Kleine Polemik gegen Denkmalpflege im Film

Vor gut dreißig Jahren brachte Loriot im FAZ – Fragebogen die Autorentheorie in etwa so (kluge Köpfe mögen mich korrigieren) auf den Punkt: Ihr Lieblingsschriftsteller? Wagner. Ihr Lieblingskomponist? Wagner. Ihr Lieblingslyriker? Wagner. Ihr Lieblingsmaler? Wagner hat nicht gemalt. Eben. Zur Leitkultur in Großbritannien scheint immer noch die unhinterfragbare These zu gehören, dass die Bibel und Shakespeare (oder in kritischeren Kreisen Shakespeare alleine) mehr oder weniger die gesamte menschliche Existenz adäquat abbilden würden, und wer da nichts über Schweigen am Telefon findet, hat eben nicht lange genug in „Was Ihr wollt“ gesucht oder ist zu dumm für den Transfer. Man kann Brecht in der Badewanne lesen oder Ingmar Bergmann Filme wegen der Witze gucken. Das alles ist möglich. In dem einst sehr beliebten Roman „Buntspecht“ von Tom Robbins beschäftigen sich Personen damit, monatelang die „Camel“ Zigarettenpackung nach ihrer geheimen Bedeutung zu betrachten.

So funktioniert Fanverhalten, so funktioniert Scholastik, und dagegen ist bei privater Hingabe ja auch nichts zu sagen. Das Gegenteil, mit dem wir es speziell beim Film, immer stärker zu tun haben, ist sicher schlimmer: erst soll ich beschwingt in einer leichten Komödie sitzen und da nicht auf einen Moment böse Welt warten und anschließend grimmig in einem Gangsterdrama, und da auf keine lustig herunterpurzelnden Kaffeetassen hoffen, und wie ich wo sitzen will, muss ich mir eben vorher überlegen. Das Problem ist nur, dass Autorentheorie und Zielgruppendenken derzeit so wunderbar zusammenpassen und, jenseits von persönlichen Vorlieben, Lehrmeinungen und Märkte bestimmen.

Gleich mehrere Bücher haben in den letzten Jahren versucht, den mittlerweile reichlich rigiden Kanon der Popmusik zu attackieren, das amüsanteste ist sicher Sky Nonhoffs (Hrg.) „Don`t believe the hype“ von 2007. Beatles, Velvet underground, Bob Dylan – im Grunde doch auch alles nicht so toll, oder zumindest als Letztbegründung für die Welt an vielen Ecken und Enden peinlich. Diese Bücher können (und müssen vermutlich) geschrieben werden, weil die Popmusik eine Kunstform geworden ist, die kommerziell quasi nur noch von ehrfürchtigen Fans getragen wird, die sich die immer gleichen Platten in immer neuen Boxsets zulegen, während die sich in alle Richtungen verfeinernde aktuelle Musik jenseits der Arenen bei Minimalauflagen vor sich hindümpelt, im Wohnzimmer aufgenommen und häufig genug freiwillig und unfreiwillig verschenkt wird. Falls es Popmusik noch einmal mit neuen Werken in den allgemeineren kulturellen Diskurs schaffen sollte, werden unsere Tage irgendwann als ein goldenes Zeitalter gelten, aber im Moment brauchen wir vermutlich jeden Hinweis, dass Wagner nicht gemalt hat, bzw. John Lennon bei all seinen Talenten auf sich alleine gestellt ein lausiger Arrangeur war.

Im Filmbereich fehlt dieser Ansatz. Es existieren zum Teil sehr lustige Bücher über schlechte Filme, Dissertationen über Camp und transgressives Kino, aber unter Cinephilen werden die wirklich heiligen Kühe höchstens im kleinen Kreis und in beschickerter Stimmung geschlachtet. Dass „Gangs of New York“ eine ziemliche Katastrophe ist, „Eyes wide shut“ ein ziemlicher Krampf und die Wandlungsfähigkeit des „Chamäleons“ Robert de Niro im Großen und Ganzen (mit allgemein bestaunten Ausnahmen) darin besteht, in wechselnden Kostümen die immer gleiche Leinwandpersona zu nuancieren (so dass im Vergleich selbst Humphrey Bogart einen schillernden Zirkus verschiedenster Charaktere entwickelt hat) – das alles sind Blasphemien, die quasi nie zu lesen und selten zu hören sind. Dafür gibt es natürlich gute Gründe. Ein Kanon entwickelt sich nicht aus gelangweilter Besserwisserei, sondern aus Legitimationsdruck. Um die Filmkritik als eigenständige Form zu etablieren, musste die Bande von „Cahiers du cinéma“ mit ihren weit verstreuten Schülern Bezugsgrößen bestimmen, an denen die Möglichkeiten des Films und der Filmkritik (vor allem im Unterschied zum Theater und der Theaterkritik) festzumachen waren. Als die Medienwissenschaft zum Universitätsfach wurde, zimmerte sie an gleicher Stelle weiter. Wer in den gehobenen Diskurs einsteigen möchte, muss deutlich machen, dass er mit lohnenswerten Objekten und einer wasserdichten Methodik aufwarten kann. Je arrivierter die Kunstform, umso unwichtiger der Kanon. Wer klassische Musik mag, muss sich heutzutage durch keinen Takt Bach mehr quälen. Im Bereich der Literatur wird abgefeiert, was noch vor kurzem nicht durch die Tür gelassen worden wäre (die Thriller von David Peace hätten vor zehn Jahren ganz sicher keine Preise gewonnen). Umgekehrt gilt das Gleiche: Die meisten überzeugten Comicleser behandeln beispielsweise eine tiefe, schlechtgelaunte Skepsis gegenüber „Tim und Struppi“ wie ein schmutziges Geheimnis, denn dieses Medium braucht noch immer alle Lorbeeren, die es abgreifen kann. Und darum seinen unverrückbaren Kanon plus Denkmalpflege.

Beim Film liegen die Dinge komplizierter. Die akademische Beschäftigung ist, unter ausdrücklicher Duldung der Branche, weitgehend eingeschlafen oder hat zumindest nicht die allgemeine Akzeptanz und Verbreitung gefunden, die bei Einführung der Medienwissenschaften erwartet wurde. Nachdenken über Film ist zur Spezialität geworden wie die Beschäftigung mit italienischer Oper. Mit dem kleinen, feinen Unterschied, dass italienische Opern sehr viel weniger Geld kosten und sehr viel weniger Geld machen. Niemand kann überschauen, wie wichtig Film in diesem Moment tatsächlich ist; ästhetisch, gesellschaftlich oder kommerziell. Niemand weiß, ob sich ganze Generationen tatsächlich von ein- bis vierstündigen Filmerzählungen als Richtgröße verabschieden, so wie sie sich unzweifelhaft vom vierzig- bis siebzigminütigem Popalbum als ästhetischer Erlebniseinheit verabschiedet haben. Fernsehserien werden epischer, Computerspiele werden epischer, zwölfstündige Filmreihen rotieren in Endlosschleife in den DVD-Playern. Filme mit Spielhandlung werden im Kino als zweieinhalbstündige Achterbahnfahrt goutiert und anschließend bei youtube als Sammlung von Einzelszenen filettiert. Besuche in Arthouse-Kinos sind Teil eines speziellen Lebensstils geworden und ähneln dem rituellen Besuch des Italieners an der Ecke. Im Vergleich zu Casting-Shows und Nostalgie-Shows und Volksmusik-Shows sind Filmausstrahlungen im Fernsehen für die Quotenjäger bei den Sendern eine ständige Zitterpartie und werden immer kleinlauter im Programm versteckt. Die Prämisse der Filmdramaturgie, dass ein zahlenmäßig großes, heterogenes Publikum eine komplette Erfahrung mit diesen und jenen Eckpunkten wünscht, gerät zögerlich ins Wanken, ohne, dass sich bislang eine Alternative dazu abzeichnen würde. Die Zahl der verkauften Eintrittskarten steigt wieder, aber zumindest in den USA brechen die DVD-Verkäufe ein. Anders als im Bereich der Popmusik wird beim Film nur selten diskutiert, dass das Umsichgreifen von illegalen Downloads nicht zuletzt ein Symptom für eine veränderte Filmrezeption ist. Wer Filme mit Spielhandlung schätzt und braucht, investiert sein Geld, jenseits aller ethischen Fragen, lieber in Eintrittskarten und in die bewusst preisgünstig konzipierten DVDs, als in Arbeitsspeicher und externe Festplatten und verbringt seine Zeit lieber im Kino oder auf dem Sofa, als ausgerechnet vor dem Rechner. Vielleicht sind die permanent vom Individuum geforderten Abgleichungs- und Anpassungsprozesse in unserer Gesellschaft zu komplex geworden, als dass sie in zweimal neunzig Minuten pro Woche (in den westlichen Ländern der übliche Nachkriegsturnus für Kinobesuche vor dem Aufkommen des Fernsehens) symbolisch bewältigt werden könnten (nur bei Tatort–Afficionados scheint dieses Muster noch weitgehend zu funktionieren). Und so laben sich die einen an schier endlosen Epen plus Bonusszenen und neuen Schnittfassungen, während sich die anderen in fröhlicher Resignation auf Schnipseljagd durch ein Universum der Fragmente schicken.

Die Filmbranche scheint darauf zu setzen, dass dennoch genügend Menschen dann und wann gerne ein Steak (nennen wir es ein Gangsterdrama) oder ein Eis (nennen wir es eine Komödie) essen wollen (vielleicht aber liegen die Wertigkeiten psychologisch genau umgekehrt), und dass genügend Menschen wissen wollen, was der umjubelte Chefkoch (nennen wir ihn beispielsweise mal Scorsese) nun wieder gezaubert hat. Und die Filmexegeten hoffen darauf, dass sich genügend Menschen dafür interessieren, wie das Interesse an Steaks oder Eis oder Chefkoch funktioniert und befriedigt wird. Dabei wird das Steak als Steak beworben (als das ultimative Steak oder als die irre neue Variation eines Steaks), das Eis als Eis und der Chefkoch als Chefkoch. Was dabei völlig verschwunden ist, ist die Utopie des Kinos. Ausgerechnet die Filmconaisseure, die sich als Steak- oder Eisliebhaber oder als Bewunderer von Chefköchen gerieren (anstatt sich in das Samstagabendgetümmel der meist zynisch zusammengeschraubten Blockbuster zu stürzen), töten, was sie einmal geliebt haben und zementieren so das Ende der Utopie.

Ich kann detailliert nachlesen, was die Beatles am 30. Januar 1969 getan haben, ich kann es mir beschaffen(legal oder halblegal), anhören und ansehen, doch der Atmosphäre, die die Filmaufnahme von „Hey Jude“ mit ihren mitsingenden Zuhörern noch immer besitzt, komme ich damit kein Stück näher.

Vielleicht ist der Erfolg von „Avatar“ ein Zeichen dafür, dass es doch noch funktioniert, dass große Mengen von Menschen von Filmen zum großen Spiel abgeholt werden können, und sei es um den Preis der Konsolenspiel-Ästhetik.

Doch kein Kanon, und auch keiner, in dem James Cameron nun neben Ingmar Bergmann steht, wird Film als Möglichkeit retten, mit Herzklopfen über die Welt und ihre Gestaltung nachzudenken und im geschützten Rahmen hier und da Grenzen sprengende Momente zu erleben.

Autor: Florian Schwebel

Text geschrieben Februar 2010

Text: veröffentlicht in GETIDAN.DE

Anzeige