Die Diva der Nouvelle Vague – Ein Taugenichts und großer Liebender
Zwischen 1959 (Sie küssten und sie schlugen ihn) und 1978 (Liebe auf der Flucht) drehte François Truffaut fünf Filme um die Figur des Antoine Doinel, vier lange Spielfilme und einen kurzen (Antoine und Colette), seinen Beitrag für den Omnibus-Film Liebe mit zwanzig. Zusammen mit dem Schauspieler Jean-Pierre Léaud entwickelte der Regisseur ein in der Kinogeschichte einzigartiges Projekt, so etwas wie eine fiktive Langzeitdokumentation, oder einen filmischen Roman-Zyklus. Was darin geschieht? Ein Junge stiehlt Fotos aus dem Kino-Aushang und belügt die Lehrer. Er läuft von einem schrecklichen Zuhause fort. Er wird älter und verliebt sich, er wird aus dem Militärdienst entlassen, er bringt es zu nichts, er verliebt sich wieder, er sucht einen Platz in der Gesellschaft und findet ihn nicht, er will oder kann nicht werden, was man so „erwachsen” nennt, er bleibt immer auf der Suche nach dem Glück. Wie in Sie küssten und sie schlugen ihn will er irgendwohin, vielleicht ans Meer, das er noch nie gesehen hat, vielleicht in eine Familie, die er nie hatte, „und weil er immer noch verliebt ist, ist er immer noch am Leben” (Truffaut). Wer war Antoine Doinel? Darauf gibt’s fünf Antworten, mindestens.
Erstens: Antoine Doinel war Jean-Pierre Léaud, ein Junge, dem wir beim Älterwerden zusehen durften, ein rattenfreches Straßenkind, das förmlich in eine Kino-Rolle hinein wuchs, eine Diva der Nouvelle Vague (während die Frauen hier die Diva-Rolle höchstens noch ironisch zitieren durften), ein Kerl, der aus dem Sich-durch-die Haare-fahren eine große Kunst machte und von dem man nie wusste, ob er gleich in Zorn oder in Gelächter ausbrechen würde. In Die amerikanische Nacht portraitiert ihn Truffaut als liebes- und berufskranken Phantasten; heute würde man so jemanden wohl eine Borderline-Persönlichkeit nennen.
Zweitens: Antoine Doinel war François Truffaut. Subjekt einer magischen Autobiografie, aus Detail-Splittern seiner Erinnerung zusammengesetzt. Die Liebesgeschichten des Antoine Doinel sind die Liebesgeschichten des François Truffaut, Antoine Doinel ist jemand, der lebt, was Truffaut filmt. Verzweifelte Leichtigkeit könnten wir es nennen.
Drittens: Antoine Doinel war aber auch einfach Antoine Doinel. Eine reine Gestalt der Kino-Poesie. Ein Wesen aus Zelluloid und Licht. Das Besondere an Antoine Doinel indes war es, dass er für nichts ein Bild sein musste als für sich selbst. Nichts an ihm ist Beispiel oder Metapher. Antoine Doinel ist Antoine Doinel und das ist alles was er ist. Ein selbstermächtigter Glückssucher. In seiner Unfähigkeit, sich in einem „bürgerlichen” Beruf zu bewähren, ist er übrigens auch eine durchaus komische Figur. Er eignet sich zum Privatdetektiv so wenig wie zum Fernsehtechniker, zum Verführer ebenso wenig wie zum Geliebten. Auf der anderen Seite des Rheins würde man ihn einen Taugenichts nennen.
Viertens: Antoine Doinel war, wie man so sagt, ein Kind seiner Zeit. Alles was geschah, nun, immerhin im Französischen, das geschah auch mit und durch Antoine Doinel. Phasen der Rebellion, der Verbürgerliche, des erneuten Ausbruchs, der Verzweiflung auch. Man hat in ihm den Prototypen jenes Mannes gesehen, der nicht erwachsen werden will. Diese Mischung aus Unverschämtheit, Trotz, Naivität und gutem Willen; diese Sehnsucht danach, dazuzugehören, zu den guten Leuten, und sich doch nie an sie zu binden, diese große Kunst des Verliebtsein und die Unfähigkeit zur Liebe – all das war nur in einer Zeit des Übergangs möglich, vor der Revolution.
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Fünftens: Trotz alledem war Antoine Doinel auch einer von uns. Einer der in einem wundervollen Lebensraum verharrte, in einem Vorher im Sinne Talleyrands: „Wer nicht vor der Revolution gelebt hat, kennt nicht die Süße des Lebens.” Die Revolution kam, wenn es auch nicht die von Godard oder den 68ern erhoffte, sondern die Revolution von IBM und Finanzkapitalismus war. In der Welt von heute würde Antoine Doinel keine drei Wochen überleben.
Die Filme des Antoine Doinel-Zyklus bauen von Anfang an auch ein kinematografisches Gedächtnis auf (das unterscheidet sie, unter anderem, von reinen „Fortsetzungen”); schon in Antoine & Colette sind wir nach ein paar Minuten in Antoines Erinnerung an seine Kindheit. Liebe auf der Flucht ist wohl wirklich ein Abschluss des Zyklus, weil darin die Erinnerungen beginnen, die Gegenwart zu überwuchern. Obwohl wir vielleicht davon träumen mochten, dass Truffaut, wäre er nicht unerträglicherweise 1984 gestorben, noch einmal zu seiner Geschichte zurückkehren hätte können. Zu Antoine Doinel und der Erfindung der verzweifelten Leichtigkeit.
© Georg Seeßlen, erschienen in Die Zeit, 04.08.2011, # 32, Bilder: © Kinowelt
François Truffaut: Antoine-Doinel-Zyklus (Sie küssten und sie schlugen ihn/Antoine und Colette/Geraubte Küsse/Tisch und Bett/Liebe auf der Flucht (5 DVDs, Arthaus 503342)
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