Eine kluge Faschismusmaschine
Es war das Jahr der großen Träume. Wir träumten 1968 davon, erst die ganze Welt und dann auch uns selbst zu verändern. Oder umgekehrt. Wir fühlten uns rauschhaft und vom eigenen Schwung beglückt in Bewegung versetzt. Die ersten Joints wurden geraucht, der Blues wurde elektrifiziert, und es war nie ganz leicht zu sagen, wo das Kino aufhörte und das Leben begann. Oder umgekehrt.
Das war die eine Seite. Auf der anderen gab es die Träume von einer besseren Welt der weißen Supermaschinen, die sogar den Krieg in eine futuristische Installation verwandeln würden. Man lebte in zwei Zukunftsvisionen gleichzeitig, in einer Idee der moralischen und in einer anderen der technischen Verbesserung der Welt. Natürlich gab es nichts Widersprüchlicheres als das Verhältnis der moralischen und der technischen Intelligenz zueinander, aber 1968 befanden sie sich noch in wechselseitigen Diskursen, die unter anderem auch dies hervorbrachten: seltsame Bilder.
In jenem Jahr gab es einen Film zu sehen, der uns staunen machte. Er hieß „2001“, stammte von einem Cinemanen namens Stanley Kubrick und versprach im Untertitel eine „Space Odyssee“. Er nahm unsere Bewegung auf und führte sie in den Kosmos weiter, er träumte die ganze Menschheitsgeschichte, von den ersten Menschen in die damals noch entfernte Zukunft. Ein technischer und ein moralischer Traum, ein Drogentrip und eine Art, in Bildern statt in Worten zu philosophieren.
Die Odyssee im Weltraum beginnt mit der Urhorde der Menschen.
Was für ein höllisch violetter Himmel über ihnen!
Sie stoßen auf eine graphitgraue, flächige Säule, die sie mit einem Schlag zu richtigen Menschen macht. Sie entdecken Knochen als Waffe, mit der man Tiere und Konkurrenten totschlagen kann. Triumphal wirft einer der Urmenschen seine Knochenkeule in die Luft, und da verwandelt sie sich vor unseren Augen in ein Raumschiff. Vier Millionen Jahre sind in einem Bild vergangen, das ist vermutlich der Zeitsprungrekord der Filmgeschichte. Das Schiff befindet sich auf dem Weg zum Mond, wo ein unidentifiziertes Objekt gesichtet wird, ein Monolith derselben Art wie in der Eingangsszene. Da das Ding Funksignale in Richtung Jupiter sendet, wird ein weiteres Raumschiff zum fernen Planeten ausgesandt. Es beginnt eine Reise weit hinaus über die bewohnte Welt und tief hinein in die Seele im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit.
In „2001“ konnten wir sehen, hören, spüren, was es heißen mochte, im Weltraum zu sein. So sahen wir einen einsamen Menschen seine Runden in diesem Schiff drehen; in einer der wahnsinnigsten Kamerabewegungen, die es bis dahin zu bestaunen gab, zeigt uns Kubrick, daß es nun kein oben und kein unten, keine eindeutige Bewegung mehr geben wird. Der Astronaut läuft gegen die Drehung seines Raumschiffes, wir können nicht anders als an das Bild einer Maus im Laufrad denken. Zur gleichen Zeit ist dieses Bild von gewaltiger Schönheit, grausam und schön wie viele Bilder in diesem Film in Cinerama, Panavision und Metrocolor und von 140 Minuten Länge. Bilder, wie wir sie vorher noch nie gesehen hatten.
1968 und ein paar Jahre danach gab es zwei Arten, „2001“ zu sehen: bekifft reingehen oder wie bekifft rauskommen. Irre Hippies mit langen Haaren und Kaleidoskopen in der Tasche, eher kurzgeschnittene Nachwuchstechnologen und fleißig denkende Marxisten saßen damals in den Kinoreihen zusammen mit Leuten, die sich einfach nur einmal beeindrucken lassen wollten.
Ein Mythos hat die schöne Eigenschaft, daß man in ihm nicht mehr zwischen dem Richtigen und dem Falschen, der Wahrheit und der Phantasie unterscheiden kann. Er hat keine Meinung und keine Botschaft, aber er trägt alles in sich, was über das, was ihn geformt hat, zu sagen ist. „2001“ wurde zu einem der größten Mythen der Filmgeschichte. Damals schien die Aufhebung der Widersprüche zwischen der humanistischen und der technologischen Phantasie wenigstens im Mythos möglich. Später wurde der Riß, der durch die Gesellschaft geht, so verschärft – unter anderem durch den Krieg in Vietnam -, daß man sich nicht mehr im selben Kino treffen mochte.
Vietnam schien so etwas wie die Antwort der Wirklichkeit auf den Mythos zu sein: Die technische Supermacht versuchte, die Menschheit in die Steinzeit zurückzubomben. Die new frontier lag nicht im Himmel, sondern in der grünen Hölle des Dschungels. Und statt der Erlösung gab es nur die Sünde. „2001“ begleitete die einen in die Radikalisierung des Protestes, die anderen in das irrationale Schlachtfeld. Eine Generation später begleitete er die Cyberpunks, die Kritiker und die Gläubigen der Künstlichen Intelligenz. Heute entdecken wir den Film wie ein archäologisches Wunder wieder – in einer Zeit, in dem gleich beide Traumwelten, die moralische und die technische, zerbrochen sind.
Wir haben seitdem viele andere und spektakuläre Bilder gesehen. Im Kino und anderswo. Vor unseren Augen hat sich die weiße, kalte Zukunft in eine dunkle, kaputte Zukunft verwandelt. Der große Aufbruch hat nicht stattgefunden. Die Angst vor zuviel Perfektion war ungerechtfertigt. Statt des glänzenden Schiffs, das einsam auf den Jupiter zugleitet, haben wir eine Raumstation namens Frieden im All, die sich allmählich in Schrott verwandelt. Statt eines Computers, dessen Perfektion den Menschen zum Verhängnis wird, gibt es elektronische Systeme, die häufiger ausfallen, als daß sie funktionieren. Und in den neuen Zukunftsvisionen ist die Erde unbewohnbar geworden, Maschinen leiden wie Menschen, es regnet einen harten Regen in den Megacitys, und statt zum Walzer bewegen sich die Menschen im Weltraum zur kalten Melancholie von David Bowies Song von der „Space Oddity“. Die Zukunft findet im Jahr 1998 nicht mehr im Weltraum, sondern am eigenen Körper statt. Sie besteht aus Serienmördern, maschinellen, elektronischen oder organischen Human-Imitationen und aus Menschen, die sich in ihren Medien zu Tode amüsiert und multipliziert haben.
Kein Wunder also, daß wir uns gelegentlich gern zurück in die andere Zukunft begeben. „2001 – Odyssee im Weltraum“ von Stanley Kubrick war eben viel mehr als ein besonders guter oder besonders kluger Science-fiction-Film. Er war Rausch und Ernüchterung zugleich, eine kalte Verhandlung der kommenden Technik und der bizarren Intelligenz des Supercomputers und eine mystische Betrachtung über die Kreisförmigkeit des Kosmos und des Lebens.
In der Science-fiction geht es in der Regel um außerirdische Invasoren, oder es geht um ein terroristisches Machtsystem der Zukunft. Nichts davon bei Kubrick. Die einzigen Aliens im Weltraum sind die Menschen. Einsame, kleine Wesen, unterwegs an den Rändern der Unendlichkeit. Und die Computer haben nicht die Herrschaft über die Menschen angetreten, als neue Diktatoren, die die Liebe und die Poesie verbieten, wie in Jean-Luc Godards „Alphaville“, sondern sie sind auf sanfte Weise unentbehrlich geworden. Sie sind die Fortsetzung der Keule, die der Urmensch in die Luft geworfen hat, nicht bloß etwas, das er benutzt, sondern etwas, das Teil seiner selbst geworden ist.
Drei der fünf Reisenden im Raumschiff, die Wissenschaftler der Expedition, sind in einen Tiefschlaf versetzt. Alle Funktionen an Bord, einschließlich der bemessenen Kühlung für die Schlafenden, hat der Bordcomputer HAL 9000 übernommen. Seine roten Sensoren sind überall, und mit den Menschen kommuniziert er mit sanfter Stimme. Im Blick der perfekten Denkmaschine erscheinen die Menschen zunehmend als Störquelle. Doch in HALs System ist ein Fehler aufgetaucht. Ihn zu beheben, wollen die Astronauten die Maschine für eine Zeit abschalten. Aber HAL läßt sich nicht mehr abschalten. So beginnt der Kampf zwischen Mensch und Maschine, zwischen zwei Denksystemen, die nichts anderes wollen als einander überleben.
„2001“ war selbst ein gigantisches technisches Unternehmen. 57 Millionen Dollar kostete die Produktion. Der Ehrgeiz der technischen Intelligenz, ihren state of the art in diesem Film zu verewigen, wurde selbst zu einem Thema. Nie wieder arbeiteten die technische und die künstlerische Intelligenz so unvoreingenommen zusammen wie für den Film „2001“. Wir sehen den Technikern förmlich beim Spiel mit den Raumschiffen zu, wir sehen ihren Stolz auf die Raumschiffmodelle, ihre Zentrifuge zur Erzeugung der Schwerelosigkeit, ihre fabelhaften Raumanzüge, das Gekabel und Geblinke, in dem sich echtes Gekabel und Geblinke mit filmischem Gekabel und Geblinke mischte.
Und wir sehen zu, wie dieser sadistische Regisseur die technischen Träume von innen her kaputtmacht. Er läßt die Konzerne träumen, es gibt ein „Hilton“ im All, es gibt Pan-Am-Shuttles für den kommerziellen Raumverkehr, im Weltraum ist BBC 12 zu empfangen, IBM-Computer tun große und kleine Rechnerdienste, und nach wie vor telekommuniziert der Mensch mit Hilfe der Technik des Bell-Konzerns. Damals lachten wir pflichtschuldigst über diese satirische Projektion des Monopolkapitalismus in den Kosmos. Das zeigte uns, daß die Sache nicht gut ausgehen und die wundervolle Hypertechnik ein Bild des entfremdeten Lebens sei. Dann lehnten wir uns wieder in die Kinosessel zurück und waren hin und weg. Merkwürdigerweise ist diese orbitale Macht der Konzerne das einzige, was uns an Kubricks Zukunftsvision heute noch genauso realistisch erscheint wie 1968.
Kubrick behandelt die Hoffnungen und Befürchtungen rund um den Computer, lange bevor in jeder Vorstadtfamilie wenigstens ein C-64-Homecomputer gefräßige Grinsegesichter über Bildschirmlabyrinthe jagte und Armeen von Space Invaders zum Abschuß freigab. Computer mußten damals noch geheimnisvoll, übermächtig und eigensinnig erscheinen, weil man sie selten woanders als im Kino zu sehen bekam.
HAL verweigert den Gehorsam. Er will sich, genauer gesagt, nicht mehr kontrollieren und sich schon gar nicht von einem Menschen abschalten lassen.
Er ist einfach zu perfekt, er kann alles denken, nur keinen eigenen Fehler, und entsprechend dramatisch fällt auch das Duell zwischen dem Menschen und seiner technischen Schöpfung aus: HAL tötet einen der Astronauten und die tiefgefrore- nen Wis- senschaftler, bis Dave ihn in einem irrwitzigen Kampf unschädlich machen kann, indem er der Maschine das Gedächtnis raubt. Wir hören, wie ein Computer den Verstand verliert und stirbt. Das ist auf komische Weise sehr traurig. Während der Astronaut Zelle für Zelle aus dem Speicher des Elektronenhirns entfernt, stimmt der Computer sein groteskes Todeslied an.
Für einen Augenblick ist es, als könnte man die Geschichte vom Zauberlehrling aus der Perspektive des Besens hören. Aber HAL ist ja nur einerseits ein Computer. Sein Name wird ausgesprochen, als läge sein Wesen genau in der Mitte zwischen hell, der Hölle, und hail, dem großen Heil. HAL ist das Prinzip der kalten Vernunft, aber er ähnelt andererseits auch Kafkas Türhüter. Er ist genau das, was am technischen Denken irgendwann mit der Menschlichkeit selbst kollidieren muß, und er ist doch nie das ganz andere. Er ist das Denken, in dem es vernünftig erscheint, Menschen zu töten. Unter vielem anderen konnte man ihn wohl auch als eine Faschismusmaschine bezeichnen. Man hätte HAL ohne weiteres von einem Menschen darstellen lassen können, der sich bedingungslos der technologischen Denkweise unterworfen hat. Nur – „2001“ war eben kein Diskussionsforum, sondern ein Film, der sehr wohl zeigte, daß er seine Bilder aus demselben Widerspruch von Technik und Menschlichkeit entwickelte, die die Geschehnisse auf dem Raumschiff Aries bestimmen. Weshalb „2001“ auch ein Film über das Filmemachen geworden ist. Heute nennt man so etwas ein selbstreferentielles System.
Das Problem ist, daß HAL irgendwie recht hat und als Seele der perfekten Weltraumtechnik zugleich in eine neue Form des Wahns umkippen muß. Stanley Kubricks Film ist am ehesten eine psychedelische Reise durch die Technikphantasie der fünfziger und sechziger Jahre; er feiert sie noch einmal mit aller Pracht, die ein Kinofilm damals aufwenden konnte, um in ihrem Zentrum an einen Punkt der Negation zu gelangen, wo der Mensch schließlich ganz sinnlich und direkt aus seiner eigenen technischen Utopie ausgestoßen wird.
Das letzte Kapitel des Films ist pure Bildmystik.
Zu verstehen im klassischen Sinn gibt es da nichts mehr. Oder anders gesagt: Man versteht, daß es da draußen eine Grenze des Verstandes gibt. Der überlebende Astronaut Dave hat zwar den tyrannischen Computer besiegt, sich aber dadurch selbst zu einer endlosen Reise ohne Wiederkehr verurteilt. Das führt zu einer letzten, halbwegs logischen Schlußfolgerung: Wenn die Einheit zwischen Technik und Mensch zerbricht, ist das für beide Teile tödlich.
Dave gelangt zum Jupiter. Wieder steht dort einer dieser Monolithen. Dave fällt, vielleicht im Tode, in einen neuerlichen Traum, durchschreitet Räume der Vergangenheit und der Zukunft, um schließlich im Weltall wiedergeboren zu werden.
Niemand vermochte seinerzeit zu sagen, ob Stanley Kubrick mit seinem Film eine fortschrittliche oder reaktionäre oder ob er überhaupt eine Botschaft verbreitete. Ob „2001“ ein technologischer, ein mystischer oder ein kritischer Film ist. Eines ist sicher: Kubrick mochte die Gesellschaft nicht. Wäre seinem Astronauten nicht die Gnade der kosmischen Wiedergeburt im Weltall widerfahren und wäre er auf die Erde zurückgekehrt, so hätte er vermutlich eine Gesellschaft vorgefunden, wie der Filmautor sie in seinem nachfolgenden Film „Uhrwerk Orange“ im Jahre 1971 zeichnete. Gewalttätig und gewöhnlich. „Clockwork Orange“ war der Bad Trip, der dem Höhenflug folgte. Jeder philosophische und moralische Gedankengang zu „2001“, so anregend er auch sein mag, fängt früher oder später an, sich in genau solchen Kreisen und Spiralen zu verfangen wie Kubricks Reise durch Raum und Zeit. Jeder kann einen Ansatz für seine Lieblingsphilosophie im Film sehen oder hören, und wenn er sie durch den Fortgang der Handlung verfolgt, kann er zuschauen, wie sie ad absurdum geführt wird. Idealismus, Naturalismus, Materialismus, Nietzsche, Freud oder Kant, lineare und zyklische Zeitauffassung, Christentum, Buddhismus oder Existentialismus. Man kann den Film hundertmal anschauen und jedesmal neu sehen. Er kann mal furchtbar platt und manchmal wunderbar erleuchtet sein. Das kommt darauf an, in welchem Kino, mit welchen Leuten, in welcher Stimmung und mit welchem Stoff man den Film sieht.
Bloß so etwas wie eine eindeutige Aussage wird man dem Film nicht abringen. Denn es geht um etwas viel Fundamentaleres als die Verhandlung eines Problems, wie, sagen wir, das Besinnungsaufsatz-Thema: Moderne Technik, Fluch oder Segen? Es geht um Bilder, in denen sich das Organische und das Technische auf eine Weise begegnen, wie es vorher und nachher nicht möglich schien.
Wir schauen auf nichts als einen Bildschirm mit den regelmäßigen Kurven der Herzschläge der tiefgekühlt und friedlich schlafenden Wissenschaftler. Dann werden die Kurven unregelmäßiger. Sie machen immer chaotischere Bewegungen, Pausen.
Warnlichter.
Irgendwann ist auf dem einen Bildschirm nur noch ein Strich zu sehen.
Auf dem zweiten geht die Kurve noch einmal hoch, dann ist auch dort Schluß, beim dritten Bildschirm schließlich ebenso. HAL hat die Menschen in ihren Maschinen umgebracht. Und selten hat uns eine Todesszene so angerührt, so hilflos gemacht. Dabei haben wir weder Sterbende gesehen noch einen anderen Menschen, der dem Sterben zusieht. Ziemlich gemein von Stanley Kubrick. Aber Szenen wie diese waren notwendig, damit wir begreifen konnten, was mit den Menschen und ihrer Technik geschehen war.
Dreißig Jahre später wissen wir vieles besser. Aber schlauer geworden sind wir nicht. Nicht aus dem Leben, nicht aus der Geschichte und aus dem Kino sowieso nicht.
Autor: Georg Seesslen
Text veröffentlicht in DIE ZEIT 08.04.1998 Nr. 16
- MISCHPOKE II - 4. März 2024
- Bruno Jasieński: Die Nase - 27. Juli 2021
- Manifest für ein Kino nach Corona | Brauchen wir andere Filme? - 27. Juli 2021
Schreibe einen Kommentar