Worin sehen Sie ihre Rolle als Filmkritiker?

Das Glückliche am Beruf des Filmkritikers ist es, dass er mehrere und höchst unterschiedliche Aufgaben hat, sowohl in der Praxis seiner politischen Ökonomie (die Kunst, zugleich auf dem Markt zu überleben und in jeder Hinsicht unabhängig zu bleiben) als auch in seiner Aufgabenstellung: Das reicht von der einfachen Aufgabe einer Konsumentenberatung (ganz schlicht: Welcher Film ist es wert, (mindestens) einen halben Stundenlohn und zwei bis drei Stunden Lebenszeit in ihn zu investieren) über die Vermittlung (die Vermittlung von Wissen, die es dem Zuschauer gestatten, in die individuelle Tiefe des einzelnen Filmes ebenso wie in die Vernetzungen von Filmgeschichte zu begeben, somit also den Akt des Filmesehens diskursiv und kulturelle zu bereichern) bis hin zu einer Austauschfunktion zwischen dem Filmemachen/Filmesehen und der wissenschaftlichen Theorie von Wahrnehmung, Semiologie, Struktur, Kulturtheorie bis hin zu gender studies. Bei alledem gehört zur Rolle des Filmkritikers immer auch noch ein subjektiver Faktor. Er oder sie produziert auch Texte (Sendungen etc.) mit einem Eigenwert (weshalb im übrigen Filmkritiker gelegentlich schwanken zwischen zu großer Bescheidenheit und Selbstüberschätzung). Filmkritik, die gute wie die weniger gute, ist ein bestimmender Teil dessen, was man „Filmkultur“ nennen kann, und über die Filmkultur eines Landes oder einer Zeit entscheiden schließlich nicht zuletzt die publizierten Filmkritiken. Daher gehört zur Rolle der Filmkritik zweifellos auch ein ausgesprochen emotionales Element. Die Aufgabe der Filmkritik liegt nicht zuletzt darin, Begeisterung zu vermitteln, Begeisterung für den Film und Begeisterung für den cineastischen Diskurs. Das Niveau der Filmkritik liegt daher nicht in einer theoretischen Abgehobenheit, sondern in der Fülle der Beziehungen und Assoziationen, die sie anbietet. Die Rolle des Filmkritikers ist die eines diskursiven Scouts, der immer neue Türen findet, die es sich zu öffnen lohnt.

Wie unterscheidet sich diese Rolle heute im Vergleich zu früher, vor dem Internetzeitalter?

Die Kriterien für eine gute, engagierte, erfüllte und begeisterte/begeisternde Filmkritik haben sich durch das Internet keinen Deut geändert. So wie ein guter Film immer noch ein guter Film ist, auch wenn wir ihn in einem nicht so guten Kino, auf DVD oder als Stream ansehen (nicht, dass man die Umstände der Rezeption deswegen vernachlässigen dürfte), ist eine gute Filmkritik eine gute Filmkritik, egal ob man sie in einer Zeitung, im Radio oder im Internet aufnimmt.

Geändert haben sich freilich die Situation des Zugangs und des Konsums. Auf der einen Seite steht ein begrüßenswerter Zug der Demokratisierung, die Veröffentlichungspraxis wird leichter, schneller, direkter, sie kann auch spezieller und freier in der Form werden. Damit sind auch jene zur Filmkritik befähigt, die vordem keinen Zugang zu den Medien hatten. Und Film-Wissen wird von einer elitären zu einer kollektiven Angelegenheit, bei der sich auch die Grenzen zwischen dem Professionellen und dem Amateurialen auflösen. Insbesondere in Bezug auf alles, was jenseits von Mainstream und Feuilleton liegt, ist das eine enorme Bereicherung. Auf der anderen Seite aber wächst auch ein mächtiger Berg an Überflüssigem und in den verschiedensten Weisen ärgerlichem (zum Beispiel wird es schwierig, im Internet-Hype zwischen echter Begeisterung und Guerilla-Marketing zu unterscheiden, zum Beispiel bilden sich einigermaßen unduldsame Subszenen heraus, zum Beispiel verflachen Diskurse sehr rasch in ein triviales Nonsense-Rauschen). Der Demokratisierung des Film-Wissens steht – im übrigen im deutschen Sprachraum offensichtlich ausgeprägter als etwa im angelsächsischen – eine bizarre Destruktion des primären Mediums der Filmkritik, der Sprache gegenüber. Viele von jenen, die Filmkritiken im Internet veröffentlichen, meinen (irrtümlich), Sprache sei nicht so wichtig (manche von ihnen „beherrschen“ die Sprache nicht nur nicht, sondern scheinen sie regelrecht zu hassen).

Darin unterscheidet sich die Filmkritik kaum von anderen kritischen Diskursen: Auch die Kollektivierung des Film-Wissens und der Film-Beurteilung ist ein ambivalenter Vorgang, der nur dann Früchte tragen kann, wenn er seinerseits kritisch und selbstkritisch begleitet wird. Denn schon immer bestand Filmkritik von Rang auch in der Fähigkeit, neben dem Film und „seiner“ Gesellschaft auch das eigene Medium, die Sprache im allgemeinen, die Gattungen der Print- oder Elektronik-Medien andrerseits, mit zu reflektieren. (Eine der Grundfragen der Filmkritik ist zum Beispiel: Wie viel von einer Filmkultur – oder von einem einzelnen Film – kann in Sprache verwandelt werden, und wie viel des Bewegungsbildes entzieht sich genau diesem Vorgang der „Übersetzung“?)

Wie schätzen Sie die Bedeutung des Internets als Diskussionsplattform – sowohl für die Leser, als auch für die Kritiker untereinander – ein?

Ein Medium ist ein Medium ist ein Medium. Das heißt, es ist für sich weder gut noch schlecht, weder fortschrittlich noch restaurativ, weder demokratisch noch tyrannisch. Jedes Medium wird von Kräften bestimmt, die außerhalb seiner selbst liegen, von der Politik, vom „Marktgeschehen“, von Interessen, und am Ende natürlich auch von der Kraft der engagierten Benutzer, ein Medium zu „ihrem“ Medium zu machen. Die Möglichkeiten und Chancen dieses neuen Mediums (das, wie Marshall McLuhan sagen würde, immer die alten enthält) sind ja hinreichend beschrieben und anfänglich auch euphorisch genug begrüßt worden. Ebenso unübersehbar ist derzeit eine Stimmung der Ernüchterung und gelegentlich gar des Erschreckens. In der Praxis mag das, jenseits der Erstinformation durch die zweifellos segensreiche Wikipedia, dazu führen, dass man auf der Jagd nach brauchbaren Informationen (sagen wir zu einem bestimmten Film oder zu einem bestimmten Regisseur) sich durch immer größere Mengen von so oder so kontaminierten Informationsmüll arbeiten muss (ein Berg von Reklame, Trivialitäten und Irreführungen, der bis zum Erreichen des ersehnten Kritik-Schlaraffias durchfressen werden muss), und ab einem bestimmten Grad der Kontamination macht die „Freiheit“ des Netzes keinen Sinn mehr: User verhalten sich wieder konservativ, sie klicken nur noch die Seiten ihres Vertrauens an.

Hat das Internet den kritischen Umgang mit Filmen beeinflusst?

Aus dem obigen wurde wohl schon deutlich, dass diese Frage nur mit dem Hinweis auf neue Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten zu beantworten ist. Am Ende ist die Information im Internet so sehr eine persönliche Strategie wie es die Auseinandersetzung mit der Kritik war und ist. (Manche Cineasten lassen sich von Kritiken beim Filmbesuch beeinflussen, andere lesen Kritiken prinzipiell erst nachdem sie selber den entsprechenden Film gesehen haben, manche verlassen sich mehr oder weniger auf bestimmte kritische Schulen um Magazine, Zeitschriften oder Sender, andere verfolgen besonders interessiert gerade die Unterschiede der Kritiken etc.). Aus dem großen Versprechen einer kritischen Konvergenz – jeder und jede kann sich an einem Diskurs beteiligen, der ja in der Tat „uns alle angeht“ – ist eine große Fragmentierungsmaschine geworden: Statt im Informationsmeer ein erfrischendes Bad zu nehmen, sind die meisten nun wieder auf er verzweifelten Suche nach rettenden Inseln. Daher dreht sich auch was die Filmkritik anbelangt, die anfängliche Hoffnung auf die Öffnungen und Bereicherungen des Diskurses ins Gegenteil um, und am Ende sind wieder eher begrenzte, identifizierbare und in bestimmter Weise verlässliche Seiten die Attraktoren, deren Betreiber und Autoren eine Basis des Vertrauens für die Benutzer errichtet haben: ein garantiertes Niveau, eine bestimmte Perspektive, die Freiheit von kommerzieller Korruption, die Freiheit von ideologischen Nebenabsichten etc. Solche Webseiten sind nun verlässliche und schnelle Informationshilfen der Filmkritiken, funktionieren letzten Endes aber wieder eher konservativ, im Grunde also nichts anderes als traditionelle Filmzeitschriften in elektronischer Form.

Dabei ist freilich die politische Ökonomie der Filmkritik entschieden verändert worden. Die Entprofessionalisierung, die zunächst einen Zuwachs an Demokratie, Offenheit und kollektivem Wissen versprach (und etliches davon wollen wir auch gar nicht mehr missen) erweist sich nun als Boomerang. Der BERUF des (freien) Filmkritikers wird weitgehend abgeschafft. Das wäre natürlich erfreulich, so weit es sich um einen elitären und eitlen Zirkel gehandelt hätte, weniger erfreulich indes, wenn es etwa um eine Gruppe von Menschen gehandelt hätte, die sich aufgrund ihrer Professionalität unabhängige Recherche, kritische Distanz, aber auch empathische Nähe leisten konnten. (Wohlgemerkt: Wenn ich hier von Professionalität spreche, meine ich nicht die Qualität der Texte an sich, sondern die Möglichkeiten der Entfaltung innerhalb einer Filmkultur, die sich zunehmend schwer tut, sich gegen den Druck der Institutionen, der Politik und natürlich vor allem der medialen Industrie zu behaupten. Jede Arbeit, also auch die der Filmkritik, muss in irgendeiner Weise bezahlt werden. (Es gibt definitiv Grenzen der Selbstausbeutung.) Die „alte“ Filmkritik in den Print-Medien wurde zu einem nicht unerheblichen Teil von den eigentlichen Adressaten, den Lesern bezahlt, die sich bestimmte Fachzeitschriften oder Zeitungen wegen der Kritiken kaufen oder es eben nicht tun. Die neue Filmkritik im Netz erreicht den Adressaten in der Regel kostenfrei, sie muss also von anderer Seite finanziert werden. Es ist entweder eine Institution, ein Zusammenschluss oder eine Initiative, welche die Mittel dafür aufbringen muss (selbst wenn die Autoren kein Geld mehr für ihre Arbeit erhalten, muss doch eine ökonomische Basis vorhanden sein), und am Ende ist es die Werbung, die ihrerseits wiederum abhängig vom „Ranking“ und der Vernetzung abhängig ist. Vielen idealistischen Ansätzen zum Trotz: Je näher man die (Film-) Kritik im Netz ansieht, desto ferner sehen Qualität, Unabhängigkeit und Leidenschaft zurück.

Diese generelle Skepsis steht nicht im Widerspruch zur Begeisterung, die Funde von echten Perlen (auch an überraschenden Stellen) von filmkritischen Texten im Internet auslösen können, und auch nicht im Widerspruch dazu, dass natürlich der Internet eine wunderbare Schule für junge Leute ist, die sich auf eine Laufbahn des kritischen Schreibens über Bewegtbilder (so nämlich wird das Berufsbild der Zukunft wohl aussehen) vorbereiten. Vor allem ist das Internet auch ein wunderbares Medium für das filmkritische „Gedächtnis“.

Die Filmkritik im Internet kann sich am Ende allerdings nur im Zusammenhang mit einer Kritik des Internet entfalten; sie öffnet also nicht nur die Tür zwischen elitär-professionell und amateurial-kollektiv sondern auch die zwischen der speziellen Film- und der allgemeinen Medientheorie. Beides ist weder gut noch schlecht; es ist eine Tatsache, der sich am Ende niemand entziehen kann.


Auszüge. Zitiert aus dem Interview: Georg Seeßlen über Filmkritik, welches NEGATIV – Magazin für Film und Medienkultur! führte und am 20.02.2011 online veröffentlichte (Quelle: negativ-film.de, 20.02.2011)