Geschichte als Trend-Thema und Wunde im deutschen Kino
I. Das deutsche Fragen
Auf die Frage „Was ist eigentlich ein deutscher Film?“ gibt es keine eindeutige Antwort. Man könnte eine von der Aufnahme beim Publikum her suchen (deutsch sind da gewisse Filmkomödien, von denen außerhalb Deutschlands nur schwer ausgemacht werden kann, was zum Teufel daran komisch sein soll) oder von den Produktionsbedingungen. Eine andere Antwort lässt sich von den daran beteiligten Menschen und seinem Ort herleiten (deutsch ist ein Film, der von Deutschen in Deutschland gedreht wird), von der Stellung in einer Bilder-Geschichte, von der Herkunft des eingesetzten Kapitals und der eingesetzten gesellschaftlichen Fördermittel, von der Ästhetik oder von den Sujets her und vielem mehr. Hinreichend wird dies (glücklicherweise) nie sein, und in einer Reihe von Diskursen zum Film ist die Frage nach seiner Nationalität entweder irrelevant oder ohnehin unbeantwortbar. Dass ein Film überhaupt in einem nationalen Diskurs gesehen wird, bildet im übrigen eine Kategorie, die paradoxerweise sich politisch an dem Umstand schärft dass sie ökonomisch und kulturell an Bedeutung eher verliert. „Deutsch“ zu sein, mag für verschiedene Filme unterschiedliche Zugänge zum Markt und zum Publikum bedeuten. Ansonsten enthält eine solche Identifizierung reichlich Material für Missverständnisse.
Möglicherweise könnte man die Frage „Was ist ein deutscher Film?“ indes für einmal auch im Modell der Erkenntnistheorie, also in den Elementen des Fragens (in Anlehnung an Heidegger) beantworten. Denn ebenso wie nach seiner Schönheit oder seiner Wahrheit zu suchen kann man von einem Film auch wissen wollen, welche Fragen er an welche Dinge und Menschen stellt. Ein Film ist in diesem Modell dann „deutsch“, wenn Nationalität, „Milieu“ oder Problem als „deutsche“ aufscheinen in den Elementen:
Der Frager (er oder sie muss kompetent, autorisiert und interessiert sein); das Gefragte (es muss ein Wissen um das Ziel der Frage geben), das Erfragte (es muss eine Antwort möglich sein, und zwar im System, in dem sich auch das Gefragte bewegt, auch wenn man nicht erwarten muss, dass diese Antwort in der Form eines „Statements“ gegeben wird), das Befragte (ein Gegenüber, wie verstrickt man auch biographisch oder moralisch darin sein mag, in dem, zum Beispiel, zwischen dem Dokumentarischen und dem Fiktiven unterschieden werden kann, muss zu erkennen sein: nicht alles und nicht Nichts kann befragt werden). Es kann also, so sieht es aus, keinen so deutschen Film geben als einen, in dem ein deutscher Filmemacher seine Fragen an die deutsche Wirklichkeit als Geschichte und Gegenwart stellt, als deren Teil er sich mehr oder weniger empfinden muss, und dies in einer Art, die sich weder als allgemeine Metapher an die Welt wendet, noch sich dazu einer nicht-deutschen Codierung (wie, sagen wir, des Hollywood-Films) bedient, sondern sich auch in der ikonographischen Kontinuität seines Gegenstandes bewegt: Vergangenheit und Gegenwart in den Bildern sind nicht nur als „Darstellung“ sondern auch durch (individuelle und kollektive) Erinnerung verbunden. Um ein Wort von Yello Biafra zu variieren: Deutsch ist da, wo der Schmerz am größten ist.
II. Identität und Suche
„Alles Fragen ist Suchen“, sagt Heidegger, und Rainer Werner Fassbinder hat einst zum Programm erhoben: „Wir wollen uns mit den Bildern unseres Landes befassen“. Nimmt man beides zusammen, so ergäbe sich das Modell einer Suche in den Bildern als Aufgabe für den deutschen Film in seiner Geschichte. Je genauer man sich diesen Diskurs ansieht, desto deutlicher wird, wie er voller Tücken und Abwegen steckt. Denn danach sollte ein „deutscher Film“ ausgerechnet mit dem „Identifikation“ stiften (und sei es die Identifikation für einen gesellschaftlich kontrollierten Produktionsapparat), was sein größtes Problem, seine größte Wunde ist. Der Film soll „deutsch“ werden, indem er seinen Blick auf die blinden Flecken der deutschen Geschichte richtet. Um den Widerspruch auf die Spitze zu treiben: Je deutscher ein Film (im Sinne unseres Modells) ist, desto weniger kann er dem deutschen Mainstream gefallen, der sich nicht radikale Befragung sondern allenfalls liberale Auflösung gefallen lassen kann. Vielleicht erklärt das ein wenig, warum es in der deutschen Cinematographie nach der Jahrtausendwende die Sehnsucht nach der visuellen Wiedergewinnung der Geschichte gibt, zugleich aber auch eine Ablehnung radikaler Suchbewegung und ein gesteigertes Misstrauen gegen diese Sujets, und warum wir in dieser Hinsicht nicht umhin können, neben einem Diskurs der Suche auch einen der strukturellen Lüge zu beschreiben. Die beiden „Aufgaben“ des historischen Film-Plots, Identifikation und Aufdeckung, lassen sich nur unter erheblichem ästhetischen und intellektuellen Einsatz verknüpfen. Andrerseits sind längst die Strategien der siebziger Jahre, Verklärung auf der einen, die Behauptung eines radikalen Bruchs auf der anderen ebenso obsolet geworden. Der deutsche Film musste das Geschichtliche an der Wirklichkeit nicht nur wieder- sondern auch neu erkennen.
III. Das Kino der Erinnerung
In der Identifikation des Befragten spielt neben der Alltagswirklichkeit an den unterschiedlichen Brennpunkten (die kleinbürgerliche Familie, der katastrophische Umverteilung im Neoliberalismus der letzten Jahrzehnte, die Spannungen migrantischer Lebensbedingungen etc.) der Bezug auf eine nationale Geschichte die größte Rolle.
Während sich ein allfällige Vorgang der Enthistorisierung von Bewusstsein und Wahrnehmung abzeichnet, in der populären Kultur paradoxerweise aufgehoben in einer Flut von History-Bildern und gefälliger Aufbereitung historischer Quellen in Fernseh-Features, fokussierte sich im deutschen Film in den letzten Jahren das Interesse der Frage erneut auf die Zeit von Nationalsozialismus und Krieg. Das neue Interesse an einem Kino, in dem gesellschaftliche und historische Probleme verhandelt werden, entstand nicht zuletzt aus dem offensichtlichen Versagen der anderen visuellen Medien; nur im Kino, so scheint es, kann für die visuelle Geschichtsschreibung und für die Anordnung der oral history ein Subjekt erkannt werden, dem noch moralische Kompetenz zugestanden werden kann.
Dieses deutsche Kino der Erinnerung muss sich schon im Einsatz der Mittel konsequent unterscheiden vom ewig fließenden Bilderangebot des Fernsehens, das vor allem dadurch gekennzeichnet scheint, dass die Antworten schon in den Fragen impliziert sind: Eher als einem Vorgang von Fragen im Sinne von Erkenntnis und Kritik wäre hier von einem Ritual zu sprechen, durch das bestimmte Bilder, an denen das Publikum ein so offenkundiges Interesse hat, und deren es ebenso offensichtlich nicht so schnell überdrüssig wird, gedeckt werden, indem Montage und Kommentar sich als „Information“ maskieren. Die blinden Flecken sind hier zum sorgfältig gehüteten Heiligtum geworden, und der deutsche Mainstream verstärkt sich in dieser Bilder-Geschichte-Maschine gegen alle Zumutungen der Erkenntnis.
Die Frage ist also, unter anderem, ob das Kino der Erinnerung aus dem letzten Jahrzehnt nicht nur einer moralischen und ästhetischen Prüfung standhalten, sondern ob es überhaupt im Sinne von Erkenntnis funktionieren kann. Ich will meine diesbezügliche Skepsis nicht verhehlen.
IV. Geschichte und Heimat
Der Diskurs von Geschichte und Film in der Bundesrepublik und unter anderen Bedingungen und doch „verwandt“ in der DDR weist vor allem eine Kontinuität der Krise auf. Bis in die 1980er Jahre scheinen es vor allem Gesten der Distanzierung zu sein, die am ehesten den Gestus der Frage beherrscht. Die Protagonisten werden, von Schlüsselarbeiten wie Wolfgang Staudtes DER UNTERTAN (1951) oder Theodor Kotullas AUS EINEM DEUTSCHEN LEBEN (1976) bis zu Genrefilmen als Untersuchungsobjekte gesehen, zwischen klinischem Experiment und Gerichtsverhandlung, was vollständig fehlt, sind Bilder für die biographische Verstrickung der filmischen Sujets.
Zu einem Werk der Befreiung und einem Bezugspunkt für viele weitere Arbeiten wurden die Film-Serien von Edgar Reitz, denen er stolz und schamlos den Titel HEIMAT gab und deren erste die Zeit von Nationalsozialismus, Krieg und Wirtschaftswunder behandelte, die zweite den Aufbruch der neuen Generation in der Nachkriegszeit, die dritte die Geschichte der Wiedervereinigung. Arbeiten wie Jo Baiers DER LADEN folgten auf eigene Weise dieser Spur. Freilich entwickelte sich aus dieser Ästhetik einer Verknüpfung von Geschichte und Biographie auch eine zweite Linie, die eine fatale „Versöhnung“ anbot, und an deren Ende das perfekte Amalgam von Geschichts-Illustration und Soap Opera stand.
Die Biographisierung führte zu einer Intimisierung des Historischen in Plots, die so sehr den Identifikationsstrategien und narrativen Auflösungen des Mainstream-Kinos folgten, dass man insbesondere in Bezug auf die Geschichte des Faschismus und des Krieges gelegentlich den Eindruck gewinnen musste, Geschichte verhalte sich zum Familiären wie ein böses Außen zu einem guten Innen. Mit solchen Strategien erreichte das Kino der Erinnerung zwar gelegentlich den Mainstream, es bezahlte aber einen hohen Preis in der formalen wie inhaltlichen Einladung an die Mitte, die Prozesse von Fragen und Suchen nicht über einen Konsens hinauszutreiben. Aus der Verknüpfung von Biografie und Geschichte wurden dabei allzu oft Prozesse der Privatisierung; in Filmen wie Max Färberböcks AIMEE UND JAGUAR (1998), GLOOMY SUNDAY- EIN LIED VON LIEBE UND TOD (1990, Regie: Rolf Schübel) oder Caroline Links IRGENDWO IN AFRIKA (2001, Regie: Caroline Link) drohte das Element des Melodramatischen die historische Rekonstruktion selbst zu infizieren. Das gute wie das böse wird so zu seinem filmischen Selbstausdruck gezwungen, dass Geschichte nicht mehr als Verstrickung, sondern als Bühne des Biographischen erscheint. Es steckt ja die Sehnsucht nach Heimat schon so sehr in der Fragestellung. Noch in die kritischen Versuche musste sich da eine Art Nostalgie einschleichen, die Sehnsucht nach einer Zeit, die der Faschismus gleichsam okkupiert hatte. Eine Ikonographie der zerrissenen Idylle war schon vorhanden: Wie schön wäre die Welt in Geissendörfers GUDRUN (1991) oder in Vilsmaiers HERBSTMILCH (1988) etwa, wenn nur nicht diese Faschisten gewesen wären! Und kein Wort, kein Bild davon, dass in der Beschwörung dieser okkupierten deutschen Schönheit schon wieder selber etwas von den Welt- und Menschenbildern der Faschisten aufscheint: Die Sehnsucht nach einem alten Glück in Deutschland in Form des neuen Kitsches.
In den Jahren um 2000 schien der deutsche Film, zumindest ein wenig erschrocken vor dem neu entstandenen Historienkitsch, nach Möglichkeiten des genaueren Blicks zu suchen. Eine Lösung schien in einer Art von Reduzierung und regionaler Genauigkeit wie in VIEHJUD LEVI (1998 – Regie: Didi Danquart). Selbst kargere morality plays wie ROSENSTRASSE (2003) von Margarete von Trotta oder DER NEUNTE TAG (2004) von Volker Schloendorf verlieren über der menschlichen Zeichnung ihrer Protagonisten den historischen Zusammenhang. Beide Filme genehmigen sich gegenüber ihrem historischen Material überdies an offensichtlich entscheidenden Stellen eine Erfindung bzw. „Fälschung“: ROSENSTRASSE lässt im Kampf „arischer“ Frauen um ihre inhaftierten jüdischen Männer eine Form von Happy Ending zu, das es so nicht gab, und DER NEUNTE TAG macht aus seinem Helden, dem luxemburgischen Priester, einen Mann, der sich bewusst für das Opfer und das KZ und gegen die auch nur punktuelle Zusammenarbeit mit den Nazis entschied, was man seinem realen Vorbild beim besten Willen nicht zubilligen kann. Es gab darüber hinaus eine Reihe von deutschen Beteiligungen an europäischen Filmen wie Marcelin Loridan-Ivens‘ autobiografischem Film LA PETITE PRAIRIE AUX BOULEAUX/ BIRKENAU UND ROSENFELD (2002) zwischen Dokumentation und Fiktion oder bei Roman Polanskis DER PIANIST (2002), die mehr oder weniger (und anders als Steven Spielbergs Intervention mit SCHINDLER’S LIST) in den Diskurs des deutschen Kinos der Erinnerung integriert wurden. Anders als in den Filmen der Kohl-Ära lässt sich in den Filmen zur Zeit des Faschismus nun eine Art der internen Kommunikation sehen. Es entstand gleichsam eine Art Genre, dessen Möglichkeiten von der Glamour-Nostalgie in den Filmen von Joseph Vilsmaier bis zum neuerlich „vermenschlichten“ Hitler in DER UNTERGANG (2004, Regie: Oliver Hirschbiegel) reichen.
Immer wieder auch fällt der deutsche Erinnerungsfilm so gern auf den Glamour der Nazis und der Ufa-Inszenierungen im besonderen herein. So fügt Margarete von Trotta in ROSENSTRASSE eine Szene bei einer Filmpremiere ein, bei der die Helden (Katja Riemann) vergeblich versucht, Josef Goebbels zu erweichen. Solche Zugeständnisse an den vermeintlichen Publikumsgeschmack (wenn es nicht gar Zugeständnisse an die eigene Phantasie sind) heben letzten Endes auch den Impuls einer Erinnerungsarbeit auf, die nicht mehr nur Kino der Anklage sein kann und will. In Filmen wie MARLENE (2000, Regie: Joseph Vilsmaier) verwandelt sich Geschichte endgültig in eine Feelgood-Soap Opera (und auch hier werden einige Sequenzen wider besseres historisches Wissen als fragwürdiges Versöhnungsangebot eingebaut, so etwa die Szene in der Marlene Dietrich (Katja Flint) zum sterbenden deutschen Soldaten eilt. Als Genre wird die deutsche Geschichte in doppeltem Sinne im Kino aufgehoben: In einer Ikonographie, in der das biographische Innen gerettet und das historische Außen verdammt wird, und in einer Narration von Identifikation, Opfer und Erlösung, die eine biographische Heilung an die Stelle der biographischen Verstrickung setzt. Auch der neue deutsche Kriegsfilm, der auf Action und Schauwerte nicht verzichten will, von Josef Vilsmaiers STALINGRAD (1992) über Jean-Jacques Annauds Millionen-Produktion DUELL – ENEMY AT THE GATES (2001) bis zum Remake der TV-Serie in Hardy Martins SOWEIT DIE FÜSSE TRAGEN (2001) trug gewiss nichts zu neuen Möglichkeiten des Diskurses Film-Geschichte bei. BABJI JAR (2002, Regie: Jeff Kanew) rekonstruiert mit traditionellen Spielfilm-Mitteln den Massenmord der Deutschen an ukrainischen Juden in der Schlucht von Babij Jar und gerät dabei, wie es der Kritiker Fritz Göttler ausdrückt, ins „Dilemma der Erinnerungsarbeit“ zwischen dem historischen Geschehen und der klassischen Dramaturgie. Der Schrecken der Geschichte löst sich in solchen Dramaturgien und wird zur Wahrnehmungsstrategie des „Horror“.
An anderem Ort beginnt ein schwelgerisches Träumen wie in NIRGENDWO IN AFRIKA. Immer wieder wird die Perspektive der Kinder gewählt, als die eines „unschuldigen“ Stellvertreter-Fragens, in denen sich Nostalgie und Distanz gleichsam natürlich begegnen. Immer wieder auch geht es darum, Geschichte zu befragen, ohne Heimat zu verlieren. Nimmt man das „Genre“ als ganzes, so kann man sich des Verdachtes nicht ganz erwehren, eine Erzähl- und Bildermaschine würde da nach dem Punkt suchen, an dem „nationale Versöhnung“ (Versöhnung der Frager mit dem Befragten) und „Erinnerungskultur“ zur Deckung gebracht werden könnten. Dieser Punkt wurde am Ende im Genre, trotz erheblichem Einsatz von Mitteln, nicht gefunden, womöglich, weil es ihn nicht gibt.
V. Das verlorene Subjekt
Die große Persönlichkeit als Subjekt der Geschichte musste aus dem deutschen Film seit den sechziger Jahren weitgehend vertrieben werden. Noch im Widerstand von GEORG ELSER, dem Klaus Maria Brandauer im Film einen Ort der Erinnerung schaffen wollte, bleibt das Subjekt verschwommen, und zur gleichen Zeit steht der deutsche Film den Nicht-Personen-wie in Bernhard Wickis DAS SPINNENNETZ (1989), der die Geschichte des unscheinbaren Jurastudent Lohse vom Opfer der Geschichte über den Opportunismus zum Täter nachzeichnet – fast ratlos gegenüber.
Aber dennoch versucht der deutsche Film seit den achtziger Jahren Formeln zur Wiedergewinnung der Person in der Geschichte, wie es in ROSA LUXEMBURG (1985) Margareta von Trotta unternahm. Die Sehnsucht danach, irgend Objekte für cineastische Liebes- oder wenigstens Sympathieerklärungen zu finden, schien überdeutlich. Mehr diskursiv wird Rosa von Praunheim in seiner Schilderung von Magnus Hirschfeld in DER EINSTEIN DES SEX (1999). Immerhin beginnt hier eine vordem kaum vorstellbare neue Suchbewegung für die Generationen nach dem großen historischen Bruch, die Frage nach positiven Bildern in der deutschen Geschichte, die man weder in den „großen Deutschen“ vordem finden konnte (mussten sie nicht alle irgendwie Vorläufer oder Wiedergänger Hitlers sein?), noch in den Protagonisten des Widerstands.
Aber ist dieses Subjekt in der Geschichte nicht eine neuerliche Illusion? Axel Engstfeld blickt in seinem Film AUTOMAT KALASHNIKOV (2000) durch das Portrait des Erfinders der automatischen Waffe hindurch auf das, was seine Erfindung in der Welt angerichtet hat (und das beides so wenig miteinander zu tun hat, entbehrt nicht der furchtbaren Groteske). Es kommt in Filmen offensichtlich darauf an, aus den Spannungen zwischen verschiedenen „Einstellungen“ auf das historische Material Funken zu schlagen. Die Einheit von Subjekt und Welt, von story und history scheint demgegenüber einem antiquierten Kino anzugehören, das freilich dem Bedürfnis nach Aneignung der Geschichte durch die Intimisierung entspricht. Der Prozess der Vermenschlichung der Geschichte kulminierte schließlich in Filmen wie DER UNTERGANG, der sich für die menschliche Seite im Führer und seiner Entourage interessiert, und in diesem Diskurs wird (zu Recht oder nicht) auch NAPOLA (2005, Regie: Dennis Gansel) als nächste große Produktion des deutschen Erinnerungskinos erwartet.
VI. Anderer Blick, Zusammenbruch
Die Kohl-Ära, sagt man, habe das deutsche Kino mit Beziehungskomödien aus dem neuen Mittelstand ausgesessen, und wenn es aufrecht dissidente Bilder gab, dann stammten sie zumeist aus den Filmen der Regisseurinnen und Regisseure aus der dritten Generation der Migration, denen Fatih Akin gewiss zu Recht „einen anderen Blick“ zuordnete. Deutschland war vielen deutschen Filmemachern in den neunziger Jahren eine selbstverständliche Unerträglichkeit geworden, und darin gab es für die Kameraleute kaum noch ein Bild, das es lohnte, aufgenommen zu werden. Der migrantische Blick hingegen musste schon aus Gründen des Überlebens diese visuelle Lähmung stören. Natürlich ist dies wie alle Verallgemeinerungen höchstens eine halbe Wahrheit. In der Tat entstanden in dieser Zeit eine ganze Reihe von Filmen in beiden deutschen Cinematografien, die einen analytischen Blick zurück warfen, um moralische Konflikte darzustellen, die sich längst nicht erledigt hatten. Aber die Fragen richteten sich in der Tat eher an die sexuelle Ökonomie und ihre moralischen Ableitungen als an das Bildmaterial der deutschen Geschichte; das Biographische schien nachgerade (bis in die Kameraführung hinein) vom Historischen abgekoppelt. Und an Fassbinder wagte sich niemand anzuknüpfen.
Im Kino der Migration dagegen musste ganz im Gegensatz dazu Biographie und Geschichte ganz direkt nur ineinander zu erfahren. Dabei entstand nicht nur ein Kino der Anklage und der Fremdheit; erst das Kino der Migration machte „Deutschland“ wieder als ein in Zeit und Raum offenes System erkennbar, und erst aus dieser Perspektive der historisch bedingten Reise ließ sich Geschichte wieder erfahrbar machen. Mittlerweile thematisiert dieses Kino schon die Ablagerungen und falschen Bewegungen als Nachklang der ursprünglichen migrantischen Bewegungen. Es ist die Geschichte der „Gastarbeiter“ in Deutschland, in einer Reise in der eigenen Familiengeschichte wie in Fatih Akins WIR HABEN VERGESSEN, ZURÜCKZUKEHREN (2000), die Geschichte der Migration, wie in seinem SOLINO (2002), der die Geschichte einer italienischen Familie von der Einwanderung im Jahr 1964 bis zu einer Reise in die alte Heimat im Jahr 1984, oder die Geschichte der „namibischen DDR-Kinder“ in OMULAULE HEIST SCHWARZ (2003, Regie: Beatrice Möller, Nicola Hens, Susanne Radelhof), 430 Kinder fanden seit 1979 hier eine neue Heimat, die sie nach dem Zusammenbruch der DDR und der Selbstständigkeit ihres „Heimatlandes“ wieder verlassen müssen, um in einer ihnen nun fremd gewordenen Gesellschaft neu zu beginnen, was darauf hinweist, wie wenig eine historische Bewegung irgendwo „zu Ende“ sein kann.
Mit dem Zusammenbruch der DDR begegneten sich sehr plötzlich Geschichte und Alltag noch einmal in einem zweiten Feld. Filme, die den Mauerfall und die Wiedervereinigung beschrieben, erschienen in der Regel (und vor allem in ihrer erfolgreichsten Form) als Grotesken. Wie HERR LEHMANN (2003, Regie: Leander Haussmann), SONNENALLEE, GOODBYE LENIN (2003, Regie: Wolfgang Becker ), HELDEN WIE WIR (1999, Regie: Sebastian Petersen). Selbst in der dritten HEIMAT-Serie von Edgar Reitz erscheinen dabei die Protagonisten aus der Ex-DDR immer als Menschen, die sich mehr oder weniger erfolgreich unter der Wucht der Geschichte hinwegducken. Die Fragen gehen daher ins Leere: Als Antwort auf die Obszönität der Geschichte rettet sich, wer kann. Aber wie es in der zweiten deutschen Kinematografie, die sich weder um Genre-Regeln noch um „breite“ Akzeptanz kümmert, immer auch andere Bilder zum Faschismus gegeben hat, so gab es aus dem künstlerischen Untergrund auch zur Wiedervereinigung andere Bilder, die naturgemäß vom Mainstream nur als „geschmacklos“ empfunden werden konnten, wie in DAS DEUTSCHE KETTENSÄGENMASSAKER (1991), in dem Christoph Schlingensief die Wiedervereinigung als kannibalischen Akt zeichnete. Andere Filme wie NEBEN DER ZEIT (1995) von Andreas Kleinert stellen sich der Tristesse der Situation als existentielle Metapher der Fremdheit und der Leere oder HALBE TREPPE (2002) von Andreas Dresen beobachteten Menschen, die es nicht so einfach haben, auf die historische Krise einfach mit einem Umbau ihres Alltagslebens zu reagieren.
VII. Rückkehr zu bleiernen Zeiten
Während die „Filme über die Nazi-Zeit“ zumindest einen erheblichen Grad an öffentlicher Sichtbarkeit erzielen, und die Filme über Geschichte und Vorgeschichte der deutschen „Wiedervereinigung“ sogar marktgängig werden, scheinen die vereinzelten Versuche, andere Bereiche der deutschen Geschichte zu befragen, eher marginal. Dennoch gibt es auch hier noch einige Brennpunkte, und der bedeutendste ist ein weiterer „blinder Fleck“ in der deutschen Geschichte, der Terrorismus der RAF in den siebziger Jahren und sein Nachklang.
Volker Schloendorfs DIE STILLE NACH DEM SCHUSS (2000), verknüpft den Nachhall des bundesdeutschen Terrorismus mit der Geschichte der verfallenden DDR. Der vielleicht genaueste und offenste Film über den Nachklang des Terrorismus, Christian Petzolds DIE INNERE SICHERHEIT (2000), schaffte es als einer der ganz wenigen, nicht nur ein anderes Bild sondern auch einen anderen Blick vorzuschlagen und die biographische Verstrickung auch in diesen Bereich der deutschen Geschichte einzuarbeiten ohne den Ausweg von Metapher oder Intimisierung zu wählen. Die Schnittstelle zwischen Geschichte und Biographie, die das deutsche Kino bis in die neunziger Jahre hinein nur als Bruch inszenieren konnte, wird nun als geflochtenes Band gesehen, noch in der Geschichte einer politischen Gruppe zu Beginn der 1980er Jahre in SIE HABEN KNUT (2003) von Stefan Krohmer ist die Frage an die Geschichte zugleich eine an die Gegenwart. In die „Bleierne Zeit“ dieser Jahre führen auch Filme wie LIEGEN LERNEN (2003, Regie: Hendrik Handloegten) ganz offensichtlich auf der Suche nach einem Bezugspunkt für die neue Generation. Was Christian Petzold die „Geschichtsstille“ nennt („herausgefallen aus der Geschichte“ sind die Terroristen) umgibt so viele Elemente und Figuren der deutschen Geschichte; selbst da, wo manchmal Lärm statt Stille zu herrschen scheint. Eine neue Zeit-Struktur macht diesen neuen und genauen Blick möglich; Geschichte ist nicht, was man hinter sich gelassen hat, sondern ein work in progress, das sich durch jede Einstellung verändert. Entsprechend offen müssen auch die Arbeitsprozesse selber sein. Andres Veiels BLACK BOX BRD (2000) beschäftigte sich mit dem schrecklichen Nachklang der RAF in den achtziger Jahren; sein Film VESPER ENSSLIN BAADER soll sich mit dem Beginn in den 1960er Jahren beschäftigen.
Freilich, wie man die blinden Flecken befragen kann, so auch die Bereiche des scheinbar Offensichtlichen. Reisen in die Kultur- und Alltagsgeschichte bilden einen weiteren Strang des Diskurses von Film und Geschichte. Neben die biografische Verstrickung tritt dabei die Suche nach einer magischen Perspektive. Eine Kindheit in den fünfziger Jahren schildert Jörg Grünler in DER ZEHNTE SOMMER (2003), eine in den Sechzigern ANNA WUNDER (2000, Regie: Ulla Wagner). Auch die Dokumentation DER BOXPRINZ (2000, Regie: Gerd Kroske) führt durch den Portraitierten, den Boxer Norbert Gruppe, der sich im Ring Prinz von Homburg nannte, in die Zeit, der man sich offensichtlich nicht in einer so direkten Weise nähern kann. Interessanterweise wird der Fußball zu einem Einstieg, als wäre dieser Sport und seine Begleiterscheinungen nicht nur die angemessene Metapher sondern auch das Leitfossil der Zeit- und Sozialgeschichte. DAS WUNDER VON BERN (2003, Regie: Sönke Wortmann) ließ uns in die unmittelbare Nachkriegszeit und die fünfziger Jahre zurückkehren, eine Art Gründungsmythos schien da nachgeholt. AUS DER TIEFE DES RAUMS (2004, Regie: Gil Mehmert) führt in die 1960er Jahre und in ein Rollenmodell des selbstbewussten „Rebellen am Ball“, der sich nicht mehr in das Muster der Über-Anpassung pressen lässt (in einer Fantasy-Geschichte um eine zum Leben erweckte Tipp-Kick-Figur).
Das Kind, der Sportler und Künstler scheinen aus der Geschichte genügend distanziert, um einen anderen Blick zu garantieren. Auch der Kriminelle scheint diese Außen-Position zu repräsentieren. Gelegentlich wird, wie in SASS (2001, Regie: Carlo Rola) Zeitkolorit durchaus frivol benutzt. Nicht der panoramatische und nicht der analytische, sondern eher der sympathetische und einfühlende (man könnte beinahe sagen: der heilende Blick steht im Vordergrund. Auch eine Geschichte der sexuellen Katastrophen ließe sich von der Neuauflage von DAS MÄDCHEN ROSEMARIE (1995) zu EIN LEBEN KURZE HOSEN TRAGEN (2002, Regie: Kai S. Pieck) schreiben, der nicht nur die Psyche des Kindermörders Bartsch, sondern auch das Leben und die Defizite in den 1960er Jahren beschreibt.
Das (auch biografisch) langsame Medium Film kann selbst die Rebellion immer nur aus der Erinnerung (an ihr Scheitern) zur Geschichte erklären, wie Musik und Szene der „Neuen Deutschen Welle“ in Benjamin Quabecks VERSCHWENDE DEINE JUGEND (2003). In die achtziger Jahre führen aber auch Filme wie Hans-Christian Schmids 23, selbst die Punk-Rebellion ist Geschichte, und Filme wie WAS TUN, WENN’S BRENNT (2001, Regie: Gregor Schnitzler) führen in die rebellische Vergangenheit der längst Etablierten.
Die Lehre ist wohl, dass Geschichte gerade dann am ehesten verfehlt wird, in der Präsentationsform des Filmischen, wenn man auf ihre Zentren, dorthin, wo sich die Macht buchstäblich ballen und inszenieren mag. Von Peripherien her dagegen nähern sich ihr etwa die Filme von Kerstin Stutterheim und Niels Bolbrinker: BAUHAUE – EIN MYTHOD DER MODERNE (1998) zeigt die Beziehungen zwischen dem Bauhaus und der Flugzeugindustrie, IT DON’T MEAN A THING, I ITH AIN’T GOT THAT SWING (1999) beschäftigt sich mit der Musik und schließlich in DIE THURANOS (2003) anhand Vater/Sohn Artistengespann die durch die Geschichte getrieben werden. Dem Prinzip der oral history folgen Filme wie SIEBEN BRÜDER (2003 – Regie: Sebastian Winkels). Geschichte im Film ist eine Gegen-Geschichte, und die erste Voraussetzung für Wahrhaftiges Fragen ist das Finden einer Erzählposition zwischen Distanz und Verstrickung.
VIII. Zwischen Dokument und Fiktion
Ganz direkt natürlich können vor allem Dokumentarfilme in den klassischen Formen die Aufgabe der Frage annehmen, und es bleibt eine Recherche nach den Wurzeln wie in VERLORENE SÖHNE – LOST SONS (1999) des schwedischen Regisseur Fredrik von Krusenstjerna, der die Lebensgeschichte des aus der DDR stammenden Ingo Hasselbach, seine neo-nazistischen Aktivitäten und seinen Abschied von der rechtsextremen Szene nachzeichnet und verlängert zu Hasselbachs Vater Hans Canjé, der als Kommunist in Köln verhaftet wurde und 1965 in die DDR emigrierte. Der Film stellt die These auf, die Biografien von Vater und Sohn verhielten sich gleichsam spiegelverkehrt zueinander, aber mehr noch sieht man wohl zwei Menschen (die dann doch nicht zueinander finden können) bei der Selbstrechtfertigung, beim Lügen womöglich zu. Hier aber scheint bereits das Prinzip der biografischen Verstrickung wieder überdreht, gar als eine Form einer metaphysischen Verschwörung des Biografischen in der Geschichte.
In VON WERRA (2002) folgt Werner Schweizer der Lebensgeschichte des Jagdpiloten (dem gebürtigen Schweizer), der in den deutschen Nazi-Medien als Held gefeiert wurde und zum Kino-Protagonisten in der bundesrepublikanischen Kriegsfilmen der fünfziger Jahre wurde, als Hardy Krüger ihn in der englischen Produktion THE ONE THAT GOT AWAY / EINER KAM DURCH (1957) darstellte. Krüger wird selber zum Führer durch diese Biografie zwischen Wirklichkeit und Fiktion: Ein opakes Erzählen der Geschichte, die immer ihre eigene Fiktionalisierung und ihre Verortung in den Biografien reflektieren muss. Auch in Thomas Heises Dokumentarfilm über den Ort Straguth, VATERLAND (2002) überlagern sich die Zeitebenen der deutschen Geschichte, eine in Briefen vermittelte Erinnerung an die Nazi-Vergangenheit, wo der Vater des Regisseurs im Lager gefangen war, dann die Beziehungen zur Zeit der russischen Militär das Bild beherrschte und schließlich eine Gegenwart (mit einer Kneipe als Zentrum der Welt), in der, ganz buchstäblich, eine Welt verschwindet, in der Architekturen von Natur überwachsen werden und Menschen keine Zukunft mehr sehen können.
Es ist der Versuch, die Geschichte von heute aus zu erzählen, die Geschichte nicht als vorhandenen Schatz sondern als aufbrechende Wunden zu begreifen, so auch in EPSTEINS NACHT (2001) von Urs Egger, wo drei Männer glauben, den Mann wieder erkannt zu haben, der sie im KZ peinigte. Verhandelt wird hier, in die fiktive Wiederbegegnung von Tätern und Opfern gespiegelt, der Umgang mit der Geschichte, die nicht zu Ende sein kann, wie man es sich im Mainstream immer gern wünschen mag. Eine Form des filmischen Überlagerns bietet auch Jürgen Böttchers KONZERT IM FREIEN (2001), in dem das eigene DDR-Material aus den 1980er Jahren (es entstand während der Errichtung des Marx-Engels-Forums in Berlin) einer Revision unterzogen wird. Dagegen geschnitten werden Aufnahmen eines Free-Jazz-Konzerts.
Paradoxerweise ist kein Ereignis so schnell (Kino-)Geschichte geworden wie das Ereignis mit dem längst magischen Namen „11/9″. Max Färberböck will in SEPTEMBER (2003) zeigen, wie es das Leben deutscher Bürger veränderte, und FREMDE FREUNDE (2003, Regie: Elmar Fischer) reflektiert die Schwierigkeit der Begegnungen, nachdem man im anderen den Terroristen vermuten muss. Beschleunigung und Dehnung, die Fülle der Ereignisse und die Zähigkeit der Verhältnisse stehen als direkte Erfahrungen der Geschichte nebeneinander. Geschichte wird geschrieben auf eine Weise, wie sie nur das Kino kann in den Langzeitbeobachtungen etwa von Peter Heller; MUTTERJAHRE (2004) ist Abschluss und Resümee für die Begleitung einer Familie, die 1976 mit ARM WÜRD ICH NICHT SAGEN begann. Die Filme schrieben eine Geschichte von unten, die hier mit dem Tod der Mutter einer Familie im Ghetto endet.
Die oral history zu den Opfern und Tätern des Nationalsozialismus entwickelte sich weiter über Filme wie KINDERLAND IST ABGEBRANNT (1997, Regie: Sybille Tiedemann), zwölf Frauen erinnern sich an die Zeit des Faschismus in einer chronologischen Anordnung. Noch bevor es um die Information und die Geschichte von unten geht, geht es um die Empfindung der Zeit selber, nicht um das Darstellen, sondern um das Empfinden von Historie.
IX. Lost glamour
Prächtige und glamourhafte Stoffe musste man eher dem Fernsehen überlassen, wie etwa in der Zweiteiler-Produktion TRENCK – ZWEI HERZEN GEGEN DIE KRONE (2002, Regie: Gernot Roll). Der die Lebensgeschichte von Friedrich von der Trenck (Ben Becker) im Format des Melodrams mit historischem Hintergrund ausspinnt. Und eigentlich zeigen solche Filme eher Menschen gegen die Geschichte als Menschen in der Geschichte. Der Bruch nämlich sitzt viel tiefer: Weil es sich mehr oder weniger verbietet, die Protagonisten des deutschen Faschismus in ihrer Zeit zu sehen und sie auf diese Weise zu entschulden, verbietet es sich bequemerweise gleich auch, überhaupt deutsche Menschen in ihrer Geschichte zu sehen und zu verstehen.
Immerhin konnte Eric Tills LUTHER (2003) einen beachtlichen Erfolg aufweisen, (wurde allerdings wohl nur wenig als deutscher Film wahrgenommen), obwohl Regisseur Eric Till hier bereits BONHOEFFER – DIE LETZTE STUFE inszenierte. Hans-Güther Bücking drehte eine neue Version vom Leben und Sterben des berühmtesten bayrischen Wildschützen: JENNERWEIN (2003) rekonstruiert die Geschichte des 29jährigen Georg, genannt Girgl Jennerwein, der am 6. November 1877 von seinem ehemaligen Freund, dem Tegernseer Jagdgehilfen Johann Josef Pföderl erschossen wurde – so will es jedenfalls diese Legende zu einem nie aufgeklärten Mordfall. Romantik und Glamour wenigstens auf Umwegen zu erlangen in der eigenen Geschichte blieb ein abgebrochenes, unentschlossenes Projekt.
In MAJESTÄT BRAUCHEN SONNE (1999) montiert Peter Schamoni Filmdokumente zu Leben und Erscheinung von Kaiser Wilhelm II, die nur selten aus einer Art von ironischer Nostalgie herausfindet. Wie auch? Was man sehen will und doch nicht sieht, das wird zum Fetisch, und als Fetische finden die Inszenierungen der Macht wieder Eingang in die Erinnerungsfilme.
Die Rückkehr des politisch-historischen Fragens in den Mainstream (und selbst ein so mittlerweile marginalisiertes Medium wie das Kino der „interessanten Filme“ hat seinen Mainstream) scheitert an der Regel an einem doppelten Firewall: Das unbequeme Fragen wird vom Mainstream entweder ignoriert, oder aber die Fragen werden auf eine Weise Mainstream-kompatibel, dass sie gleichsam ihren eigenen Inhalt vergessen.
Filmische Geschichtsschreibung freilich geschieht schon aus dem Gegenwärtigen heraus: Das Bild, das die Kamera aufgenommen hat, ist schon Geschichte. Ein Film wie SOLDATENGLÜCK UND GOTTES SEGEN (2002, Regie: Ulrike Franke, Michael Loeken) funktioniert bereits als vorweggenommene Korrektur der entstehenden „offiziellen Geschichte“ – jedenfalls, wenn es der Kultur gelingt, die Filme sichtbar und praktikabel zu erhalten.
Dass die Geschichte eher der vorherigen Generation der Filmemacher überlassen wird, während man sich selber vehement auf die Entdeckung der verborgenen Wirklichkeit der Gegenwart macht, ist mehr als nachvollziehbar, organisiert aber vielleicht auch schon wieder einen neuen Bruch. Tatsächlich scheinen sich eine Reihe von älteren Filmemachern in die Geschichte förmlich zurückzuziehen, während umgekehrt die jüngeren nur eine und für den Augenblick nicht die vorrangige Konstruktion von „Identität“ (was immer das sein mag) erkennen.
Was zur Geschichte führt im deutschen Kino sind vermutlich drei Wege. Der erste ist der traditionelle von Objekt-Rekonstruktion, psychologischem Realismus, Genre und Melodram. Das Erzählbarmachen und das Abbildbarmachen ist das Projekt für einen Mainstream, der sich den Zumutungen der Moderne auch im Kino nicht mehr zu stellen gewillt ist. Das zweite ist die eine oder andere Methode von Reibung und Verfremdung, Spiegelung und Kristallisierung. Sowohl dem melodramatischen Geschichtskino als auch dem ewig laufenden Bilderfluss des Fernsehens wird eher mit kreativer Abweichung als mit direkter Konfrontation begegnet. Das dritte aber ist der Versuch, Alexander Kluges Gedanken in Bilder zu verwandeln: „Wir müssen die Geschichte verändern, um zu anderem Material zu kommen“. Während die großen Produktionen eher als Museum der faschistischen Ikonographie dienen, versuchen sich die Regisseure wie Christof Schlingensief, Romuald Kamarkar, Herbert Achternbusch, Alexander Kluge oder Robert Bramkamp an der Eroberung neuen Materials. Bemerkenswerterweise interessiert sich die deutsche Öffentlichkeit vor allem für die Rekonstruktionen und allenfalls als Korn für Skandale noch für die Suche nach den neuen Geschichtsbildern. Nur noch wenige off-beat-Versuche entstanden nach dem Jahrtausendwechsel; Kamarkars HIMMLER-Projekt, das in einer Lesung durch Manfred Zapatka besteht und in dieser Reduktion dem historischen Dokument seine Wahrheit zurückgibt.
X. Fade Out
Geschichte wird im deutschen Film offensichtlich vorwiegend aus einem System von vier Punkten der Diskurse gebildet: Die Geschichte von Faschismus und Krieg, die Geschichte der terroristischen Störung der Nachkriegsgeschichte, die Geschichte der Migration und die Geschichte der Wiedervereinigung. Es sind die Punkte, in denen die größte „Geschichtsstille“ den größten Lärm verursachen und in denen Menschen zu sehen sind, die aus der Geschichte herausfallen. Das Projekt „Erinnerungsfilm“, wie es in der Mitte ankommt, bedient den Bilderhunger und sucht nach einem neuen Weg die biografische Verstrickung in einen neunen Film/Geschichte-Diskurs zu überführen. Das ist ein Widerspruch in sich. Aber wer sagt, dass der Film ohne Widersprüche zur Geschichte kommt? Und umgekehrt.
Georg Seesslen
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