Zum Reiz des Lesens gehört es, fremde Orte zu entdecken, von einer kundigen Hand durch unbekannte Gassen und Winkel geführt zu werden, in eine andere Welt einzutauchen.
Den Begriff »Stadtschreiber« haben Frankfurt u
nd andere Städte sozusagen hilfsweise eingeführt. Längst nicht immer erfüllen die für ein Jahr Berufenen dann auch, was ihr Titel erwarten ließe. Wie viele Frankfurt-Romane zum Beispiel wurden uns bisher von seinen Stadtschreibern geschenkt? Manche Städte haben das Glück, in ihren Mauern Freiwillige für diese Aufgabe haben. Der Italiener Bruno Morchio ist einer von ihnen.
Lesend schauen wir einem Plakatkleber zu. Mit tausendfach erprobten Handbewegungen aktualisiert er in einer bitterkalten Dezembernacht einen Aushang. Unter seinem Leimpinsel entfalten sich die Worte
FÜNF KUG
ELN UND ITAL
IEN IST SAUBER.
Er liest, was er soeben in großen Lettern klebte: FÜNF KUGELN UND ITALIEN IST SAUBER.
Die Zigarette fällt ihm fast aus dem Mund, als sich unter seinem Pinsel auch der unterste Plakatteil enthüllt:
GEBT UNS FÜNF NAMEN FÜR DIE ERSTEN FÜNF KUGELN. DEN REST ERLEDIGEN WIR MIT UNSERER PRÄZISIONSWAFFE.
Darunter fünf Geschosse, aufgereiht wie Bowlingkugeln, und die Zeile: RUFEN SIE AN: 800-121314 – RADIO BABA YAGA.
Wir sind in Genua. Es handelt sich um einen linken Radiosender, der Reklame für eine neue Sendung macht. Der Mann von der städtischen Plakatgesellschaft steht mit offenem Mund vor seinem neuen Werk. Aus einer Tür tritt eine zierliche Gestalt mit Pelzmantel, ihre Absätze klappern. Sie führt uns in eine Geschichte, die mit einem Gewehrschuß endet. An einem Tag, an dem »der Ministerpräsident« die italienische Hafenstadt besucht. Einen Namen hat er nicht, »der Ministerpräsident«. Aber wir alle wissen, um wen es hier gehen könnte. Gehen sollte. Gehen müßte.
»Kalter Wind in Genua« heißt der Kriminalroman mit diesem starken Anfang. In einem »Hinweis an die Leser« warnt Autor Bruno Morchio: »Ob es Ihnen paßt oder nicht, dies ist ein Roman und nicht etwa eine politische Schmähschrift. Die Personen des öffentlichen Lebens, die hier auftreten, wurden nach den Bedürfnissen der Handlung absichtlich verzerrt. Sie existieren nur im Weltbild von Anhängern bestimmter politischer Bewegungen (zum Beispiel Kommunisten, sonstige Linke und andere ewige Kritikaster). Auffällige Geschichtsfälschungen sowie jegliche Überspitzung und tendenziöse Verzerrung haben ihren Ursprung lediglich in ebendiesen kollektiven Phantasien. Und überhaupt sind alle Personen und Ereignisse völlig aus der Luft gegriffen. – Der Autor.«
Wer einen solchen Einstieg und ein solches Vorwort hinlegt, der hat bei online casinos mir und wohl auch manch anderen Lesern und Leserinnen erst einmal gehörig Kredit. Solch etwas Freches als Einstieg in die Lesekost gibt es nicht jeden Tag. Hut ab, Signore Morchio. In seinem Fall ist es eine Art Baskenmütze, eine eher softe Kreuzung von Helmut Schmidts Lotsenmütze mit französisch-italienischem Weichmacher. Ihr unrasierter Träger könnte Kneipenstammgast, Uniprofessor, Weinhändler, Schmuggler oder Plakatkleber sein. Ist aber Bruno Morchio höchstpersönlich, auf Lesereise in Deutschland, vorbildlich betreut von seinem deutschsprachigen Verlag. Seine Bücher erscheinen in Zürich, in der von Thomas Wörtche begründeten Reihe »metro – Spannungsliteratur im Unionsverlag«. Kaum ein anderer Verlag hat innerhalb solch kurzer Zeit ein solches Meisterstück vorgelegt, nämlich innerhalb weniger Jahre eine Qualitätsreihe zu etablieren, deren Autoren zum Besten gehören, was die internationale Kriminalliteratur zu bieten hat. Im Unionsverlag veröffentlicht zu werden, das ist für einen Kriminalautor so etwas wie ein Adelstitel. Für weltoffene Leser und Freunde des Unkonventionellen ist der Unionsverlag immer eine Empfehlung, die Ausfallquoten sind gering. (Die Insiderdiskussion über Feinstaubwerte, wie sich die metro-Reihe nach Wörtches Weggang wohl entwickeln wird, lasse ich hier beiseite.)
Bruno Morchio also. Jahrgang 1954, Psychologe und Psychotherapeut, lebt und arbeitet in Genua. Promoviert hat er über Carlo Emilio Gaddas »Die Erkenntnis des Schmerzes«, einen der wichtigsten italienischen Romane des 20. Jahrhunderts. Bisher fünf Kriminalromane, zwei davon auf deutsch erschienen: »Wölfe in Genua« (Maccaia) und »Kalter Wind in Genua« (Bacci Pagano – Una storia da carruggi), der mit dem furiosen Plakateinstieg beginnt. Morchios Hauptfigur ist der anarchistisch angehauchte Privatdetektiv Bacci Paganao, der auf einer roten Vespa durch die alte Hafenstadt flitzt. Die Stadt selbst, die Gassen, Farben, Gerüche, Menschen und Geschichten, sind Morchios eigentliches Thema. Wer Genua, wer ein Stück Italien schmecken will, ist bei ihm gut aufgehoben.
»Meine Romane sind eine Elegie auf meine Heimatstadt. Bacci Pagano ist ein Mittfünfziger, der sich auf das neue Jahrtausend nur widerwillig einläßt, denn er ist überzeugt, daß er die besten Dinge seines Lebens im alten Jahrtausend zurückgelassen hat«, meint Morchio. Sein Vater war Kommunist und Gewerkschaftler, die neue globale Ökonomie empört Morchios Gerechtigkeitsgefühl. Und wie viele Italiener in der Zeit von Berlusconi erfüllen ihn »Zorn und Trauer über Italien«. Auch die arbeitet er in seinen Romanen ab. »Schreiben ist wie eine Therapie«, sagte er mir bei einem Gang durch die Frankfurter Kleinmarkthalle, wo ihn die sauber geordneten Lebensmittelpyramiden amüsierten. Der linksliberale Morchio sieht sich mit seinen Romanen im Genre des Mittelmeer-Krimis, zu dem Autoren wie Vázquez Montalbán, Jean Claude Izzo, Massimo Carlotto, Veit Heinichen und Petros Markaris zählen. In einem schönen Interview meinte Morchio: »Der Mittelmeer-Krimi ist weder beruhigend noch tröstlich. Das Mittelmeer war zu allen Zeiten Schauplatz von blutigen Konflikten, und der Krimi erzählt von diesen Konflikten zwischen Süd und Nord, zwischen Orient und Okzident. Er erzählt auch von der Ohnmacht der ›Justiz‹ gegenüber den beiden vereinten Mächten der globalisierten Welt: der Finanzwelt und der Kriminalität.«
Bei Morchios Lesung in der Frankfurter Stadtbibliothek beschwerten sich zwei feine, ältere italienische Damen, dass über Italien und Genua »immer nur so Negatives geschrieben« würde und das dann auch noch Erfolg habe, während die schöne große »Poesia Italia« im Ausland unbekannt bleibe. Der Krimiautor revanchierte sich mit der Rezitation eines Gedichtes, das in Form einer Litanei den Zauber
von »Dschenua« beschwor. Die Damen waren es zufrieden. Bella Italia.
P.S. In Morchios Romanen geht es nicht nur um Verbrechen, sondern auch um gutes Essen und Trinken, um das bessere Leben eben im falschen. An Haselnüsse, Birnen, Gewürze und Honig erinnert Morchios persönlicher Lieblingswein, der jung zu trinkende Fiano d
Avellino aus der süditalienischen Provinz Kampanien. Als bestes Weingut dort gilt Mastroberardino.
Autor: Alf Mayer
Krimi-Kolumne: Blutige Ernte
Text: veröffentlicht unter www.strandgut.de
Kalter Wind in Genua
Hardcover
Roman
Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler
320 Seiten
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