, und in den kommenden Jahren entstanden Filme eines deutschen B-Film-Genres, bescheiden budgetiert, in rasanter Folge auf den Markt gebracht, um keine Lücken entstehen zu lassen, und mit einer funktionierenden Formel für den Erfolg versehen. Es haben sich neben Reinl auch Regisseure wie Jürgen Roland oder F.J. Gottlieb an der Serie versucht, doch ihre eigentliche Gestalt erhielt sie durch das Team um Alfred Vohrer. Die Filme waren bis 1966 in Schwarzweiß, manche davon in einem „falschen“ CinemaScope. Dann wurde auf Farbe und Normalformat übergegangen. (Echte Fans dieses Genres sehen hierin den Anfang vom Ende.)
Um das Jahr 1968 war die Serie beendet. Sie lief aus in einer Reihe von Coproduktionen mit England oder Italien, die der Erwartung des Publikums nicht mehr entsprachen. Andererseits waren die Möglichkeiten der Formel natürlich erschöpft, und obendrein machte die Filmtechnik in diesen Jahren einen Sprung, den solch ein limitiertes Genre nicht mitmachen konnte.
Die Konstruktion dieser deutschen B-Movies beruhte auf einem einfachen, aber stets mit neuen Tricks, Wendungen und Idiotien zu versehenden Schema. Die stock company des Produzenten Wendlandt sorgte dafür, daß sich Kontinuität entwickelte und das Publikum sich von Film zu Film heimischer in seinem Wallace-Kosmos fühlte. Eine Zeitlang wenigstens.
Die Helden
Die positiven Helden waren vergleichsweise junge Schauspieler mit einem besonders soliden, bürgerlichen Auftreten. Heinz Drache etwa war der Prototyp deutscher Hartnäckigkeit, das Idealbild eines Beamten, dem zu trauen war. Er stellte das Prinzip der Serie, dass nämlich der Zuschauer immer um eine Spur mehr wußte als der Detektiv, in Frage. Möglicherweise ließ er sich für den Moment täuschen, nicht aber über die grundsätzliche Bosheit der Menschen, mit denen er es zu tun hatte. Joachim Fuchsberger war etwas kurzbeinig und manchmal schon eher ergriffen von den schrecklichen Geschehnissen, dann aber wieder Pfeife rauchend und herzallerliebst langsam. Zudem gab es noch Hansjürgen Wussow oder Horst Tappert oder Siegfried Lowitz. Sie ergänzten die Formel womöglich, aber sie konstituierten sie nicht.
Diese Helden waren ein klein wenig moderner als die gewohnten Helden des deutschen Films, nicht allein, weil sie statt Lodenmänteln Trenchcoats trugen, mit Pistolen umgehen und ein Taxi rufen konnten. Es waren Stadtmenschen, ganz einwandfrei als solche zu erkennen, und es waren obendrein erfolgreiche (aber nicht unbescheidene) und sogar souveräne Stadtmenschen. Die rechten Helden für eine Gesellschaft, die sich aus den Trümmern über kurze Träume agrarischer Idyllen und Koexistenzen zu einem Beamtenstaat entwickelte.
Sie hatten es geschafft in der großen Welt, in die sie gesandt waren, ebenso wie in der Unterwelt mit ihren gelegentlich sogar erotischen, vor allem aber finanziellen und männerbündischen Versuchungen, immer ideale Schwiegersöhne zu bleiben. Sie demonstrierten, wie weltläufig Provinzialität sein konnte, hatte sie nur einmal die richtige Aufgabe gefunden.
Die Wallace-Helden waren zwar bieder, aber doch gelegentlich ein wenig abgründig. Sie konnten schließlich auch in einem Film als Verdächtige, ja als Täter erscheinen. Das war nicht nur Kalkül der Serie. Die Faszination dieser spießigen Schwiegersöhne lag ja darin, dass sie „auch ganz anders konnten“.
Die Frauen
Da waren die jugendlichen Heldinnen, dem Detektiv früher oder später und mehr oder minder platonisch zugetan; screaming ladies, zu Tode erschrocken von den irrwitzigen Mördern, die es auf ihr Geld abgesehen hatten. Diese Heldinnen waren im Grunde noch ein wenig moderner als die Helden, jedenfalls , was die Mode anbelangte. Sie hatten eine Ahnung von erotischer Kulturrevolution in sich, die sie selbst am allermeisten erschreckte. Daß sie dabei so unschuldig schienen, lockte die Mörder erst recht auf ihre Fährte. Wenn sie es blieben, hatten sie gute Chancen zu überleben; ihre Freundinnen, die etwas ahnten vom Zusammenhang zwischen Sex und Geld, kamen selten mit dem Schrecken davon. Sie mussten immer wieder sehen, wo sie hinkamen ohne einen väterlichen Beschützer, der mehr wusste als sie. Aber wer war der richtige Beschützer? In einer Welt voller falscher und zerstörter Männer mussten sie den Halt finden. Einen Beamten.
Die Darstellerinnen in den Wallace-Filmen wechselten schneller als die Helden. Es gab den Wallace-Helden, aber jede Frau des deutschen Films konnte Wallace-Heldin werden. Corny Collins, Brigitte Grothum, Karin Baal, Karin Dor, Uschi Glas, Elke Sommer – von hübsch bis schön, von tragödisch bis komisch, ihr Schicksal variierte allenfalls in Nuancen.
Die Familie der Verdächtigen
Von Helden und Heldinnen abgesehen (und gelegentlich nicht einmal das) gibt es in den Wallace-Krimis nur Verdächtige. Davon sind zwei Sparten zu besichtigen. Das eine ist der „große Darsteller“, der sich in einem Wallace-Film einmal herzhaft austoben darf, ohne den Status als „großer Darsteller“ zu verlieren. Fritz Rasp, Elisabeth Flickenschildt, Werner Peters, Dieter Borsche, Agnes Windeck, Marianne Hoppe, Hans Nielsen, Richard Münch, Walter Rilla und viele andere rezitierten und demontierten ihren Anteil an der deutschen Filmgeschichte. Immerhin: viele von ihnen brachten einen eigenen touch in die Wallace-Filme.
Die zweite Sparte wird von character actors gebildet, die sich auf einen bestimmten Rollentyp festlegen, diesem aber immer wieder neue Spielräume schaffen. Zur Familie der Verdächtigen gehört fast immer Klaus Kinski, der fast immer auch ein Schuldiger ist, fast nie der „wirkliche Schuldige“. Dazu gehört auch Ady Berber, ein Koloß von tumbem Mann, der fast immer von Figuren oder Organisationen im Hintergrund als Werkzeug mißbraucht wird.
Zu den character actors gehören aber auch selten oder fast nie Verdächtige wie Eddi Arent, der Clown der Serie, der mit einem sehr teutonischen englischen Humor für Entspannung zwischen den gruseligen Geschehnissen zu sorgen hatte, und Siegfried Schürenberg, der als trotteliger Scotland-Yard-Boß klarmachte, daß die Autorität nach oben sich in gefahrlose Senilität verlor. (Die Helden nahmen ihn nicht sonderlich ernst, ignorierten seine Anordnungen, tasteten aber auch nie seine Stellung ernsthaft an. Welch ein Bild für das Nach-Wirtschaftswunderdeutschland und seine Kämpfe! Später übernahm Hubert von Meyerinck den Part. Da holte noch mehr die Vergangenheit den Wallace-Film ein.) Für die Konstruktion der Handlung ist das „fast“ wichtig. Klaus Kinski konnte auch einmal Opfer statt Täter sein, Eddi Arent wurde auch einmal als Mörder entlarvt. Der Reiz der Serie lag zu einem nicht geringen Maß darin, daß sich ihre Gestaltungsprinzipien und Konstruktionen verselbständigten. Etwas bedeutete etwas nicht allein auf dem Hintergrund einer wenn auch nachgemachten Wirklichkeit, nicht einmal nur vor dem Hintergrund der detection und ihrer (besonderen) Spielregeln (wie bei „Charlie Chan“), sondern es bedeutete in manchen Fällen sogar ausschließlich etwas in Bezug auf die anderen Wallace-Filme.
Die Intrigen
Es geht um viel Geld. Und es geht um kleine Kollektive: Familien, Banden, Verschwörungen. Alles ist unheilvoll mit allem verbunden, und nie in direkter Linie. Sie sind von Gespenstern bedroht, die vorwiegend aus einer dunklen Vergangenheit zu kommen scheinen. In allen diesen Kollektiven gibt es dunkle Punkte. Die Familien haben Berührungen mit Gangstern, Irren, Verschwörern, andererseits schaffen es selbst Verbrecher nicht, ihrem Tun rein materialistische Motive zu unterlegen. Es geht um viel Geld. Aber niemandem gelingt es, ein vernünftiges Verhältnis dazu zu bewahren. Nicht die Gier danach allein macht die Menschen in der Seele krank. Es ist selber die Krankheit.
Das Geld ist offensichtlich Ersatz für die Liebe. Viele Mörder und Intriganten der Wallace-Krimis sind von einem paranoiden, immer etwas infantilen Frauenhass geplagt; die kleinen Mitläufer, Ganoven und Zuträger sind entweder von Frauen dominiert oder legen zyklisch Schübe sadistischer Lust an den Tag. Die Mädchen der Unterwelt sind Leidende in einem aggressiven Männerbund. Dafür, dass sie sich um des Geldes wegen mit diesem System liiert haben (möglicherweise an seinem Ursprung wirkten), werden sie nicht viel weniger mit Verzweiflung und Verwirrung gestraft als Fassbinders Nachkriegsfrauen. Ihr Überlebenskampf kann gar nicht mehr gelingen.
Die Ästhetik der Gewalt
Schon mit dem ersten Wallace-Film war klar, dass der deutsche Film mit dieser Serie eine neue Form der Gewaltdarstellung gefunden hatte. Sie war von einem leicht sadistischen Unterton geprägt und wurde erst später, durch immer neue Zutaten, von der komischen Nebenhandlung bis zu den Darsteller-Stereotypen, durch das Spiel im Spiel abgeschwächt. Alfred Vohrer, der von allen Regisseuren die meisten Wallace-Filme drehte, war ein kleiner Meister darin, die Geld-Gier seiner Personen auf perfide Weise zu bestrafen.
Die Ästhetik der Gewalt in den Edgar-Wallace-Filmen oszillierte zwischen dem Kriminal- und dem Horrorfilm; man hat sie nicht zu Unrecht „Kriminalmärchen“ genannt. Sie ist zudem streng ritualisiert. Sie kommt mit einem so überzogenen Unernst daher, dass es dem Zuschauer leicht fällt, sie zu genießen. In der Tat liebt dieser Film die Perspektive des Täters. Und noch mehr verliebt ist er in die Angst seiner Opfer.
Ton und Schnitt
Der Wallace-Film ist für den deutschen Unterhaltungsfilm, vielleicht auch für das Fernsehen, von so großer Bedeutung nicht allein, weil er eine bestimmte Formel für das Mord-Märchen gefunden hatte, sondern auch, weil er neue Effekte ausprobierte. Daß Bild, Schnitt, Rhythmus und Ton nicht allein auf jene assoziative Unauffälligkeit ausgerichtet sein mußten wie der deutsche Film das so gern hatte, war erst an den Wallace-Filmen zu erlernen. Die Bilder waren hier bewußt und rüde hintereinander gesetzt. Durch einen Schnitt wurde mehr als nur eine Illusion zerstört, und nicht oft kam es vor, daß irgend jemand oder irgend etwas nicht schräg, nicht überbordend ins Bild kam. Der Film zerfiel in seine Einzelteile, was einerseits den Zuschauer in die Lage versetzte, den Schrecken in seiner Künstlichkeit zu genießen, ihm andererseits aber auch etwas über „Filmsprache“ beibrachte. Der Zuschauer durfte sich in mehr als einer Hinsicht als „Eingeweihter“ fühlen.
Dazu begannen die Geräusche ein Eigenleben zu führen. Sie waren moderner und „schrecklicher“ als die Filmbilder, unterlegten ihnen eine Heftigkeit, die sie gar nicht erreichten. Die Filmmusiken von Martin Böttcher und Peter Thomas übernahmen eine für den deutschen Film neue Aufgabe: Sie wirkten nicht mehr als akustische Untermalung, sondern übernahmen gleichsam eine Führung bei der Erzählung. Sie kommentierten nicht ohne Zynismus das Geschehen. Dabei scheute man vor elektronischen Effekten so wenig zurück wie vor spätromantischen Klischees. Sogar der Todesschrei und der Pistolenschuss wurden zu Melodie-Partikeln.
Die Wallace-Filme boten, was guter Schund schon immer geboten hat. Das Spiel mit dem Kruden, Abgeschmackten, dem Sadistischen und Phantastischen unter der Doktrin einer konservativen, biederen Schlußmoral. Das Plündern der Arsenale des kollektiven Unterbewusstsein und der imaginären Museen des schlechten Geschmacks. Die ungenierte Mischung des Alten mit dem Neuen.
Die Wallace-Filme zelebrierten daneben noch eine gehörige Portion Entfremdung, eine Entfremdung der Moral, der Geschichte, der Stadt und nicht zuletzt eine Entfremdung des Kinos im Stadium seines Untergangs. Während es, wenn vielleicht auch nur zum Schein, etwas von seinen Geheimnissen preisgab, seine Fähigkeit zur epischen Ganzheit an den Effekt verriet, verlor es einen Teil seiner Macht und seiner Heilkraft.
Wie alle B-Filme sind auch die Wallace-Filme in gewisser Weise herzlos. Ihnen fehlt nicht nur das Mitgefühl, auch die großartigsten Schauspieler in ihnen liefern nur Dramen in Anführungszeichen. Wir begleiten die Helden und Schurken nicht, wir sehen ihnen bloß zu.
Wie alle B-Filme sind auch die Wallace-Filme so hässlich, dass sie irgendwo die Wahrheit sagen müssen. Diese kleinen schwarz/weißen (oder besser grau/weißen) Filme karikierten aufs trefflichste die Geld- und Luxusgeilheit dieser Jahre, ihre Verdrängungsmechanismen, die stete Wiederkehr der verborgenen Nazi-Sünden bis ins dritte und vierte Glied, ihre Sehnsucht nach Kultur, die aber zugleich für diese Wirtschafts„ordnung“ nicht taugte, und vor allem ihre Angst, das alles könne, ja müsse einmal zusammenbrechen. Die Familie der Verdächtigen ist die deutsche Wirtschaftswunder-Familie: der Zuhälter, der korrupte Polizist, der Jurist mit einer furchtbaren Vergangenheit, der Millionär, der immer in Furcht lebt, das Unrecht seines Besitzes könne auf ihn zurückschlagen, all die verlassenen, verstoßenen, eingekerkerten Frauen, die schrecklichen Verlierer, die in den Trümmern zu tierartigen Wesen regredieren, Vorboten einer kommenden Klasse von Unberührbaren, die allgegenwärtigen kleinen Schieber und Gauner, die defekten Doktoren und kaputten Erzieher, all jene, die verkaufen, was ihnen nicht gehört.
Wie alle B-Filme sind auch die Wallace-Filme Verlierer-Filme. Es sind Phantasien der Rache an den Menschen, die sich zuviel vom Wiederaufbau, zuviel von den Trümmern, zuviel von der alten Kultur angeeignet hatten. Denen wurden nun die Leichen in die Kellerräume gelegt. Das war die Lust im Kino, die ganz verrückte, korrupte und salbadernde Wirtschaftswunder-Gesellschaft zusammenbrechen, abgeschlachtet werden zu sehen. Mochten am Ende auch nur der Held, das Mädchen und der Clown überleben.
Im übrigen ist dieses Vergnügen ungebrochen beliebt. Die Wallace-Filme gehören zu den Rekordhaltern der Fernsehwiederholungen in beiden Sendeanstalten und werden auch zum festen Repertoire der neuen Programme gehören. 20 Millionen sahen sich zum Beispiel die erste Ausstrahlung von DER ZINKER an. Auch nach der vierten und fünften Wiederholung lagen die Einschaltquoten immer noch an der Spitze der einschlägigen Listen. Wallace-Tantiemen bringen den Erben noch jetzt pro Jahr 100 000 DM ein, der Großteil dieser Summe, so Penelope Wallace, stammt aus der Bundesrepublik. Wir sind wohl immer noch ein wenig gefesselt.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in epd Film 6/86
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