Zwei Filme um den göttlichen Marquis: „Sade“ von Benoît Jacquot und „Quills“ von Philip Kaufman

 

Es gibt Personen, Ereignisse und Texte, die uns aus der Vergangenheit immer wieder unbegreiflich nah ansehen. Zum Beispiel die Französische Revolution. Zum Beispiel der Marquis de Sade, in ihr, neben ihr, gegen sie. Er hinterließ Texte, die so frei und so manisch, so klar und so verrückt sind, dass sie fortwirken müssen als Stachel im Fleisch der sexuellen Ökonomie des Bürgertums. „Sades Verdienst“, schrieb Simone de Beauvoir, „ist es nicht nur, mit lauter Stimme verkündet zu haben, was jeder Mensch sich verschämt eingesteht, sondern auch, sich nicht damit abgefunden zu haben. Um gegen die Gleichgültigkeit anzukämpfen, hat er sich für die Grausamkeit entschieden.“ Doch wo sich die Grausamkeit mit der Gleichgültigkeit verbrüdert hat, wäre ein neuer Sade ebenso erlösend wie unvorstellbar. So müssen wir uns mit dem alten begnügen, den wir von Zeit zu Zeit gern wiedersehen. Zum Beispiel im Kino.

Marquis de Sade ist ein Aufklärer im Namen des Lebens

Am 27. März des Jahres 1794 fand Alphonse Donatien Marquis de Sade, einst Parteigänger der Revolution, später skeptischer Beobachter, Aufnahme in das „Hospital“ von Picpus. Vermutlich durch Fürsprache der loyalen Madame Quesnet, genannt „La Sensible“, entging er dort dem Tod auf der Guillotine. In diese vergleichsweise milde, gleichwohl gefährliche Gefangenschaft verlegt Benoît Jacquot die karge Handlung seines Filmes Sade. Er zeigt mit Daniel Auteuil einen eleganten, sarkastischen Sade, der schon äußerlich wenig mit dem zu dieser Zeit bereits auffällig korpulenten und asthmatischen Mann aufweist. Auteil, Glücksfall und Problem dieses Films zugleich, ist ein großartiger, aber alles andere als exzessiver Schauspieler. Er scheint jener „Don Quichotte der Autonomie“ zu sein, von dem Ludwig Marcuse spricht, und sein eigener Beobachter. Man glaubt ihm den sanften Intellektuellen, auch einen Verführer, der Inszenierung und Experiment liebt, aber keinen Menschen, der der Welt nur seine verzweifelte Lust entgegensetzt. Jacquot entwickelt aus einem Skandal eine sehr französische Geschichte vom Philosophen und vom Mädchen, dem er in gewisser Weise seine Freiheit übertragen will. Eine Abschiedsgeschichte.

Nur für einen Augenblick sind wir dem „Monster“ ganz nahe: Langsam öffnet, im bläulich-fauligen Licht eines verkommenen Gemäuers, Marquis de Sade die Augen, bis er uns direkt ansieht, bevor sein Blick wieder in eine innere Ferne weicht. Aus dem Off ertönt seine Stimme, die vom Mut der Vergangenheit, der Erregung der Gegenwart und der Angst der Zukunft spricht. Die Intensität dieser (kurzen) Einstellung wird uns nicht mehr verlassen, auch wenn der Film dann einen fast gemächlichen Erzählton annimmt, die Blicke des Marquis sich nun den Mitspielern in einem Drama zuwenden, das das Verhältnis von Gefangenschaft und Freiheit vor allem in Form rhetorischer Duelle behandelt. Während seine Gegner ebenso grausam, dumm wie lustfeindlich erscheinen, ist dieser Sade ein sarkastischer Aufklärer, der seine Grausamkeit allenfalls „taktisch“ einsetzt.

Dass er nichts glaube und nichts respektiere, werfen ihm die adeligen Mithäftlinge vor, die ihn vielleicht noch mehr hassen als ihre postrevolutionären Peiniger. Und Sade antwortet ihnen: Er respektiere das Leben. Wie strahlend wird der rebellische Unhold, wenn man in seiner Philosophie nur das Wort „Natur“ durch „das Leben“ ersetzt. Es ist der Blick des Todes, in dem Sade spielt. Und so sehr sie ihn am Anfang verachtet haben, so begreifen doch einige der Gefangenen das Spiel als letzte Hoffnung. Es hilft nur die Inszenierung, wo es keine Entscheidungen mehr gibt. Emilie – gespielt von der jungen Isild Le Besco – will leben, vor dem Tod, will die Lust kennen lernen, im Kopf und im Körper. Als die Überlebenden das Hospitalgefängnis am Ende verlassen können, ist sie in doppelter Hinsicht befreit. Und Sade exkulpiert.

In der entscheidenden Szene, der Inszenierung von Emilies Initiation/Defloration, wendet der Marquis sich von der Szene ab, die er selbst arrangierte, um sich schlagen zu lassen. Offensichtlich nicht der Steigerung der Lust, sondern einem Abschied dient diese Inszenierung der Gewalt. Sein „Es ist genug“ zieht einen Schlussstrich unter die körperliche Wirklichkeit seiner Revolte. Er hat sich die Lust eher austreiben als einpeitschen lassen; nach diesem Ritual ist Sade nur noch reiner Künstler, reiner Text.

Sechs Jahre zweifelhafter Freiheit; dann wird Sade bei seinem Verleger verhaftet (der ihn wahrscheinlich verraten hat, um sich zu retten). Am 27. April 1803 wird er von der Strafanstalt von Bicêtre in die Irrenanstalt von Charenton eingeliefert. Er erhält wiederum vergleichsweise angenehme Lebensbedingungen, besitzt eine Bibliothek und führt wieder Theaterstücke mit den Insassen auf. Die Freiheit kann und will ihm auch das neue napoleonische Regime nicht gewähren. In dieser Situation setzt Philip Kaufmans Film Quills ein, und der zeigt uns nun freilich einen anderen Sade, einen, der an eine Rückkehr in die Gesellschaft nicht mehr glaubt und der nur eines zum Erhalt seiner Würde kennt: Schreiben. Die schöne Wäscherin Madeline LeClerc (Kate Winslet) hilft ihm dabei, die Manuskripte hinter dem Rücken des Abbé de Coulmier (Joaquin Phoenix) nach draußen zu schmuggeln; so findet die Justine Verbreitung. Napoleon verlangt den Tod des Autors dieses infamen Werkes, aber einer seiner Berater weiß etwas Besseres. Der Arzt Doktor Royer-Collars (Michael Caine) soll sich um den Patienten kümmern: Seine Foltermethoden sind eine „Beruhigungsmaschine“, eine „eiserne Jungfrau“, Fesseln und Ketten. Sie sollen die Erfindung der Seele und den Anspruch der Freiheit rückgängig machen.

Wenn das so einfach wäre! Nun beginnt ein letzter tödlicher Kampf zwischen den drei Männern – und den Frauen, die ihnen so oder so verbunden sind. Sade muss schreiben, und während er schreibt, zerstört er alle Hoffnungen auf eine Versöhnung. Mit einem anzüglichen Theaterstück beleidigt Sade den Doktor, der sich aus dem Kloster die junge Waise Simone (Amelia Warner) zur Frau geholt hat und in seinem gewaltigen Haus als Gefangene hält. Aber nachdem ihr ein Exemplar der Justine in die Hände gefallen ist, treibt es sie zur Flucht aus dem goldenen Gefängnis – pikanterweise mit dem Architekten des Albtraumhauses. Der Doktor bekämpft in Sade also nicht nur einen unbotmäßigen Gefangenen, sondern alles, was ihn bedroht. Und schlimmer noch treibt es den Abbé, der Sade alle Möglichkeit nimmt, seine gefährlichen Worte niederzuschreiben. Als das Papier beschlagnahmt wird, beginnt der Marquis mit Wein und Blut auf Leinen zu schreiben, dann auf seiner eigenen Kleidung. Nackt und ohne jedes Schreibgerät bleibt ihm nichts anderes, als seine Erzählung mündlich über eine Staffette der Eingeschlossenen weiterzugeben zur Wäscherin, die sie dann niederschreibt. Die Revolte beendet einen vergleichsweise liberalen Vollzug; schließlich wird dem Marquis sogar die Zunge aus dem Mund geschnitten. Alle haben verloren – das Leben, die Idee, den Glauben, das Objekt der Begierde. Und dennoch spürt man, dass etwas gewonnen wurde. Nennen wir es Freiheit.

Eine Freiheit, die sich der skeptische Aristokrat bei Jacquot persönlich eroberte und wie ein kostbares Geschenk einer auserwählten Person weitergab. Eine Freiheit, die Kaufmans Marquis verspritzt wie Tinte, Gift und Blut. Eine Freiheit, die Jacquots Sade beständig reflektiert und begründet und die Kaufmans Sade nie „genießen“, nur leben kann. An seinen Texten werden in der Tat alle, die damit in Berührung kommen, „krank“, wie Georges Bataille meinte. So brechen die beiden Möglichkeiten dieser Gestalt in den beiden Filmen wieder auseinander, ja mehr noch vielleicht: Der eine ist die dialektische Negation des anderen.

Benoît Jacquot rettet den Menschen de Sade für sein Werk, Philip Kaufman opfert den Menschen für die Schrift, die die Lust der jungen Frau ebenso befreit wie den mörderischen Trieb des Kranken. Auch der Diskurs zwischen der Sadeschen Grausamkeit und der des terroristischen Staates unterscheidet sich. Jacquot geht gleichsam nur einmal wirklich zu weit, nämlich dort, wo er die Leichenberge unter den Guillotinen als Vorgriff des Holocaust inszeniert. Kaufman geht gleichsam immer zu weit, lässt aber stets mehrere Lesarten offen.

Jacquots Sade rettet sich als Künstler gegen die Gleichgültigkeit der Welt; der von Kaufman ist gar nicht zu verstehen ohne die Selbstzerstörung, mit der er seine Kunst zur Welt bringt. Wenn uns Jacquots Sade daran gemahnt, wie viel an aufklärerischem Werk noch unvollendet blieb, sitzt uns Kaufmans Sade im Nacken. Die überbordenden, wahrhaft verrückten Schlussvolten des Films lassen nur einen Schluss zu: Sade, gestorben für unsere Sünden, kann zum Schweigen nicht gebracht werden.

Die Filme sind zwei konträre Wiedererfindungen des göttlichen Marquis, in der Wahl der ästhetischen Mittel ihren Konzeptionen vollkommen angemessen. Ein Sade, der sich durch seine obszöne Kunst von der heuchlerischen und gleichgültigen Wirklichkeit unterscheidet, und einer, der die Grenzen zwischen Kunst und Leben einreißt. Einer, der den Text an die Stelle des Körpers setzt, und einer, der den Körper zum Text macht. Und doch bleibt Sade für das Kino ein ungelöstes, ein unlösbares Problem. Zwar sind diese Filme ebenso weit entfernt von der Reflexion in Brooks Peter-Weiss-Verfilmung wie von der Radikalität von Pasolinis Salò; und doch sind es zwei Filme, die sich nicht ohne Intelligenz mit einem Autor beschäftigen, von dem vielleicht André Breton das Wichtigste gesagt hat. Nämlich dass de Sade kein Narr ist.

Autor: Georg Seesslen

Text veröffentlicht in DIE ZEIT, 20.12.2000 Nr. 52