Wie der Stahl geheiligt wurde
Dass der Mensch nicht eins ist und bleiben kann, ist ein bekannter Skandal. Er hat für große Verunsicherungen gesorgt und dazu geführt, dass der Mensch in die Maske muss, ein zweites Leben neben dem ersten führen, ein zweites Zuhause suchen in Mythos und Erzählung. Woher kommen wir? Wir müssen wohl eine „Schöpfung“ sein, die man zum Teil sich selbst überlassen hat, zum Teil vor furchtbare Aufgaben gestellt, Opfer und Sühne, damit man wieder eins sein könne, mit sich selbst und manchem anderen. Die Schöpfung ist zu Natur geworden, aber der Mensch ist nicht mehr ganz Natur, unter anderem, weil er das Wort „Natur“ denken kann und weil er Bilder von „Natur“ herstellt. Jetzt erzählen wir unsere Geschichte: Die Götter sind gegangen oder treiben nur noch Unfug. Irgendwann macht sich ein Tier eine Maschine und wird zum Menschen. So fängt das an, wie in Kubricks 2001, natürlich mit einem Mord. Die zweite Schöpfung beginnt, die Geschichte der Maschinen. Das Ding – der Faustkeil und die Atombombe, der Pflug und die Fabrik – produziert Macht, produziert Systeme, produziert Gesellschaft. Und das Ding produziert weitere Dinge. Die Maschine macht Maschinen. Und so viel Gutes und vor allem Böses man mit den Maschinen anstellen kann, so viel Gutes und vor allem Böses müssen wir auch von ihnen selbst erwarten. Sie werden immer perfekter, sie brauchen den Menschen immer weniger. Das ist das eine. Das andere ist: Wie die erste, so lädt sich auch die zweite Schöpfung mit Verbrechen und Schuld auf. Das Ding, der Natur entrissen, ist zum Feind alles Natürlichen geworden; mittlerweile erwarten wir die Geburt jeder neuen Maschine mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen. Denn irgendwann kommt sie gewiss, die verheißene ultimative Maschine, die Weltuntergangsmaschine.
Oder, schlimmer vielleicht, die Maschine, deren mechanische Klugheit in Bewusstsein umschlägt, die Maschine, die „Ich“ sagen und denken kann. Diese Maschine, auf die wir beinahe so lange schon warten wie auf die Weltuntergangsmaschine, mag sich gegen die Herren der zweiten Schöpfung so wenden, wie sich die Geschöpfe der ersten gegen ihre Schöpfer gewendet haben. Weil sie nicht eins und nicht ewig sein konnten, aber doch „Natur“ und „Gott“ und „Tod“ und „Liebe“ denken mussten, hatten sie begonnen, ihre Erzählung zu beschleunigen und ihre Schöpfer daraus zu vertreiben. Die Maschine, die „Ich“ sagen kann, muss eine manische Maschine werden, die erkennt, dass der Mensch in ihrer Beziehung zur Welt nur stört. Denn die manische Maschine ist nicht nur das perfekte Ding geworden, sondern auch die perfekte Abbildung ihres Schöpfers.
Wie dem auch sei – gerade als die Maschinen ziemlich endgültig zur treibenden Kraft der Geschichte geworden waren, entwickelten die Menschen zu ihrem Trost eine dritte, die Bilderschöpfung, die Möglichkeit einer alltäglichen Transzendenz, die das problematische Reich des Schöpfergottes ersetzte oder wenigstens ergänzte: die künstliche Wirklichkeit der popular culture, die im Gegensatz zu den alten Legenden und Erzählungen nicht in der Historie, sondern gegen sie erzählte. Die Enterprise zieht im ewigen Star Trek zwar der Zukunft entgegen, aber auf dem „Holodeck“ geht die Besatzung zum Träumen in die Vergangenheit. Die zweite Schöpfung, die in der Enterprise nicht bloß aus Kontroll- und Waffensystemen, sondern auch aus Computermenschen mit Identitätsproblemen besteht und den Angriffen der intergalaktischen Maschinenmenschen namens „Borg“ im Dienste der „authentischen“ Menschen widerstehen muss, entwickelt sich konstant, aber höchst bedrohlich in die Zukunft hinein. Die dritte Schöpfung indes, die parallele Welt der ewig laufenden Fernsehfilme, der Kino-Genres und Star-Träume, der Virtual Reality in den Computern, entwickelt sich genauso konstant (und genauso bedrohlich) in die Vergangenheit zurück. Der Mensch modernisiert sich an seinen Maschinen und versetzt sich zugleich mit ihrer Hilfe in den Zustand gnadenvoller Infantilität oder Barbarei. Was die manischen Maschinen mit dem Menschen anstellen, zugleich als seine Fortsetzung und sein Spiegel, das ist seine Ungleichzeitigkeit. Der Angriff der Gegenwart auf die übrigen Zeiten ist abgeschlagen.
Der Angriff der Gegenwart auf die übrigen Zeiten ist abgeschlagen
Die Maschine besetzt die Gegenwart, der Mensch lebt zugleich in einer apokalyptischen Zukunft und in einer vor-modernen Vergangenheit. Beides berührt sich in der großen Maschinen-Erzählung der popular culture: Der Mensch macht die Maschinen, von den blasphemischen Anfängen der Frankenstein-Zeit bis zu den perfekten und versklavten Menschen-Doubles der Replikanten in Blade Runner. Die zweite Schöpfung revoltiert. Die Frage ist, ob ein letzter großer Krieg zwischen Menschen und Maschinen zu verhindern ist, zum Beispiel durch das wahrhaft übermenschliche Selbstopfer der Maschine im zweiten Terminator- Film. Vielleicht gibt es da ja eine „liberale“ Lösung, ein Zusammenleben von Menschen und denkenden, ja empfindenden Maschinen. Dafür gäbe es wiederum zwei Lösungen: Man könnte den Sklaven-Status der zweiten Menschen-Schöpfung in logischen Gesetzen festschreiben, wie das Isaac Asimov in seinen Gesetzen der Robotik getan hat (die gerade in dem Film The Bicentennial Man mit Robin Williams neu verhandelt werden), oder aber die Menschen lernen, die denkende Maschine als Bruder zu akzeptieren wie die Helden von Nummer fünf lebt. In der Reagan-Ära träumte das Kino von Star Wars, am Anfang der Clinton-Ära dagegen von einem Maschinenwesen, das seiner destruktiven Sendung entkommt, um im neuen Mittelstand wahre Freunde zu gewinnen. Aber liberale Lösungen, das wissen wir ja, funktionieren höchstens auf Zeit. In den neunziger Jahren jedenfalls liefen die maschinellenUniversal Soldiers, die Cyborg Warriors Amok, die Robot Wars brachen aus, und die Star Wars gehen nahtlos in die Clone Wars über. Den Krieg gegen die Maschinen können die Menschen höchstens moralisch gewinnen.
Die Maschinen-Mythologie der populären Kultur (die man unter anderem aus einem Dutzend grandiosen und etwa 250 idiotischen Filmen ablesen kann) hat einen möglicherweise zivilisationskritischen Mantel. Ihr Kern aber ist eine andere Tragödie. Nicht die Maschinen, die die Arbeit vernichten und die Menschen überflüssig machen, nicht die Roboter, die Krieg führen und Liebe und Poesie unter Strafe stellen, nicht die neue Herrenrasse der verbesserten Menschen, nicht einmal Roboter, die sich wie altkluge Kinder benehmen, sind der eigentliche Schrecken. Das Grauen der manischen Maschine liegt vielmehr darin, dass sie uns vor Augen führt, wie sehr wir unser Ich-Ideal verfehlt haben – das selbstbestimmte, offene und sich selbst erfindende Subjekt, dessen Freiheit die einzige Utopie in der Welt der totalen Kommunikation und der totalen Marktwirtschaft wäre. Die Maschine, die nach der Herrschaft strebt und deutlicher „Ich“ sagt als ihr Schöpfer, ist die beste Ausrede für den Menschen, der nicht mehr seine Selbstverbesserung, sondern nur noch seine „Authentizität“ im Blick hat.
So ändert sich auch ziemlich radikal unser Verhalten gegenüber dem maschinellen, industriellen, semiotischen Parallelwesen, dem künstlichen Menschen. Früher herrschte in den Geschichten und Filmen zu dem Thema das Motiv vom Zauberlehrling vor: Der Mensch wird die Geister, die er rief, nicht mehr los. Er kann nicht kontrollieren, was er geschaffen hat, weil er nicht kontrollieren kann, was er an unbewussten Impulsen in diese zweite Schöpfung hineinlegt. Das Menschen-Ich fühlt sich sozusagen eingeschlossen zwischen zwei anderen Zuständen, nämlich der Maschine als Ersetzung des Über-Ich (der allwissende Computer, die perfekt vernetzte Supermaschine et cetera) und der Maschine als neuem Ausdruck des Es, einer bewusst- und morallosen Masse von Impulsen zu Bewegung, Aggression, Verschlingen. Diese Spaltung, die wir in den Klassikern des Genres erleben konnten, kippt nun in eine neue Qualität, und dies sicherlich nicht ganz zufällig in einer Phase, in der das Private und das Öffentliche, die Familie und die Gesellschaft, ihre eindeutige Beziehung zueinander verloren haben.
In den neueren Produktionen besetzen die Maschinen die Mitte des Menschseins, sie wollen nicht mehr nur unbedingt Ich werden, sie sind es schon. Dieses Bemühen der zweiten Schöpfung, zum vollständigen, nein besseren Menschen zu werden, das wir seit Frankensteins Ungeheuer kennen, ist nun nicht mehr zum Scheitern verurteilt. Auch dieser Impuls freilich ist in sich widersprüchlich; in einem der letzten Filme der Star Trek- Serie muss sich das Computerwesen Data entscheiden zwischen dem Versprechen, zum echten Menschen gemacht zu werden, und der moralischen Entscheidung, sich menschlich zu verhalten. Das ist die Forrest Gump -Lösung des Verdoppelungssyndroms: Mensch ist, wer oder was sich menschlich verhält. Die Maschine wird tatsächlich der bessere Mensch, das bessere Ich, und im Terminator 2 kann die Maschine schließlich sogar den zentralen Mythos des Ich-Ideals besetzen und als technisch verbesserter Heiland auftreten. Man kann es auch anders sagen: Wir beginnen zu ahnen, dass die Robot Wars nicht von den Maschinen, sondern von den Menschen angezettelt wurden.
Wenn wir ins Kino gehen, um uns mit Bildern und Emotionen voll zu stopfen, dann, da machen wir uns nichts vor, konsumieren wir die Waren der „Traumfabrik“. Das Fernsehen ist unsere „Bildermaschine“, und je mehr das Genre, die Serie, die Formel und das Schema auf unsere Wünsche reagieren, desto mehr erkennen wir auch das Mechanische in unserer Kommunikation. Dass man in diesem Kreislauf überhaupt noch Menschen braucht, also Leute, die den immer gleichen Storys und Dialogen doch noch so etwas wie eine „Handschrift“ mitgeben, Leute, die aus merkwürdigen Gründen entscheiden, dass die Kamera heute einmal auf dieser und nicht auf jener Seite steht, oder Schauspieler, die eigensinnig einer 100-Millionen-Dollar-Produktion fernbleiben, das ist eben die liebenswerte Rückständigkeit unserer audiovisuellen Medien, die ihre gute Laune vielleicht dem Umstand verdanken, dass sie ein Reich der ewigen Kindheit bilden. Und in diesem maschinell erzeugten Reich der ewigen Kindheit der dritten Schöpfung, unserer virtuellen zweiten Wirklichkeit, verdeckt die Konkurrenz- und Straffantasie von der manischen Maschine, vom künstlichen Menschen, unsere eigentliche, die eigene Manie. Wir erfinden die manische Maschine, im Kino unter anderem, um unsere eigene Ich-Schwäche zu überdecken. Weil der Einzelne sein Eigentum nie gefunden hat, weil die Morgenröte des Subjekts nicht wirklich angebrochen ist, weil die Struktur und die Verwandtschaft, der Staat, die Gesellschaft, das System sich immer als stärker erwiesen haben, muss die zweite Schöpfung unsere Passion erleiden. Das Manische und Mechanische in uns wird geopfert und aufgelöst wie der Terminator im geschmolzenen Stahl. Die manische Maschine terrorisiert und unterdrückt uns in unserem eigenen Auftrag. Hasta la vista,Baby!
Georg Seeßlen, DIE ZEIT 7/2000, 10. Februar 2000
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