Eine Comicfigur emanzipiert sich – Der Film „Spiderman 2″ sieht seinem Helden beim Älterwerden
Fortsetzungen haben einen schlechten Ruf. Auch Spiderman 2 lässt zunächst nur die Verkaufsstrategien Hollywoods fürchten, die immer wieder erfolgreiche Sujets verramschen (wie bei den Highlander- Filmen) oder – teurer! lauter! digitaler! – herausputzen (wie bei den Matrix- Fortsetzungen). Aber gleichzeitig hat die Fortsetzung als Genre auch schon eine eigene Geschichte und so etwas wie ein Bewusstsein hervorgebracht. Fortsetzungen sind auf eine eigenartige Weise klug geworden; sie können ihr Material ironisch umwenden, wie es Richard Lester mit seinen Superman- Filmen gemacht hat, sie können neue Perspektiven für die Bilder suchen, wie es die unterschiedlichen Regisseure bei der Alien- Serie taten, und sie können sogar die Fortsetzungshaftigkeit zum Thema machen wie in Wes Cravens Scream- Trilogie.
Mit Harry Potter kam ein weiteres Element ins Spiel: Wir sehen von Fortsetzung zu Fortsetzung einem Helden beim Älterwerden zu. Und mit ihm verwandelt sich auch der Blick des Films auf seine Welt und vielleicht über sie hinaus. Auch Spiderman 2 funktioniert nach diesem Prinzip: Zwei Jahre sind seit dem ersten Teil vergangen, zwei Jahre sind die Hauptdarsteller, Tobey Maguire und Kirsten Dunst, älter geworden, und wie ihre immer noch unfertige, aber doch gereifte Erscheinung hat sich auch ihre und unsere Welt verändert. Die Fortsetzung als Verknüpfung zwischen Fiktion und Realität widerspricht dem alten Konzept des ewigen Heroen und seiner steten Wiederkehr. Sie ist aber einem gezeichneten Helden angemessen, der seine Geburt einer gesellschaftlichen Krise verdankt. 1962 entwickelten Stan Lee und Steve Ditko einen Comic-Helden, der vor allem eines sein sollte: anders. Peter Parker, der schüchterne Bücherwurm ohne Erfolg bei Mädchen, wird von einer radioaktiven Spinne gebissen und gewinnt dadurch die Kletter-, Sprung- und Netzkünste, mit denen er zunächst nichts anfangen kann. Zum Helden wird er erst durch das traumatische Erleben von Schuld. Weil er zu sehr an den eigenen Vorteil denkt, kommt sein geliebter Onkel Ben ums Leben.
Sieht man einmal davon ab, dass Peter der erste Kinderheld ist, der ohne erwachsene „Führung“ auskommt, und dass eine Spinne nicht eben das naheliegende Totem-Tier für einen amerikanischen Superhelden ist, war das noch nicht allzu unkonventionell. Aber in Peter Parker siegte schließlich das Subjekt über den Archetypus, und seine Gegner kamen nicht aus dem Weltall oder dem Reich des Bösen, sondern aus der Mitte der Gesellschaft. Die Familien- und Liebesgeschichten von Peter verliefen zu absurd und tragisch, um bloße Soap-Opera in Comic-Form zu sein, und seine Kämpfe mit fantastischen Schurken blieben auf groteske Art mit seinem Privatleben verbunden. Mit jeder menschlichen Beziehung von Peter Parker öffnete sich für Spiderman die Tür zu seiner speziellen Hölle und entließ ihre Dämonen. Der einsame Teenager musste sich als Spiderman in einer Welt der verrückt und böse gewordenen Väter behaupten. Wissenschaftler, Militärs, Politiker, Presseleute, Unternehmer – einer wahnsinniger als der andere.
Peter Parker alias Spiderman war der Gestalt gewordene Konflikt um eine neue Definition von Jugend. In den sechziger Jahren begann ihre Auflösung unter dem Druck des Politischen. Man durfte in Vietnam als 18-Jähriger töten und getötet werden, aber man durfte nicht wählen. Entscheidungen im Krieg oder in der Revolte gegen ihn, Entscheidungen für oder gegen die Droge, für oder gegen das Elternhaus – immer ging es um Leben und Tod. Diese Erfahrung von Jugend als tragische Ungleichzeitigkeit verlor im Verlauf der siebziger Jahre zwar an Dramatik, aber nie wieder sollte Jugend jener Freiraum sein, den die bürgerliche Gesellschaft der Formung ihres Nachwuchses einst zuordnete. Heute fordert der Neoliberalismus schon die Auflösung des gesellschaftlichen Zustandes Kindheit zugunsten der Karriere- und Überlebensplanung und verlängert damit zugleich das infantile Träumen durch alle Lebensphasen. Menschen, die nie wirklich Kinder sein dürfen, werden nie wirklich erwachsen. Der erstaunliche Spiderman war der erste Held, der diesen Konflikt in die kulturelle Mitte trug.
Denn Spiderman war kein Hippie und kein Revoluzzer, auch den Hedonismus der siebziger Jahre konnte er sich nicht leisten. Er kümmerte sich um die Nachbarschaft, die Zustände in den Ghettos gaben ihm zu denken, er kritisierte kalten Kapitalismus, Rassismus und Sexismus. Anders als Superman, dem es ums Prinzip geht, und anders als Batman, der ständig in persönliche Rachegeschichten verwickelt ist, denkt Spiderman immer zuerst an seine Mitmenschen.
Der Film beginnt wie eine jener New-York-Komödien, irgendwo zwischen Woody Allen und Amos Kollek, die vom Überlebenskampf eines geborenen Verlierers handeln. Peter Parker als Pizza-Lieferant, der sich mit seinem Krafträdchen durch den Verkehr kämpft, und doch immer die entscheidenden Minuten zu spät kommt; Peter Parker, der von einer grotesken Karikatur des Pressezaren ausgebeutet und gedemütigt wird; Peter Parker, der im College versagt, weil er vor Sorgen und Müdigkeit nicht zum Lernen kommt; Peter Parker, der nicht weiß, wie er die Vertreibung seiner Tante aus ihrem Häuschen verhindern soll. Und Mary Jane kann er auch nicht vergessen. Mary Jane, von der er sich am Ende des ersten Teils trennte, weil er glaubte, der Verzicht auf die Liebe gehöre zu einem Superhelden-Dasein. Sie steht kurz vor der Hochzeit mit einem gut aussehenden Astronauten, und Peter muss erst ein mehrfaches Coming-out haben, bevor Mary Jane als schöne Runaway-Bride wieder zu seinem armseligen Zimmer gelaufen kommt. Raus aus der Maske, um in sie hineinzupassen. Das ist ein Running Gag des Films: Noch nie hat ein Superheld so oft seine Maske verloren.
Neben der Demaskierung vor der Geliebten gibt es die Demaskierung vor Harry, der Peter Parkers Freund und Spidermans tödlicher Feind ist (denn er macht ihn für den Tod seines Vaters verantwortlich), und es gibt die öffentliche Demaskierung, als Spiderman unter Einsatz all seiner Kräfte einen voll besetzten U-Bahnzug vor dem Sturz in die Tiefe rettet und danach in Ohnmacht fällt. Die Menschen erkennen, dass hinter der Maske „nur ein Junge“ steckt, sie sind stolz und beschämt und gerührt. Als der Schurke wieder auftaucht, stellen sie sich schützend vor ihren Helden. Natürlich wissen der Regisseur und Spiderman und wir, dass so etwas nur ein schöner Traum ist. Der Schurke wischt die guten Bürger denn auch mit seinen Tentakeln zur Seite.
Es ist der Wissenschaftler Otto Octavius, der sich für seine Versuche mit grässlichen Energiemengen „intelligente“ eiserne Greifarme an den Rücken montiert, die bei einer Explosion mit seinem Körper verschmelzen und die Herrschaft über seinen Geist übernehmen. Raimi hat auch diese Figur ein wenig vertieft und mit der Psyche des Helden verknüpft. Denn eigentlich sind es Otto und seine Frau Rosalie, die Peter daran erinnern, dass er nicht einfach auf die Liebe verzichten kann, nur weil er ein Spinnenkostüm trägt und über die Stadt schwingt. Erst nach der verheerenden Explosion, bei der Rosalie den Tod findet, verwandelt sich Octavius in das Monster Doc Octopus. Es gibt furiose Kämpfe zwischen den beiden, Kraft gegen Schnelligkeit, Zorn gegen Moral, und am Ende hat Spiderman Doc Oc nicht etwa besiegt, sondern er hat ihn zur Einsicht gebracht.
Manchmal scheint es, als sei die Spiderman-Existenz nichts als der Fluchttraum eines jungen Mannes, der Angst vor dem Leben hat. Richtig glücklich sehen wir unseren Helden nur, wenn er sich an seinen Spinnenfäden über die Straßen der Stadt schwingt. Aber wohin? Erwachsenwerden, das ist die Lektion, die Peter lernt, heißt nicht, das Spinnenkostüm abzulegen, sondern das Talent mit Verantwortung und Würde zu füllen. Das klingt nicht nur pathetisch, es ist auch pathetisch, und da versteht der Film, der ansonsten voller ironischer Verweise und komischer Lust steckt, keinen Spaß. Aber er behauptet auch keinen Augenblick, dass die Sache einfach und widerspruchsfrei verläuft. Was Spiderman 2 beeindruckend macht, ist die Balance zwischen Action und Poesie, Botschaft und Spiel, zwischen digitalem Overkill und sehr realen Stadt-Szenen, zwischen Intimität und Mythos. Der Film repräsentiert, was das Mainstream-Kino aus Hollywood zurzeit kann, auch in moralischer, ästhetischer und intellektueller Hinsicht. Spiderman 2 ist das große Anpassungsmodell für eine Zeit, in der George W. Bush und der Irak-Krieg nur noch eine unangenehme Erinnerung sein werden.
Autor: Georg Seesslen
Text veröffentlicht in Die Zeit 01.07.2004 Nr.28
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