Wir gehen ins Kino, um uns zu amüsieren, dem Zeitgeist auf der Spur zu bleiben, die Sinne zu erproben oder die Zeit zwischen zwei unwichtigen Terminen totzuschlagen. Manchmal, wie in den Filmen des österreichischen Regisseurs Michael Haneke, passiert aber auch etwas ganz und gar Unerwartetes. Da erleben wir eine Bußpredigt, ein negatives Requiem, das nach Erlösung in dunkler Zeit schreit, ohne sich von ihr ein anderes Bild machen zu können als die Verzweiflung in ihrer Erwartung. Und ganz selten im Kino sehen wir mit so zärtlichem Blick auf Menschen, denen auf Erden nicht zu helfen ist.
In seinen Arbeiten für Fernsehen und Kino hat Haneke so etwas wie eine Chronik der Nachkriegsgenerationen geschaffen, ein Protokoll des langen Weges von der Revolte in die Erstarrung. Das neue Bürgertum, das lernen musste, mit den nationalsozialistischen Verbrechen zu leben – nur der Selbstmord, so zeigen Hanekes Fernsehfilme wie „Lemminge“ (1979), ist eine „Sprache“, die die Gesellschaft dabei versteht -, bildete seine Kultur um Gebote des Schweigens und der Rituale. Die Menschen, die die große Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit nicht führen konnten, bilden nun die Substanz einer Gesellschaft, in der alle Beziehungen und Gefühle erkalten müssen und deren erste Opfer die Kinder sind.
Drei große, monolithische Kinofilme bilden als „Trilogie der Vergletscherung“ einen möglichen Abschluß dieser Arbeit. Immer geht es da um die Familien und die Gewalt, die in ihnen so unvollkommen gezügelt ist, um die Behausungen, die so gesichert erscheinen, dass aus ihnen die Welt nicht mehr wahrgenommen werden kann, um Arbeit, Geld und Essen; es gibt Schlüsselbilder bei Haneke, die in jeweils verändertem Zusammenhang wiederkehren, das Ritual der gemeinsamen Mahlzeit, die verhinderte Berührung, die Idee der Reise, die Beziehung von medialer und sinnlicher Wahrnehmung.
In „Der siebente Kontinent“ (1989) wollen ein Mann, der in einem Überwachungszentrum arbeitet, und seine Frau, Optikerin im familieneigenen Betrieb, mit ihrer Tochter zu einer Reise nach Australien aufbrechen. In „Bennys Video“ (1992) begeht ein Junge, der sich mit seinem Videogerät in ein hermetisch von der Welt abgeschlossenes Zimmer zurückgezogen hat, fast aus Versehen einen Mord, macht seine Eltern zu Komplizen beim Vertuschen der Tat und verrät sie am Ende doch. Und in „71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls“ werden Ausschnitte aus dem Leben von Täter, Opfern und Zeugen einer scheinbar unmotivierten Gewalttat in einer Bank montiert, einem Ort der Überwachung und zugleich der perfekten Verschleierung.
Allerdings spuken die kranken Familiengeschichten gleich mehrfach auch in dieser Studie – in der Geschichte der Bankangestellten, die mit ihrem alten Vater kein echtes Gespräch führen kann, in der Geschichte des Paares, das ein Mädchen aus dem Heim und, zwischenzeitlich, einen kleinen Flüchtling aus Rumänien adoptiert, in der Geschichte des Wachmannes, seiner Frau und ihres kranken Kindes und nicht zuletzt in der Geschichte des Mörders ohne Grund, des Studenten, den wir mit seiner Mutter banale Telefonate führen sehen.
Dieser Student also kommt in eine Bank, will Geld abheben, weil er gegenüber an der Tankstelle zahlen muss. Der vorweihnachtliche Stress lässt die Situation eskalieren, aber nur so weit, wie wir es alle gewohnt sind. Daß es zum sozialen GAU kommt, ist ebenso unvorhersehbar wie notwendig: Diese Gesellschaft produziert mit ihrer Gewalt zugleich deren Entwirklichung. Der Film beobachtet in 71 durch kurze Schwarzfilm-Zäsuren voneinander getrennten Sequenzen Lebensumstände von Menschen, die mit dieser authentischen, „sinnlosen“ Tat verwoben sind, Menschen in unterschiedlichen Stadien einer Vereisung und Erstarrung des Gefühlslebens, Menschen, deren Verdammnis an einem Alltag abzulesen ist, in dem nur alles wie gewohnt weitergehen kann und jeder noch so kleine Ansatz zur Revolte zu persönlichen und kollektiven Katastrophen führt.
Was wir sehen: den Versuch einer späten Liebeserklärung am Essenstisch, den Weg, den eine Handfeuerwaffe nimmt, das Leben auf der Straße, das Zubereiten einer Mahlzeit, Tränen von Menschen, die nicht mehr genau wissen, worüber sie weinen, Autos in der Stadt, ein Universitätsgebäude, die Übergabe von Geld, Warteschlangen, Mikadostäbe, eine alltägliche Gewalt, die zu keiner Form kommt. All das und viel mehr sieht man, wie man es nie zuvor gesehen hat, als etwas zugleich vollkommen Vertrautes und vollkommen Fremdes. Wie wenig genügt, sagt Hanekes Film, eine Rhythmusänderung, ein Perspektivwechsel, eine genauere Wahrnehmung, und in all dem Gewohnten wird das wahre Grauen, das Unlebbare unseres Lebens sichtbar. All seine Menschen stecken in verzweifelten und vergeblichen Versuchen, sich einander verständlich zu machen, einander zu berühren, einander zu lieben. Warum das nicht geht, dafür bietet der Film unzählige Hinweise, eine endlose Vernetzung von äußerem Reichtum und innerer Armut, aber nichts erscheint als platte Beziehung von Ursache und Wirkung. Das Patchwork der Einstellungen ergibt weder ein „und dann“ noch ein „daher“. Aber es sind auch alles andere als beliebige Bruchstücke aus dem Leben von Menschen in einer unwirtlichen Großstadt; es ist in der Tat eine „Chronologie“, ein Versuch, Ereignisse auf der Zeitachse zu organisieren. Eine Form dreidimensionaler Vernetzung der Fragmente entsteht, die der Zuschauerin und dem Zuschauer die Aufgabe der Mitautorschaft überträgt. So wenig ergeben die „Fragmente“ ein mythisches Ganzes, daß man auf Hanekes Film eigentlich nur religiös oder revolutionär reagieren kann. Oder mit Trauer darüber, daß uns für beides die Größe fehlt.
Haneke revoltiert gegen die traditionellen Erzähl- und Erklärungsformen des Kinos. Seine Figuren gehen in den üblichen filmischen Darstellungsmodellen nicht auf; seine Bilder widersprechen dem Pittoresken; seine Montage verhindert alle Geborgenheit im Fluss des Geschehens. Quälend lange etwa sehen wir dem Helden zu, wie er sich an einer Tischtennis- Trainingsmaschine schindet, unendlich scheint die Szene, in der Otto Grünmandl mit der Tochter und der Enkelin telephoniert; verstörend kurz sehen wir andererseits Kommunikationsvorgänge oder das, was im Kino gewöhnlich als Action bezeichnet wird. Bild und Ton in Hanekes Filmen bilden keine illusorische Einheit, oft sehen wir durch Fenster und Türen etwas, hören aber nichts, und umgekehrt wird uns die akustische Information geliefert und das Bild dazu verweigert. Fragmentarisch ist nicht nur die Erzählung, fragmentarisch ist auch unsere Wahrnehmung des Erzählten.
Es ist diese Verweigerung, die Michael Hanekes Kino so wirksam macht. Wir werden für alle unsere Kinosünden bestraft, für das Vorbeisehen an uns selber, für die verzweifelte Suche nach Eindeutigkeit, für die Lust an Grausamkeit und Kitsch, für eine Liebe, die den Bildern gegenüber kein Bewusstsein entstehen läßt, für die Suche nach dem Gegenbild zur Wirklichkeit in der geschützten Dunkelheit. In den „71 Fragmenten“ sind alle Klassen gleichermaßen verdammt, Ausbeuter, Ausgebeutete und ausgebeutete Ausbeuter; alle Opfer sind auch Täter, so wie alle Bilder bei Haneke zugleich von einer unerwarteten Reinheit und einer vollendeten Sündhaftigkeit sind, wie das dickflüssige Blut in seinen Filmen, das, ganz entgegen der christlichen Mythologie, nichts reinzuwaschen imstande ist.
Die verzweifelte Liebe, die Haneke zu seinen unrettbaren Figuren hegt, ist zugleich das Kapital und das Kreuz seiner Filme. Für ihn und uns als seine Zuschauer gibt es keinen Ausweg, keine Nebenwege, keine Ironie. Es ist wie mit dem vom Regisseur so geschätzten und immer wieder zitierten Komponisten Johann Sebastian Bach: In der wunderschönen Strenge solcher Schreibweise gibt es keinen Unterschied zwischen Ästhetik, Handwerk, Moral und Glaube. Wir sind, gedeckt durch ebendiese Zärtlichkeit, so nahe an seinen Menschen, die wir weder „verstehen“ noch uns von ihnen mit den gewohnten Techniken distanzieren können, daß es nur ein sehr seltsames Gefühl vor der Leinwand gibt: Mitleid.
Der Tonsetzer Bach gibt der Welt in seiner Kunst eine verlorengegangene Architektur zurück; Hanekes Filme geben ihr, nicht minder mathematisch und theologisch und zugleich gegen beides revoltierend, einen verlorenen Ernst zurück. Michael Haneke ist gewiss einer der bedeutendsten Filmkünstler unserer Zeit. Die Unerbittlichkeit seiner cineastischen Bußpredigten indes, in denen, ein wenig wie bei Bresson, das Bild vor allem Ausdruck des Abwesenden (der „Gnade“) ist, hat nur eine Rechtfertigung: Wir haben sie verdient.
Autor: Georg Seesslen
Text veröffentlicht in Die Zeit 44/1995
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