Die dänischen Dogma-Filme: Radikaldilettantismus oder Utopieverrat? Eine Zwischenbilanz
Irgendwann, wenn die Kulturgeschichte wieder einmal erfolgreich ihr Legenden- und Versteinerungswerk getan hat, wird man sich die Sache vielleicht so vorstellen: In einem der Krisenjahre des europäischen Films, und welches Jahr wäre im letzten Drittel des Jahrhunderts kein Krisenjahr für den europäischen Film gewesen, saßen einige dänische Regisseure im gnadenvollen Zustand der Halbtrunkenheit beieinander und sprachen ausnahmsweise nicht von Geld und Förderinstanzen und guten und bösen Hollywood-Träumen, sondern erinnerten sich an alte Zeiten, in denen es Aufbruch und Provokation und Manifeste in der Kinokultur gegeben hatte. Das anti-bürgerliche Kino der Neuen Wellen sei längst selber in den Zustand der bürgerlichen Kunst geraten, konstatierte man, und beschloss, den postmodernen Crossover-Versuchen zwischen Autorenlist und Genrekino, der Kunst der Übermalungen und Metaebenen ein Manifest der radikalen filmischen Keuschheit entgegenzusetzen. Ein Manifest? Nein, ein Dogma musste es sein, ein Dekalog der artifiziellen Verarmung und Konzentration der Kinosprache, und das Dogma sollte das Manifest natürlich zugleich übertrumpfen und ironisieren; dieses Dogma war, scheint es, wie geschaffen, sogleich recht undogmatisch benutzt zu werden.
Nur die direkte Handkamera sollte zugelassen werden, keine Suche nach dem „schönen Bild“, das Material sollte in nichts anderem als in dem der vorgegebenen Wirklichkeit bestehen, keine Kostüme, keine Bauten, keine Schminke, kein Licht, das den Dingen und Personen eine zweite Bedeutung geben würde, Musik sollte nicht anders verwendet werden, als dass sie in der Szene selbst vorhanden wäre, die Schauspieler sollten keine Metaphern, keine Mythen darstellen, sondern in einer vorgegebenen Versuchssituation agieren, nur einspuriger Originalton sollte zugelassen werden, keine Vergangenheit und keine Zukunft, nur das Hier und Jetzt sollte sich auf der Leinwand offenbaren. Ach ja: Der Name des Regisseurs sollte nicht genannt werden. Das war die größte der Ironien im Dogma, denn von nichts sollte in der kommenden Zeit so sehr die Rede sein wie von den Regisseuren.
Der erste nach den Richtlinien des Dogma entstandene Film war bereits das Meisterwerk des neuen Purismus, die vollständige Identität von ästhetischer Methode und ideologischer Absicht. Eine Familie zerfällt vor unseren Augen bei einem Fest, das Verdrängte, die Schuld, die Gewalt brechen in einem geschlossenen Raum hervor. Und wir können sagen, wir seien dabei gewesen, so mittendrin, wie es noch in keinem Film zuvor der Fall gewesen war. Kein Wunder also, dass man dieses doppelte Zerstörungswerk, den ersten vollkommen utopie- und mythenlosen Film der Kinogeschichte, auch als Befreiung verstand. Thomas Vinterbergs Das Fest stellte den Fake-Dilettantismus zugleich als radikale Methode und als erfolgreiche Rebellion aus. Der Film ist schlecht, aber nicht einmal radikal schlecht. Immer wieder kippt die Kameraarbeit von einem laienhaften Dabeisein um jeden Preis in die Imitation kunstvoller Bewegung im Raum um. Aber er steuert schnurgerade die negative Mythologie jener Generation an, die sich von ihren Elternhäusern nicht mehr politisch, sondern nur noch moralisch befreien konnte. Er zerstört nicht allein die Illusion der Harmonie, er zerstört das Bild selber.
In Lars van Triers Idioten ist der Experimentcharakter noch deutlicher. Eine Gruppe von jungen Leuten spielt, in einer Mischung aus Überdruss, Selbsttherapie und ideologischem Schnickschnack, die Idioten; sie terrorisieren zuerst ihre Umwelt (in einem Restaurant, in einem Schwimmbad), dann sich selbst. Kragh-Jacobsons Mifune schließlich ist die Geschichte einer Rückkehr; ein Bürger wird so lange seiner bürgerlichen Insignien entkleidet, bis er bereit ist, sich auf dem Land der Väter in dem debilen Bruder zu spiegeln und eine kleine Landkommune zu bilden. Jenes Glück der Regression, das die zweifelhaften Helden von Idioten noch verfehlen, hier scheint es gefunden. Und wenn man diese drei ersten Dogma-Filme als fortlaufende Chronik betrachtet, erleben wir nicht nur eine fortlaufende Entdogmatisierung des Dogma, sondern auch die Geschichte einer psychosozialen Bewegung: den Rückzug aus einer bürgerlichen, ökonomisch strukturierten Welt von Familie und Karriere in ein archaisches, narzisstisches, kindhaftes Dasein. Die Verweigerung der Ästhetik wird zur Ästhetik der Verweigerung. Die filmische Keuschheit hat eine Regression der Empfindungen bewirkt, die zugleich gegen die frivole Intelligenz des postmodernen Kinos und gegen die radikale Geste jener Moderne gerichtet scheint, die das cinematografische Konstrukt von seinem Abbildcharakter zu befreien versuchte. Die Dogma-Filme treiben den „psychologischen Realismus“ des Kinos bis zur Absurdität voran und negieren, was etwa Jean-Luc Godard dem Filmbild als neue Freiheit eroberte.
Für die Dogma-Filmer ist Ingmar Bergman der hassgeliebte Übervater
Zu begreifen sind die dänischen Dogma-Filme vermutlich nicht ohne den langen Schatten, den Ingmar Bergman auf sie wirft. Sie versuchen, so scheint’s, gleichzeitig ihn zu erfüllen, ihn zu übertrumpfen und gegen ihn zu rebellieren. So eine ödipale Struktur der ästhetischen Arbeit war zwar schon immer durchaus kreativ, erscheint aber doch auch ein wenig überständig. Zumindest die bislang erschienenen Dogma-Filme enthalten die Verzweiflung Bergmans, aber nicht sein Selbstbekenntnis. Es fehlt jenes filmische Selbstopfer, das Filmemacher wie Pier Paolo Pasolini, Bergman, Bertolucci und meinethalben Christoph Schlingensief zu bringen bereit waren. Diese verwackelten Kameras sind nicht bei einem filmischen Ich und auch nicht, das ist beinahe wichtiger, bei einem filmischen Du. Das filmische Subjekt ist in die Aufnahmemaschine geschlüpft, die sich wahrhaft sadistisch und verantwortungslos gibt.
Die Krise des Kinos, die wir zu beklagen gelernt haben, ohne uns mit ihren tieferen Ursachen auseinander zu setzen, hat gewiss nicht allein mit der Übermacht einer Bildermaschine namens Hollywood, mit den Widrigkeiten eines unübersichtlichen, zwischen Willkür und Kontrolle changierenden Fördersystems, mit dem Widerspruch zwischen Markt und Kunst und den „veränderten Sehgewohnheiten“ durch die elektronischen Medien zu tun, es ist auch eine Krise des filmischen Erzählens selber. Alle guten Kinogeschichten sind schon ein paar Mal gut und unzählige Male schlecht erzählt worden, das kulturelle Erbe, dessen sich der europäische Film so zu bedienen wusste, wie das Hollywood-Kino sich der Genres bediente, ist verbraucht. Diese Krise der Filmsprache führte zu einigen seltsamen filmkundlichen Lektionen: Gus van Sant, der Alfred Hitchcocks Psycho Einstellung für Einstellung wiederholte, Aki Kaurismäki, der mit Juha zur Erzählweise des Stummfilms zurückzukehren versuchte (unter anderem, wie er selbst erklärte, um sich „für die eigene Plapperhaftigkeit zu bestrafen“). Und die Moderne im Kino musste scheitern, weil sich die ästhetische und die politische Bewegung nicht mehr aneinander entwickelten, sondern das Kino zurückstrebte zu seinem angestammten Platz zwischen der Sehnsucht nach der Grenzüberschreitung einerseits, dem Wunsch, dorthin zu gelangen, wo noch niemand war, und der klammheimlichen anderen Sehnsucht nach der Mitte, nach der Popularität. Was wir feiern ist einerseits die ewige Wiederkehr der alten Meister, und die Fähigkeit der Einzelnen, den Spagat zu schaffen zwischen der Produktion eines wenn auch noch so begrenzten Marktes und der künstlerischen Autonomie. Wofür da kein Platz ist, das ist ein radikales cinematografisches Projekt, und das ist eine Theorie für ein wie auch immer neues Kino, das es begleitete. Daher trifft die scheinbare Radikalität des filmischen Keuschheitsgebotes von Dogma den Nerv in einer im Ganzen eher trost- und ratlosen Filmkultur.
Und tatsächlich: Ist nicht ein Film, der bewusst und konsequent eben auf das Filmische verzichtet, die radikalste Geste gegen ein Kino, das sich an seinen eigenen Produktionsbedingungen vergiftet hat? Soll da ästhetisch aufgeräumt, ein Nullpunkt erreicht werden? Und ist nicht, andersherum, der Verzicht auf das „Schöne“ einerseits, die Kraft des Erzählens andererseits, ein probates Mittel dafür, das Kino wieder in Bewegung zu versetzen? Die Bilder, die keine Substanz mehr verlangen, können nur zu einer Beschleunigung führen.
Die Wirkung der Dogma-Filme freilich entsteht vor allem, weil die Beteiligten weder die Situation noch die „dargestellten“ Personen wirklich mögen. Das vorherrschende Gefühl ist mehr eine Art Ekel; die Faszination, die sich über die Form nicht herstellen darf, richtet sich auf die Sensation der körperlichen und seelischen Entblößung. Nur dass sie sich nicht mehr als Ritual (wie bei Ingmar Bergman) maskiert – Idioten scheint ja nicht zuletzt eine Art Übermalung zugleich von Godards La Chinoise und Bergmans Der Ritus zu sein -, sondern als Dokumentation. Damit übertragen die Dogma-Filme, was Reality TV an den Schnittstellen zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich sucht, in den magischen Raum des Kinos. Sie „schänden“ nicht nur das Bild, sondern auch den Ort. Der Effekt erscheint, als würde jemand versuchen, dem Terror des Privaten mit den Mitteln der Kriegsberichterstattung zu Leibe zu rücken und dieses substanzlose, flüchtige Bild wieder in den Rahmen der visionären Kunst des Kinos zu stellen. Dies aber scheint mir schon in sich reaktionär. Und Idioten parodiert nicht nur das Projekt der Utopie, es denunziert sie.
Sexualität kommt wie ein Schock der Realität, als das Hässliche, über die Zuschauer. Im Fest ist sie von Anbeginn als Schuld in der Familie, als Missbrauch; in Idioten erscheint sie wie ein obszönes Störmanöver: In der Schwimmbadszene fuhrwerkt die Kamera auf den erigierten Penis zu wie auf das Tatwerkzeug eines irren Täters, und die Gruppensexszenen, die möglicherweise, wie einst Bergmans Das Schweigen, die Zensurgrenzen verschieben, sind so freudlos wie Illustrationen zu den mathematischen Konstellationen des Marquis de Sade, auf den sich Lars von Trier bei seiner Drehbucharbeit bezieht. Auch in Mifune erleben wir den Sex zwischen den beiden Frischvermählten ebenso ausführlich wie denunzierend. Und in der Szene, in der Kersten über sein Handy kotzt, erklärt er uns auch, was er von moderner Kommunikation hält. Die Dogma-Filme bilden also nicht so sehr eine Erzählung und schon gar keinen Mythos ab, sondern eine soziale Situation, den Selbstversuch einer Gruppe von Schauspielern, eine Therapie.
Vinterberg erzählt, er habe sich zunächst einmal überlegt, mit wem er seine Sommerferien verbringen wolle, bevor er seinen Film konzipierte. Alle drei Dogma-Filme handeln von einem geschlossenen Ort, von einer Gruppe in verschiedenen Stadien von Konstitution und Zersetzung, vom Aufdecken einer großen Lüge, und, was vielleicht ihr größtes Verdienst ist, sie machen den Wahnsinn filmisch nutzbar. Es ist das Kunstwerk, das sich selbst entblößt; es gibt keine Katharsis innerhalb des Werkes, weshalb wir uns auch nur gleichsam im Außen verbergen können. Diese Radikalität der Anklage ist in der Tat anders nicht zu haben. Aber wem gilt sie? Den Vätern (und Müttern), der bürgerlichen Gesellschaft, der schönen neuen Welt des virtuellen Kapitals? Oder gar dem Bewegungsbild des Kinos selbst, das uns spätestens seit Hitchcock nicht nur zu Mitleidenden und Miterlebenden, sondern eben auch zu Mitschuldigen macht? Und welches Publikum trifft das Dogma/Nichtdogma? Offensichtlich eines, das den Umweg über die Form nicht gehen will, das seine Schuld nicht wahrhaben will. Und eines, das unter dem Trauma der Privatisierung leidet, ohne sich aus ihr befreien zu können. Es ist der Spruch, der Vinterbergs Arbeit überschrieben ist: „In einer Familie hat Wahrheit nicht immer einen Platz.“ Ist das alles?
Die Handkamera umkreist die Körper und nimmt ihnen die Würde
Kurzum: Dogma-Filme sind, bislang jedenfalls, nicht nur eine Abkehr von sinnlichen Erzählformen des Kinos, sie sind vor allem Reflexe der Enttäuschung. Es sind puritanische Filme nicht nur im Gebrauch des Mediums, sondern auch in ihrer Darstellung des Körpers, in ihrer Verurteilung der Lust. Die Handkamera, die die Körper umkreist, ist das Instrument der neuen Pharisäer, die sich über ihre eigenen Sünden, ihre eigenen Experimente, ihre eigene Lust nicht mehr verständigen wollen. Und doch verschiebt sich die Sensation auch wieder auf die Form; das Gewackel der Handkamera ist eine neue Form der Wichtigtuerei des Mediums gegenüber seinem Objekt. Es wird zum Instrument der Verachtung. Der ästhetische Verzicht lässt die Macht des Mediums so sehr in den Vordergrund treten, wie der Regisseur, der nicht genannt wird, in ihm zur einzig verbliebenen Instanz einer einst arbeitsteiligen und auch dadurch vielschichtigen Kunst wird. Kein Wunder, wenn man in Idioten durchaus bemerkt, dass etwa ein Tonassistent nicht zufällig vor die Kamera gerät, sondern regelrecht ins Bild geschubst wird. Als müsste sich die Inszenierung des „dilettantischen“ Fundamentalismus immer noch besonders bemerkbar machen.
Das Fest wirkt nur zum einen als die Aufnahme eines „anwesenden“ Amateurfilmers, aber immer wieder unterläuft der Kamera dabei die eine oder andere rhetorische Figur, eine kunstreiche Bewegung eine Treppe hinunter, ein bizarrer Blickwechsel. Lars van Trier zitiert sich in Idioten ein paar Mal selbst, und in Mifune gibt es schon wieder fast „klassische“ Einstellungsfolgen. Schon in seinen ersten Werken also offenbarte sich das Dogma als Projekt der Selbstaufhebung. Das machte den Reiz, die Dynamik der ersten Dogma-Filme aus. Die zweite Welle indes, wie wir sie etwa in Frankreich erleben, scheint von einem heiligen Ernst besessen. Die Form verschwindet nicht, sie offenbart sich einerseits als Penetranz, die den Blick auf das Geschehen viel eher verstellt, als ihn zu schärfen, und andererseits als ein Exorzismus des Blicks.
Nehmen wir dieses Kino nicht nur als radikale ästhetische Geste, sondern auch als Ausdruck einer „neuesten Stimmung im Westen“, so entspricht es vor allem einer Katerstimmung jener Teile des neuen Kleinbürgertums, das sich auf dem Weg in die Mitte gleich beides austreiben muss, den kontrollierten Hedonismus (der zum Beispiel noch die deutsche Beziehungskomödie prägte) und die utopische Überschreitung des Alltäglichen durch die Kunst. Die Schauspieler dürfen so wenig „Kunst“ produzieren wie die Kameraleute, die Beleuchter, Komponisten oder Set-Designer. So stirbt das Kino eben nicht nur als industrielle Produktion des Traumes, sondern zugleich auch als demokratische Kunst. Die Erbarmungslosigkeit der Handkamera errettet die äußere Wirklichkeit nur um den Preis, den Menschen der Reste seiner Würde zu entkleiden. Der Zuschauer muss leiden, er soll seine eigene Qual als Genuss empfinden und sich das Sehen als ausgemachte Sünde vergegenwärtigen. Dieses Kino macht blind, es führt, paradoxerweise vielleicht, zugleich in den Bereich des Pornografischen wie des Religiösen.
Dogma, wir werden uns in ein paar Jahren daran erinnern, war mehreres zugleich: Ausdruck der Krise des filmischen Erzählens, der konsequente Durchgang durch eine Ästhetik der Verweigerung und schließlich – eine Sackgasse. In Cannes wurde dieses Jahr verbreitet, nicht weniger als 16 Filme nach den Dogma-Regeln befänden sich in Vorbereitung. Das Kino macht sich noch die eigene Krise zum Genre.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in Die Zeit 28/1999
- MISCHPOKE II - 4. März 2024
- Bruno Jasieński: Die Nase - 27. Juli 2021
- Manifest für ein Kino nach Corona | Brauchen wir andere Filme? - 27. Juli 2021
Schreibe einen Kommentar