Beinahe ein halbes Jahrhundert hat Ingmar Bergman das Kino beeinflusst. Er hat das Kino zu einem Instrument gemacht, die menschlichen Beziehungen auszuloten, manchmal mit quälender Genauigkeit, manchmal auch mit einem komödiantischen Ton. Nun, im hundertsten Jahr seines Geburtstages, wird der Meister des Seelenkinos noch einmal entdeckt.

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Nein, es ist nicht der 26. Dezember 1957, der Tag der Uraufführung von Ingmar Bergmans Film „Wilde Erdbeeren“. Es ist ein Herbsttag des Jahres 1961, als der Film in den deutschen Kinos läuft. Ein Junge schaut mit offenem Mund auf die Leinwand, der hier, wegen der Altersfreigabe, gar nicht sitzen dürfte. Aber in seinem Vorstadtkino nimmt man es nicht so genau. Der Junge sieht, dass es im Kino nicht nur um Cowboys und Indianer gehen kann. Sondern auch um Reisen ins Innere der Menschen. In die Träume, die Erinnerungen, die Angst. Er sieht einem Menschen zu, wie er entfernter nicht sein könnte. Einem alten Mann, der noch einmal zurückschaut auf sein Leben.

„Unser ganzes Leben mit unseren Mitmenschen ist doch eigentlich nur, dass wir über sie reden.“

Professor Isak Borg lebt nach dem Tod seiner Frau allein mit einer mürrischen alten Haushälterin. Nun hat seine Schwiegertochter bei ihm Zuflucht gesucht nach einem Streit mit ihrem Ehemann. Sie wird ihn begleiten auf einer Autofahrt in die Universitätsstadt, denn man hat zum 50. Jahrestag seiner Promotion eine Feier vorbereitet. In der Nacht davor hat  Professor Borg einen merkwürdigen Traum. Er verirrt sich in einer geisterhaften Stadt, und er begegnet seinem eigenen Leichnam.

Sieht so das Sterben aus?

Dem Jungen im Kino fällt fast das Herz in die Hose. Sieht so das Sterben aus? Aber nein. Gleich darauf ist Professor Borg ja wieder wach und macht sich mit der Schwiegertochter Marianne auf die Reise. Marianne wirft ihm vor, gefühllos und abweisend zu sein. Und von seiner greisen Mutter, die er unterwegs besucht, kommt nur kaltes Lamento. So hört der Professor in sich hinein, seine Gedanken gehen zurück in die Jugend, zur ersten großen Liebe, zu den wilden Erdbeeren.

 „Hast Du keine Augen im Kopf? Ich pflücke Erdbeeren.“

Der Junge im Kinosaal hat mittlerweile aufgegeben, das, was er sieht, zu sortieren. Was ist Wirklichkeit, was ist Traum, was ist Erinnerung? Vieles in „Wilde Erdbeeren“ bleibt seltsam fremd. In diesem Schwarz/Weiß, das an alte Stummfilme erinnert, in diesem eigentümlichen Schweben zwischen Tag und Traum, in dieser Reise, in der ein furchtbarer Stillstand droht. Vieles aber ist auch vollkommen vertraut. Die Unfähigkeit, einander Gefühle zu zeigen. Das Geplappere und Gezanke, hinter dem sich verfehlte Beziehungen verbergen. Die furchtbare Angst, über die man nicht sprechen kann.

 „Es war meine Schuld. Ich wollte ihm gerade eine Ohrfeige runterhauen, als die Kurve kam. Manche bestraft Gott eben auf der Stelle.“

Zugleich schockieren und erleuchten

Noch etwas wird dem Jungen  klar. Dass es besondere Leute sein müssen, die solche besonderen Filme machen. Er beginnt sich dafür zu interessieren, wer denn eigentlich hinter den Bildern steckt, die ihn so berühren. Zugleich schockieren und erleuchten. Ingmar Bergman. Ein schwedischer Regisseur, der zu der Zeit, als er „Wilde Erdbeeren“ drehte, dreimal so alt war wie der Junge im Kinosaal, aber nur halb so alt wie der Mann, dessen Geschichte er erzählt. Diesen Professor Isak Borg spielt der Regisseur Victor Sjöström. Ingmar Bergmans Vorbild und Lehrmeister. Der Schüler verlangt dem Lehrer noch einmal viel ab. Man sieht die Anstrengung, die das kostet. Aber zugleich ist es auch eine Geste großer Zärtlichkeit. Und es gibt eines der schönsten Filmenden der ganzen Kinogeschichte. Ein mildes Lächeln auf dem Gesicht des alten Mannes.

Sechzig Jahre später versucht der Junge von einst in einem Kalenderblatt zu erklären, was die Magie eines Films wie „Wilde Erdbeeren“ ausmacht. Er hat zwischenzeitlich seine Passion zum Beruf gemacht und weiß daher dies und das anzumerken. Dass Ingmar Bergman mit „Wilde Erdbeeren“ in den Rang eines europäischen Meisterregisseurs erhoben wurde.

Dass man „Wilde Erdbeeren“ auch kritischer ansehen kann und etwa bemängeln, wie viel Konstruktion und Drehbuch-Willkür darin steckt. Oder etwas über die verkappte Autobiographie eines Pfarrersohnes, der lebenslang mit der in der Kindheit erfahrenen Lieblosigkeit haderte und im richtigen Leben mindestens so viel Schwierigkeiten mit emotionaler Nähe hatte wie sein Protagonist. Wie viel Strindberg in „Wilde Erdbeeren“ steckt … Aber mit den ersten Bildern ist all das wieder vergessen. Und das Staunen ist wieder da, darüber, wie viel Wahrhaftigkeit in 92 Minuten Kinozeit stecken kann.

Georg Seeßlen

Bild oben: Bergman und Victor Sjöström beim Dreh von Wilde Erdbeeren, 1957 | Åke Blomquist / SvD | Bild från Stockholmskällan

Text- und Tonquelle: Deutschlandfunk | Kalenderblatt | „Wilde Erdbeeren“ von Ingmar Bergman | 26.12.2017