Im Kino gelangt der Stau zu wahrer Schönheit: Eine kleine Phänomenologie des Steckenbleibens
Bemerkenswerterweise gehören zu den großen Momenten des Films jene, in denen das Bewegungsbild an seine Grenzen stößt. Daher flüchten in Filmen mit maskierten Messermördern die Mädchen stets in Dachböden oder Keller. In Filmen mit gestählten Männerkörpern werden die Helden wie magisch von Sackgassen und Mauern angezogen. Und Filme mit Autos kommen nicht aus ohne Blockaden und Staus. Im Augenblick der erzwungenen Ruhe verlagert sich die Bewegung nach innen. Das Kino entdeckt die Seele – im Bild eines Staus handelt es sich um die Seelen von Menschen und von Maschinen.
Laurel & Hardy nehmen die Katastrophe der kommenden Auto-Epoche vorweg: Man hat ein Auto, aber man kann sich damit nicht fortbewegen. Im Kampf um Parklücken, in den handfesten Auseinandersetzungen zwischen Haus- und Autobesitzern und eben im Stau, den natürlich, wie im 1928 entstandenen Leave ‚em laughing, nur sie selbst verursacht haben können. Übrigens sehen wir hier auch schon die höchste Kunst einer Stauverursachung: Nicht lineare Stockung, sondern unauflösbare Verkeilung ist das Ziel – etwas, das man als „Kreuzungsstau“ auch in der Wirklichkeit kennt. In Two Tars (1928) geraten die beiden als Matrosen auf Landurlaub mit einem gemieteten Auto in einen Stau, und als Laurel sich bemüht, (seine) Ordnung in die Sache zu bringen, da macht er alle im Stau Gefangenen so wütend, dass sie sich gegenseitig an den Kragen und vor allem an die Karosserie gehen: Die Auflösung des Staus besteht für diesmal darin, dass sich die Verkehrsteilnehmer gegenseitig die Autos zerlegen.
Der Traum von Autofahrern, die Barrikaden durchbrechen
Im deutschen Film gab es entweder Verkehr, aber keine Autos (in Fritz Langs Metropolis), oder es gab Autos, aber keinen Verkehr (wie in Die Drei von der Tankstelle), sodass wir bis spät in die Nachkriegszeit warten mussten, um den ersten genuin deutschen Stau auf der Leinwand zu sehen. In der amerikanischen Populärkultur schien der Verkehrsstau hingegen eine alltägliche Katastrophe. Mit Betonung auf alltäglich. Als wir in Deutschland unsere ersten Staus bildeten und die ersten Bilder dafür fanden, unterschieden sie sich davon signifikant. Zum einen gab es so gut wie keinen Stau, an dem sich nicht irgendwie ein uniformierter Polizist beteiligte. Und weil die Polizisten im deutschen Film der fünfziger Jahre im Allgemeinen gutmütig-komisch waren wie Heinz Erhardt in Natürlich die Autofahrer (1959), konnte man auch argwöhnen, dass sie, auf dem Weg in den gemütlichen kleinbürgerlichen Beamtenstaat, auf dem wir uns zu befinden wähnten, den Stau selbst verursachten, um unser Bild der Moderne zu vervollständigen. Natürlich wird der psychische Stress nicht verschwiegen. In Und das am Montagmorgen gerät O. W. Fischer 1959 als Bank-Karrierist morgens auf der Suche nach einem Parkplatz in eine so totale Blockade, dass er einfach das Auto stehen lässt, nach Hause geht und unter Aufbietung beträchtlich infantiler Energien den wahren Aussteiger macht.
Was man in diesem Film sieht, ist das zweite typische Element des Staus im Deutschland der Wirtschaftswunderzeit: Der Stau ist kein Ergebnis von Übermotorisierung und Verkehrsaufkommen, er wird vielmehr durch Bauarbeiten ausgelöst. Noch im Ungemach also spiegelt sich der große Wunsch „voranzukommen“, noch der Stau ist Symptom für den Optimismus des Wiederaufbaus. Ein Jahrzehnt später ist dieser nicht mehr zu haben. Der Verkehr im Kino der sechziger Jahre ist hysterisiert. Der Mythos Auto zerfällt ins Steckenbleiben und Flüchten. Und bis in die siebziger Jahre träumen wir von Autofahrern auf der Suche nach der Freiheit, die Barrikaden durchbrechen wie in Vanishing Point von Richard Sarafian oder Sam Peckinpahs Convoy. Der Kampf ums Auto ist entbrannt; Raserei und Stau sind die beiden Aggregatzustände der mobilen Gesellschaft. Der Stau ist kein Schicksal mehr, sondern eine Frage der Macht. Helden dieser Zeit sind Autofahrer, die den Stau ignorieren und immer noch einen Weg finden, der Selbstblockade des Verkehrs zu entkommen, ohne Rücksicht auf Verluste. Denken wir an Jean-Paul Belmondo in Le Casse (1971), wo nicht einmal der Respekt vor einem Trauerzug dazu führt, eine automobile Wartezeit zu akzeptieren. Und wenn der zu Reichtum gekommene Kleinbürger Louis de Funès Urlaub machen will, kann er gar nicht anders, als mit seiner Citroën Déesse in einen Stau und dann in Streit mit den anderen Fahrern zu geraten.
Die achtziger Jahre scheinen wieder eine Beruhigung zu bringen. Es gibt jetzt übrigens kaum noch Autokinos. Die Kids machen sich auf Skateboards aus den urbanen Tollheiten davon. Der Stau ist ein soziales Phänomen der Überalterung geworden. Die Slackers steigen schon mal prinzipiell ungern in ein Auto. Aber man kann dem Wahnsinn nicht entkommen. In Joel Schumachers Falling down (1993) ist Michael Douglas einer der depravierten Büro-Bürger. Als er im Stau stecken bleibt, geplagt, unter vielem anderen, von einer hartnäckigen Fliege im Inneren seines Wagens, kann man gar nicht anders, als darin die perfekte Metapher seines Lebens zu sehen. Dass er erst eine Baustelle räumt und dann mit der Pumpgun eine Spur durch die Stadt zieht, ist nur die wahnwitzige Konsequenz einer Klasse, die sich bei der Arbeit, in der Familie und eben auch im Verkehr nichts anderes als die Selbstzerstörung zum Ziel setzen kann.
Jede Stadt hat ihre Staus und findet darin eine besondere soziale Ästhetik. Ein Stau in New York sieht definitiv anders aus als einer in München oder Rom. Federico Fellini zeigt uns in seinem wunderbaren Roma einen, der die Wahrnehmung schärft bis hin zu einer surrealen Vision der Gefangenschaft von Mensch und Tier. Das ist schon abgemildert im Verhältnis zu seinem Film 8 1/2, wo der Verkehr die kreativen Krisen und Blockaden des von Marcello Mastroianni gespielten Regisseurs alptraumhaft veräußert – bis hin zur filmischen Selbsttherapie. In La dolce vita schließlich ist das Verkehrschaos römischer Dauerzustand, pure Endzeit.
Nun ist der urbane Stau allerdings leichter zu ertragen als der ländliche. Auf dem Land kommt eine Fremdheit dazu wie im unbarmherzigsten der Stau-Filme, Godards Weekend. Hier wird ernsthaft gestorben, und die Kannibalen sind auch nicht weit, wo sich die Blechtiere ineinander verkeilen. Die zehn Minuten, in denen die Kamera parallel zu einem endlosen Landstraßenstau fährt, sind Auftakt nicht nur zu einem Zusammenbruch der mobilen Zivilisation und der sexuellen Ökonomie des gaullistischen Frankreichs, sondern auch von Zeit und Raum. „Fin de Cinéma“ lautet der Schlusstitel der Mutter aller Stau-Filme.
Eine scheinbar leichtere Version vom Stau als Kulturkatastrophe bietet Jacques Tatis Trafic aus dem Jahr 1971. Anders als bei Godard gibt es gegenüber dem Chaos von Raserei und Stillstand eine Alternative. Die Ruhe. Bei Godard erwächst das Grauen, weil die Menschen ihren Autos immer fremd bleiben, in Tatis Film dagegen haben sich die Maschinen auf bizarre Weise ihren Besitzern angepasst und umgekehrt. Während Godard mit seiner Kamerafahrt den Stau entlang eine Art endgültiges Verdammungsurteil ausspricht, lässt sich Tati die Zeit des Staus, um die Mensch-Maschinen-Einheiten sorgfältig zu beobachten, etwa beim Funktionieren und Nicht-ganz-Funktionieren von Scheibenwischern, die zu Bildern der Lebenskraft ihrer Besitzer werden; Autos jagen mit klappender Kühlerhaube wie hungrige Krokodile nach den nicht mehr so mobilen Menschen. Die Motorisierung, sagen beide Filme, hat auf die Straßen zurück zur Barbarei geführt. Und der Stau ist die Situation, in der das nicht mehr zu verheimlichen ist.
Nichts ist trauriger als der Moment, in dem es weitergeht
Luigi Comencinis Der große Stau von 1978 ist der große bürgerliche Stau-Film. Er spielt an einem sonnigen Mittag auf den Straßen vor Rom; unübersehbar lang die Blechschlange; niemand weiß, warum es nicht mehr weitergeht. Die Ungeduldigeren verlassen das Auto, und nach und nach müssen die Festgefahrenen zueinander Kontakt aufnehmen. Die junge Studentin in ihrem Kleinwagen, der Trucker mit einer Ladung Babynahrung, der Fabrikant in seiner Luxuskarosse, das alte Ehepaar, die lautstarken Jugendlichen in ihrer Gang – wir kennen diese Klischees und sind doch immer überrascht, wenn sie einem auf der wirklichen Straße begegnen. Die Zeit vergeht, und außer einem vorbeifliegenden Hubschrauber gibt es keine Hoffnung, die brütende Hitze lässt schließlich auch die Konflikte hochkochen. L’Ingorgo ist einerseits eine Fortsetzung der großen Stau-Filme Weekend und Trafic, andererseits aber auch eine leicht reaktionäre Revision: Im Stau kann man lauter wild gewordene, komische Kleinbürger sehen. Mit dem Blick eines wild gewordenen, komischen Kleinbürgers.
An verstopfte Straßen müssen wir uns auch in der Zukunft gewöhnen: In Luc Bessons The Fifth Element stauen sich die fliegenden Automobile in den Häuserschluchten. In David Cronenbergs Crash sind Staus Situationen allerhöchster Ausgeliefertheit. Crash-Junkies machen Jagd aufeinander und auf unschuldige Opfer, und die Kunst dieser Zeit besteht im Nachspielen der berühmtesten Autounfälle der Geschichte. Der endlose Stau ist dem Menschen zur neuen Heimat geworden.
Im Stau-Film geht es um die Grenzen, die dem Einzelnen und seinem Selbstausdruck durch das Automobil gesetzt werden. Er erzählt vom grotesken oder blutigen Ende der Freiheit. Und, wer weiß, vielleicht vom Beginn einer neuen. Denn von einem Stau kann man viel Schlechtes sagen. Aber wenn man ihn durch das Auge einer Kamera ansieht, muss man zugeben, dass er verdammt schön ist. Nie begegnen sich Chaos und Ordnung in einem so konkreten Geschehen. Nie sind Menschen so sehr Persona wie in dem Augenblick, da sie, wie Buster Keaton, vergeblich Anfang oder Ende ihres Staus suchen und den schützenden Innenraum des Automobils verlassen. Und nichts ist trauriger als der Moment, an dem es, wie man so sagt, „endlich wieder weitergeht“.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in DIE ZEIT 18.06.2003 Nr.26
- MISCHPOKE II - 4. März 2024
- Bruno Jasieński: Die Nase - 27. Juli 2021
- Manifest für ein Kino nach Corona | Brauchen wir andere Filme? - 27. Juli 2021
Schreibe einen Kommentar