Anmerkungen zum Dokumentarischen, das auf der Bühne seinen neuen Raum findet. Oder warum man sich von Rimini Protokoll eine andere Form von Aufklärung versprechen kann
Das Dokumentarische musste sich in den neunziger Jahren einer Neubestimmung unterziehen lassen. Auf der einen Seite entzog es sich dem Begriff, es drohte im Diskurs zu verschwinden. Was zum Teufel konnte noch „dokumentarisch“ sein zwischen Tagesschau und MTV? Auf der anderen Seite tauchte es an überraschenden Stellen wieder auf, beim Theater und in der Bildenden Kunst etwa. Das Dokumentarische ist seit den neunziger Jahren auf eine nicht recht fassbare Weise „wieder da“. Und es musste „besprochen“ werden. Das geschah aus einer defensiven Haltung (im Mainstream) und einer offensiven Haltung (bei den ästhetischen Produzenten).
Defensiv nur konnte der Mainstream vorgehen, weil sich der Begriff von Wirklichkeit und Bild verändern musste – nicht allein durch die digitale Revolution, die das Bild unendlich verfügbar und manipulierbar machte, und nicht allein aufgrund der neuen fragmentarischen, seriellen und nonlinearen Erzählweisen. Auch die Wirklichkeit, und vor allem, was man als „politische“ Wirklichkeit sah, musste umgekehrt ihren Gehalt an Inszenierung eingestehen; seit dem ersten Golfkrieg spätestens gibt es keinen allgemeinen Glauben mehr an das dokumentarische Bild (und paradoxerweise zugleich ein enorm gesteigertes Verlangen danach). Das Authentische ist, wo wir nicht sind, und es verschwindet, wenn wir danach greifen. So wäre die erste Pflicht des Dokumentarischen, die eigene Unmöglichkeit zu reflektieren.
Offensiv musste die Debatte für die ästhetische Praxis geführt werden, weil das Dokumentarische neue Felder und neue Allianzen eingehen sollte und seinen medialen Radius erweiterte. Das Dokumentarische nicht nur als Ziel und nicht nur als Methode, sondern auch für jedwede Begegnung, auf Augenhöhe, wie man so sagt. Wenn die Welt in der Tat und im Wort alles ist, was der Fall ist, dann ist jede Reflexion auch dokumentarisch – und jedes Theater, das sich nicht als geschlossene Anstalt versteht, in gewisser Weise „dokumentarisch“.
Das Andere der Wirklichkeit
Zunächst aber etwas über das Filmische. Wie wird es für das Theater nutzbar gemacht? Zuerst in einfacher Weise: als Imitat. Die Auflösung einer Szene wird vom Rhythmus und von den „Einstellungen“ her bereits der Montage übergeben, ohne dass es eine solche gibt (gewisse mehr oder weniger kommerzielle Autoren schreiben Theater schon im Hinblick auf die Verfilmung oder sogar umgekehrt). Wie im Film wird das Format der Bühne durch interne Quadrierungen, virtuelle Architektur und Lichtraum erweitert und strukturiert, so dass auch das Theater nicht allein aus Brettern, die die Welt bedeuten, besteht, sondern mehrere Variationen des off screen aufweist – wo der Repräsentationsraum aufhört, die Wirklichkeit beginnt, ist demnach nur in der jeweiligen Bewegung zu erkennen; on und off sind moving frontiers.
Zum zweiten durch die Verwendung: Eine Filmprojektion erweitert den Bühnenraum nicht anders als eine theatralische Aktion den Filmraum erweitert im expanded cinema. Die Begegnung der beiden Repräsentationsweisen bezieht ihren Reiz stets aus der Frage: Wenn das eine Wirklichkeit sein soll, was ist dann das jeweils andere? Traum, Welt, Göttliches, Schicksal, Dämonisches oder Symbolisches? Aus zwei Sprachen, die ineinander stürzen, wird nicht so sehr eine neue Sprache, sondern eine Vielzahl von neuen möglichen Sprachen, von denen sich aber keine mehr vollkommen ausbildet. Aus Film und Theater, Rolle und Körper, Spiel und Biografie, Handlung und Diskurs, Ritus und Dokumentation wird zwar parole (ein Gesprochenes), aber nicht langue (eine Sprache). Gut so.
Einfluss der DDR
Sodann lassen sich, zum Dritten, filmische Effekte verwenden: eine Schwarzblende, ein stroboskopischer Lichteffekt, ein „harter Schnitt“ in eine Szene, die Imitation von Tiefenschärfe, wahlweise Verwendung von off screen- und source music (eine Musik, aus dem Außerhalb von Stück/Film, ein Hit etwa). Alles, was im Film benutzt wird, um eine Einheit von Zeit, Raum und Subjekt zu erzeugen, kann auf der Bühne dazu dienen, diese Einheiten zu negieren. Alles, was das Filmbild flüssig oder, um mit Christoph Schlingensief zu sprechen, gar über-flüssig macht, bringt das Bühnenbild ins Stocken, und mit dem Einbruch des Dokumentarischen in den Bühnenraum erlernt das Theatralische eine bislang ihm verschlossene Technik: das Zögern.
Dann wird es komplizierter: Das Filmische kehrt gleichsam in seine Bestandteile zerlegt auf die Bühne zurück. In der Bewegung des Bildes, in den „Artefakten“ – die in einigen der Inszenierungen der Dokumentartheatergruppe Rimini Protokoll gleichsam die Inszenierung von Aufnahme oder Projektions-„Fehlern“ sind –, in der Trennung von Musik, Sprache und Bewegung, in der assoziativen Montage der Zeit. Der „Geist der Trennungen“ greift vom Filmischen auf das Theatralische über, und zugleich kann das Implizite zum Expliziten werden – etwa die Hintergrundgeschichte eines Schauspielers, eines Stoffes oder einer Rolle.
Wenn das Filmische und das Dokumentarische nun das Bühnengeschehen perforieren, kommt es zu einer Auflösung und Neugestaltung des theatralischen Subjekts. Von diesem theatralischen Subjekt sind wir im „klassischen“ Theater gewöhnt, dass es sich zu einer perfekten Einheit von Rolle und Schauspielerpersönlichkeit findet, woran auch ein V-Effekt erst einmal herzlich wenig ändert, ja, dass die Arbeit auf der Bühne gerade der Herstellung dieser Einheit dient (der Meta-Metapher eines „bürgerlichen Subjekts“, nebenbei gesagt). Gewiss gibt es am Rande das Schauspiel, dem der Text so wichtig ist, dass ihm der Körper egal ist, und das Schauspiel, dem der Körper so wichtig ist, dass ihm der Text egal ist. Aber das ist nicht mehr als ein Ausschreiten der Bühnengrenzen. Dem „perforierten“ Schauspieler dagegen fallen Rolle, Repräsentanz, Text und eigenes Subjekt auseinander; er ist Subjekt, insofern er zugleich Fiktion und Dokumentation ist, dies aber nicht in der Form des Amalgams, sondern in der einer Begegnung auf Augenhöhe. Das Schauspiel ist die Dekonstruktion des Bühnensubjekts. Und dieses andere Dokumentarische, auf einer Linie von Handke, Botho Strauß zu René Pollesch, Rimini Protokoll oder Schlingensief, macht unter anderem klar, dass Bretter nicht die Welt bedeuten. Texte und Körper bedeuten etwas anderes, wenn die Bretter, auf denen sie agieren, nicht mehr die Welt bedeuten.
Ein besonderer Einfluss verdankt sich in Deutschland sicher den Traditionen der DDR, wo insbesondere das Theater einen offen oder konnotierten Aspekt des „Dokumentarischen“ benutzte. Die Filme von Jürgen Böttcher (der zugleich Bildender Künstler ist), Volker Koepp oder Helke Misselwitz zeigten „Realität“, wie sie sonst nicht zu sehen war, selbst über die eigene Zeit hinaus. Man könnte sagen, der durch den Fleischwolf der Geschichte und der Macht getriebene „sozialistische Realismus“ kehrt als Zeit-Bild zurück. Dass es Zeit gibt (wenn sie sich nicht als Zins ausdrückt), ist der Skandal des Kapitalismus, und mit dem Dokumentarischen und dem Filmischen kommt in die Kunst der Anwesenheit das Theater, die Dimension der Zeit. Zunächst als pure Zeitlichkeit, dann aber als Empfinden der Dauer, und schließlich als Empfinden der Nicht-Einheit von Zeit und der Nicht-Einheit von Dauer.
Eine Schlacht ist eine Schlacht
Die Auflösung einer grundsätzlichen Widersprüchlichkeit zwischen dem Fiktionalen und dem Dokumentarischen wie zwischen einem Filmischen und einem Theatralischen scheint ein allgemeines Projekt zu sein, das in die Mitte eher als ein resignatives laissez faire denn als eine Neubestimmung reicht. Tatsächlich aber müsste man das Dokumentarische neu definieren in Beziehung auf die Zeit: Wenn das Subjekt und sein Raum selber bereits zu viel Inszenierung enthalten, von der Technik der Abbildung ganz zu schweigen, dann ist das Medium der Authentisierung die Zeit. Das hat eine triviale Komponente: Je länger die Kamera/der Blick des Zuschauers auf einem Geschehen liegt, desto mehr verliert Inszenierung („Lüge“) ihre Kraft; man muss, wie im richtigen Leben, etwas nur lange genug anschauen, dann wird es sich offenbaren. Das Dokumentarische findet – entgegen allen Michael Moores und entgegen allen weinenden Kamelen – seine Würde wieder, wo es den konzentrierten und nachhaltigen Blick anbietet.
Etwas Nämliches findet auf dem Theater statt, ganz jenseits der langsam lähmenden Diskurse von „Regietheater“, „Bildungsbürgertum“, „Kulinarik“, „Werktreue“. Die Bühne erhält ihre Würde zurück, indem sie sich „dokumentarisch“ macht, und damit auf Konzentration und Dauer setzt. Das „Zeitlose“ ist nicht „schön“, sondern allenfalls ideologisch harmonisierend, während umgekehrt die Rückeroberung des Zeitlichen eine Frage des kulturellen Überlebens ist. Das Dokumentarische des Films bedeutet, Subjekt und Raum die Zeit wiederzugeben, und jede filmische Technik anderswo ist eine Suche nach verlorener Zeit. So ist der perforierte und erweiterte Bühnenraum jener, in dem Bedeutung durch Gegenwärtigkeit erzeugt wird. Ein Theater-Satz ist nicht Verdichtung, sondern Aneignung des Wirklichen.
So wird „dokumentarisch“ auf dem Theater zum einen, was seinen Repräsentationscharakter verliert oder in Frage stellt – eine Geschichte, die schon mit dem Beiseite beginnt, dem Vorspiel auf dem Theater, und was mit der Abschweifung, dem Manierismus, der Verfremdung und der Publikumsbeschimpfung fortschreitet – und was auf der anderen Seite seinen rituellen Charakter verliert oder in Frage stellt. Man könnte auch, nur scheinbar paradox, ein Modell anbieten, in dem das Theater dokumentarisch wird, indem es filmikalisch wird, und in dem der Film dokumentarisch wird, indem er theatralisch wird. Die Beziehung zu einer „Wirklichkeit“, die man wahlweise als Großes und Ganzes (Kosmos und Natur), als Historisches (Verhältnisse und Fortschritt) oder aber als intimes Konkretes und Körperliches (Angst und Begehren als neueste Variante von Wille und Vorstellung) ansehen mag, verändert sich in jeder „Einstellung“.
Dritte Aufklärung
Alle Formen von Wirklichkeit, das Große und Ganze, das Historische und das Körperliche, werden so sehr als „zweifellos“ angesehen (eine Schlacht ist eine Schlacht, ein Fick ist ein Fick), wie sie ohne einander als trivial oder absurd angesehen werden: Geschichte ohne Menschen und Menschen ohne Geschichte. Wahrscheinlich kann man daher auch sagen: In einer Wirklichkeit zu leben ist ebenso unmöglich, wie ein wirkliches Bild zu erzeugen.
Rimini Protokoll als prominentestes Beispiel des perforierten Theaters ist, wenn ich mich nicht täusche, ein Schichtenmodell – die Fiktion dokumentiert ihre Herstellung, die Wirklichkeit ihre Fiktionalisierung. Man könnte dies als Projekt einer dritten oder gar vierten Aufklärung betrachten. Nach der Welt und dem Ich, nach dem Text und dem Bild nun die Beziehung. Das Dazwischen.
Die Welt nämlich ist alles, was Dazwischen ist.
Text: Georg Seeßlen (zuerst erschienen in „Der Freitag“, 02.12.2010)
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