Der Stummfilm und die große Erzählung von Gut und Böse
Klaus Kreimeiers aufregende „Kulturgeschichte des frühen Kinos“ und dazu eine breite Kollektion der Kurzfilme des Georges Méliès
Was macht das Wesen der Kinematographie aus? Jener künstlerischen Ausdrucksform, die im 20. Jahrhundert als die 7. der Künste geadelt worden ist, zugleich immer aber ein wenig schief über die Schulter angesehen wird, weil sie so spät in Konkurrenz zu den anderen, altehrwürdigen Künsten getreten ist und wohl auch, weil sie scheinbar so voraussetzungslos und bequem zu rezipieren ist. Über die Frage nach dem Geheimnis der neuen technikaffinen Kunstrichtung haben sich Verächter und Bewunderer des Kinos den Kopf zergrübelt und öffentlich endlos gestritten.
Auffällig dabei, wie sehr sich mit dem Aufkommen der New Film History der Focus des Diskurses verlagert hat. Der Weg führte weg von einer Filmgeschichte mit dem teleologischen Modell vom Aufstieg aus dem Stummfilm, der Glanzzeit des klassischen Tonfilms in der Prägung von Hollywood und dem Niedergang, dem Blockbuster als Zentrum eines umfassenden Merchandising in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Stattdessen führte er zu einer Vorstellung von Kinogeschichte, die ungleich mehr Wert legt auf empirisch belegbare sozioökonomische Prozesse, als eine deren Folgen Filme nicht mehr auf Rummelplätzen sondern in ortsfesten Sälen geschaut werden. Die Kulturgeschichte des Kinos erscheint dabei als Geschichte der Verbürgerlichung einer anfänglich proletarischen Kunst. Das hat manchmal den hässlichen Nebeneffekt, dass im Betrachten des Dispositivs Kino der eigentliche Artefakt, der Film, aus den Augen gerät.
Klaus Kreimeier, Filmhistoriker von Rang („Die Ufa-Story“) und ehemaliger Professor für Medienwissenschaft in der Uni Siegen, versucht einen dritten Weg zu gehen. Er fühlt sich den (amerikanischen) Theoretikern der New Film History verpflichtet, er weitet das Untersuchungsgebiet aus, wenn er die Frühgeschichte des Films als würdig befindet, zum Forschungsobjekt zu werden. Gleichzeitig fühlt er sich nicht nur der allgemeinen Struktur, sondern auch dem einzelnen Film verpflichtet. Das Ergebnis seiner vieljährigen, noch zu Uni-Zeiten unter dem Begriff „Industrialisierung der Wahrnehmung“ begonnenen Arbeit ist ein Buch, das unter dem etwas vagen Titel „Traum und Exzess“ im Zsolnay-Verlag erschienen ist. Eine Kulturgeschichte des frühen Kinos“, die mit dem Attribut Fleißarbeit höchst unvollkommen beschrieben wäre. Es ist vielmehr die großartige Anstrengung, eine schier unübersehbare internationale Filmproduktion der Jahre bis zum Weltkrieg aufzuspüren, zu sichten und zu würdigen. Diese Aufgabe wird nicht leichter durch den Umstand, dass die kurzen, nach unseren Maßstäben ultrakurzen Spielfilme jener Jahre nur noch residual erhalten geblieben sind. Zugleich dokumentiert Kreimeiers Buch aber auch den Anspruch, Walter Benjamins Überlegungen zum Film mit Georg Simmels Analyse des großstädtischen Lebens um 1900 und – mit Abstrichen – Siegfried Kracauers Kritik der kapitalistischen Entfremdung zu kombinieren oder gar zu synthetisieren.
Im Einklang mit dem amerikanischen Filmtheoretiker Ben Singer liefert Kreimeier auch eine Antwort auf die eingangs der Rezension gestellte Frage nach dem Wesen der Kinematographie: Sie liefere „eine Schule für die fragmentarisierten, ‚abrupten’ Formen moderner Wahrnehmung: eine Hilfe, um die sinnlichen Erfahrungen der neuen Wirklichkeiten zu bewältigen, und zugleich eine Kompensation für die Zustände der Entfremdung und Erschöpfung, die ihre Kehrseite bestimmen.“
Eine schöne, dialektische Formulierung, die es erlaubt, Film und Kino nicht nur als neues, besonders perfides Opiat für die Zerstreuung der müden Massen zu begreifen, sondern den Film-Rezipienten im gleichen Atemzug auch Freiräume für eigene Phantasien und kollektive Gedächtnis-Leistungen zuzugestehen. Oder anders gesprochen: Der vielzitierte Schock der Moderne hinterließ nicht nur überwältigte, narkotisierte Zuschauer. Sie werden im Kino – aber natürlich auch anderswo – informell angeleitet, mit den besonderen Anforderungen der Gegenwart umzugehen. Wie angemessen auch immer.
Viel Liebe zum Panorama – der Gesellschaft – wie zum Detail – dem einzelnen Film – verwendet Kreimeier auf seine Kino-Kulturgeschichte. Wenn er beispielsweise Walther Rathenau, den AEG-Konzernchef und feingeistigen Zeitbeobachter zitiert, dann entsteht ein imaginäres Bild frühen Berliner Großstadtlebens, das von Asphalt, Zeitung, Hektik und nicht zuletzt Reklame für das sprunghaft sich entwickelnde Medium Film bestimmt ist.
Wenn Kreimeier sich den frühen deutschen Filmen zuwendet, dann kommt er allerdings auch zu erstaunlichem Umwertungen: Anders als Generationen von Filmhistorikern vor ihm sind nicht so sehr Autorenfilme wie „Der Student von Prag“ (1913) oder „Der Andere“ (1912/13) wichtig, sondern bislang eher übersehene Sensationsdramen wie „Wo ist Coletti?“ (1913). Kreimeier geht so weit, Max Macks Film als den wahren Autorenfilm anzusprechen und die beiden anderen als „Modefilme und Repliken auf den Zeitgeist“ abzutun. In dieser Neuschreibung des deutschen Filmkanons der frühen Jahre kommt ein tiefes Misstrauen des Autors gegenüber jeder Definition eines Films als uniques Kunstwerk zum Ausdruck. Hier spricht eher der kulturwissenschaftlich eingefärbte Medienhistoriker, der einen Film wie „Wo ist Coletti?“ hochschätzt, weil hier ein „ganzes Panorama moderner Urbanität“ entfaltet wird. Einen Film wie „Der Student von Prag“ hingegen als Ausdruck des „kollektiven Unbewussten des Deutschen“ zu nehmen, das sagt Kreimeier gar nicht zu. Kracauer und dessen Schule haben einen schweren Stand in diesem Buch.
Kreimeier geht mit Kracauer noch an anderer Stelle ins Gericht. So wirft er dem Weimarer Filmsoziologen und dessen „Theorie des Films“ vor, der simplen Dichotomie von dokumentarischem und inszeniertem Erzählen Vorschub geleistet zu haben, als er die Brüder Lumière der einen und den Filmzauberer Georges Méliès der anderen Seite zugeschlagen habe. Dabei sei es in Wirklichkeit doch anders. Méliès habe sich selbst als frühen Dokumentaristen bezeichnet und die Lumières hätten bei ihrem legendären Zug-Einfahrt in den Bahnhof von La Ciotat (1895) selbst inszeniert. Aber hallo, möchte man hier einwerfen. Die Produktionsmittel jener Jahre – angefangen von der klotzschweren, immobilen Kamera – ließen gar keine andere Möglichkeit zu, als selbst das Dokument zu inszenieren, dies aber, im Unterschied zum fiktionalen Film, nach der Maßgabe seiner eigenen Existenz. Der große Dokumentarist Flaherty hat alle seine Filme inszeniert. Die Möglichkeit, die Wirklichkeit quasi beiläufig einzufangen, wie sie uns die heutigen technischen Medien bieten, bestand gar nicht.
Wie variantenreich trotz aller Beschränkung der verfügbaren technischen Mittel Georges Méliès gedreht hat, darüber gibt eine Doppel-DVD Auskunft, die gerade bei Studiocanal / Arthaus herausgekommen ist und die nicht weniger als 28 Kurzfilme des französischen Regisseurs versammelt. Darunter natürlich Méliès legendär gewordene „Reise zum Mond“. Aber was im Zusammenhang mit dem Kreimeier-Buch mindestens so interessant erscheint, ist ein Film aus dem Jahr 1906: „ Les incendiaires“, so der Originaltitel, bieten mustergültig ein Beispiel für das Stop-Trick-Verfahren, wie es Méliès zu früher Meisterschaft entwickelte. Einer der Brandstifter wird der Guillotine zugeführt und Sekunden später kullert der vom Messer abgeschlagene Kopf herunter, ohne dass durch einen Schnitt dieser grausame und definitive Akt kaschiert worden wäre. Dieser Sieben-Minuten-Film ist aber auch ein Beleg dafür, wie sich Melodram und Dokumentarisches mischen. In der Nacht vor der Hinrichtung wandert der abgeurteilte Brandstifter schlaflos durch seine Zelle, in der nächsten Einstellung verfolgt Méliès mit den Augen eines Dokumentarfilmers, wie der Hinrichtungsapparat aufgebaut, auf eine Funktionsfähigkeit überprüft und in Gang gesetzt wird. Der Film-Zuschauer sieht, was der breiten (französischen) Öffentlichkeit verborgen blieb: Die mechanisch-maschinelle Hinrichtung eines Menschen. Dieser kleine Film zeigt beredt, wie sich das Kino der Jahrmarkts-Attraktionen mit seinen Einzelbild-Einstellungen zu einem Kino der Lichtspielhaus-Narration mit einem Szenenfluss der Bilder wandelt. Längst bevor das „Kino bürgerlich wird“, um eine Kapitelüberschrift Kreimeiers zu zitieren, sind in diesem Méliès-Film viele Möglichkeiten bereits angedeutet. Sogar eine Verbrecherjagd en plein air gibt es. Bei Méliès, dem Mann des Studios und der Vaudeville-Bühne! Die Verbrecher flüchten durch eine Geröll-Landschaft, verfolgt von Polizisten und im nächsten Moment lauern im Versteck schon Flics auf die Gangster.
In diesem fiktiven Verbrecher-Film deutet sich an, was Kreimeier mit Blick auf andere Filme „nachgestellte Aktualität“ nennt. Er spricht dabei von James Williamons „Attack on a China mission“, der 1900 den chinesischen „Boxeraufstand“ re-inszeniert hat. Damit scheint laut Kreimeier die „große Erzählung“ auf, „mit dem die Propagandamedien in den Konflikten des 20. Jahrhunderts dem Volk die Antagonismen von Gut und Böse, von Freund und Feind erklären werden.“
Dieser Funktionsmechanismus, wie er bis heute Gültigkeit hat, ist also bereits in den frühen Stummfilmen angelegt. Und wenn ein Konflikt wie der Offiziers-Aufstand vom 20. Juli 1944 oder eine zum Konflikt reizende Figur wie Napoleon immer wieder bearbeitet werden, dann ist das kein Widerspruch, sondern eher die Bestätigung dieser These. Jede Generation oder meinethalben auch jeder neue Jahrgang sogenannter Kreativer trägt seine neuen Erkenntnisse an solche Stoffe heran. Wobei seine Einsichten und Interpretationen auch immer die der Gesellschaft sind, die neue Grenzlinien zieht und alte, unhaltbare Positionen schleift.
Wie alt dieses ideologische Muster ist, das zu erfahren, ist auch eine Einsicht, die sich Kreimeiers Werk verdankt. Ein Buch, das zu Unrecht bislang weitgehend übersehen worden ist.
Michael André
Klaus Kreimeier: Traum und Exzess
Zsolnay/Kino
In Kooperation mit dem Österreichischen Filmmuseum.
Wien 2011. 413 Seiten. 24,90 Euro
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Georges Melies: Die Magie des Kinos
Arthaus Premium DVD Digipak 2er, August 2012, FSK 6
28 Kurzfilme von Georges Méliès aus den Jahren 1896 bis 1912; Dokumentation „Eine außergewöhnliche Reise“ von Serge Bromberg und Eric Lange über Méliès und den Werdegang seines wichtigsten Films; Dokumentation „Méliès, Vater und Sohn“ von Georges Franju. Insgesamt ca. 271 Min. Plus Begleittext.
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