Schwesterlein | My Little Sister (Regie: Stéphanie Chuat, Véronique Reymond, CHE 2020) Wettbewerb
Zwei Erwachsene, die Zwillinge Lisa (Nina Hoss) und Sven (Lars Eidinger), sind innigst miteinander verbunden. Sven ist schwer erkrankt, er hat Leukämie, hofft jedoch bald wieder als Schauspieler (der Berliner Schaubühne) auftreten zu können. Lisa, ihrerseits als Theaterautorin tätig, bestätigt ihn in dieser Hoffnung, ist bereit alles zu geben, um ihn zu retten.
Sie nimmt ihn mit in die Schweiz, wo sie mit ihrem Mann, Martin, und zwei Kindern lebt. Die Bergluft, neue Behandlungsmethoden und ihre Familie sollen Wunder bewirken. Doch der Plan geht nicht auf. Svens Zustand verschlechtert sich, auch weil der eingeflogene Theaterintendant – Thomas Ostermeier persönlich – es ablehnt, Sven weiter zu besetzen. Außerdem erweist sich die Schweizer Idylle als trügerisch. Denn Martin, der ein internationales Elite-Internat leitet, verlängert hinter Lisas Rücken seinen Arbeitsvertrag, und überhaupt ist die Welt zwischen den schneebedeckten Alpen eng, saturiert und langweilig. Nach heftigen Streitigkeiten der beiden Eheleute und nach einem erneuten Zusammenbruch von Sven (während einem Paragliding super dramatisch und symbolhaft inszeniert ) schnappt sich Lisa die Kinder und reist mit ihnen sowie ihrem Bruder zurück nach Berlin in die Wohnung der Mutter. Hier stirbt Sven. Ganz friedlich schläft er ein, als Lisa ihm ihren neuen Text – eine modernisierte Hänsel und Gretel Geschichte – vorliest.
Aus einer schwachen Drehbuch-Vorlage und glatten, TV-tauglichen Bildern kann kein interessanter Film werden. Da nutzen auch die besten Darsteller nichts. Marthe Keller als überspannte, dem Alkohol zugeneigte Mutter ist genauso eindrucksvoll wie Nina Hoss, die glänzt und den allgegenwärtigen Mega-Star Lars Eidinger glatt an die Wand spielt. Dass dieser zulässt nicht die Nummer Eins bei diesem „Theater“ zu sein, ist fast irritierend. Und letztendlich das einzig Auffallende an diesem Film, der für das Tragische, das Abschiednehmen, das Sterben, den Tod weder Bilder noch Worte findet.
Daniela Kloock
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Siberia (Regie: Abel Ferrara, ITA, DEU, MEX 2020) | Wettbewerb
Abel Ferrara hingegen wütet was das Zeug hält. Sein Film ist düster, gewalttätig, aber auch zart und erotisch. Es sind die Visionen, Traumbilder, Obsessionen eines nicht mehr „ganz“ jungen Mannes (Willem Defoe in seinem sechsten Film mit Ferrara), auf der Suche nach sich selbst. Eine Reise durch Kälte, Feuer und Einsamkeit, krass und verstörend. Logik und Narration spielen hier keine Rolle.
Die Hauptfigur, Clint, lebt allein in einer Hütte in Eis und Schnee am Rande der Welt. Von hier aus startet sein Trip in unterschiedlichste Klimazonen, in seelische Abgründe, zu den Geistern der Vergangenheit. In seinen Visionen begegnet er u.a. einem Zauberer im Wald, einem nackten Zwerg im Rollstuhl, philosophierenden Schamanen in der Wüste (herrlich hier der Satz: „Respect the presence of sleep.“), seinen längst verstorbenen Eltern („Deine Seele ist außerhalb von dir.“, sagt der Vater), seinem Bruder, seinen verflossenen Liebschaften. Viele nackte, schöne Frauen kommen im Film vor. Viel Blut und viel Horror auch. Eine Art katholische Vorhölle könnte das Ganze sein, durch die Clint wandern muss. Treu ist diesem Egomanen einzig ein Rudel Huskys. Sie ziehen und begleiten ihn durch fast alle „Stationen“. Ihr Gekläffe und Geknurre, seine Schritte im Schnee und Sand, überhaupt die Geräusche, der sorgfältig komponierte Ton (endlich einmal ein Film ohne Musik, wie herrlich ist das denn!) und die zum Teil verwaschenen, rätsel- und sprunghaften Bilder machen aus diesem Film einen faszinierenden, spannungsreichen (und ja, männlichen) Alptraum. Willem Defoe ist großartig. Er spielt nicht nur den Clint, sondern auch gleich noch den Vater und den Bruder.
Am Ende ist man wieder im Eis angelangt. Die anfängliche Behausung ist abgebrannt. Es stapft eine fellbehangene Figur durch den Schnee zu Clint. Sie hat zwei Fische mitgebracht, einer wird alsbald gebraten, der andere bleibt in einer Pfanne liegen, wo er zu sprechen anfängt. Ein unerwartet witziges Schlussbild.
Ferrara meinte, dass er immer noch einen großen Appetit darauf verspüre, was Kino alles sein kann. Was kann ein so alter Hase der Filmkunst Schöneres sagen?
Daniela Kloock
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Todos os Mortos | All the Dead Ones | All die Toten (Regie: Caetano Gotardo, Marco Dutra, BRA, FRA 2020) | Wettbewerb
Ein enteigneter Kaffeeplantagen-Besitzer hat seine Familie im Stich gelassen. Seine Frau lebt gemeinsam den Töchtern Maria und Ana und der schwarzen Haushälterin Josefina in Sao Paulo. In einem düsteren, verwinkelten Haus, voller antiker Möbeln führen sie das Leben der weißen Oberschicht. Doch die politischen Umbrüche haben sich bereits in die Körper und Seelen der Frauen eingeschrieben. Die Mutter, immer wunderschön gekleidet, mit strenger Frisur und Haltung, ist es gewohnt, bedient zu werden. Als Josefina jedoch stirbt flüchtet sie sich in hysterische Anfälle, die immer schlimmer werden. Tochter Maria ist Nonne geworden und Ana, die in ihren Traumwelten lebt, sieht immer wieder die Geister getöteter Sklaven. Sie vergräbt alles, was ihr Innenleben stören könnte im Garten, und spielt ansonsten schön Klavier. Von ihr geht eine bedrohliche Ausstrahlung aus. Um ihre Mutter und ihre Schwester zu heilen, kommt Maria auf die Idee die ehemalige Sklavin Iná zu bitten, ein altes afrikanisches Ritual der Geisterbeschwörung durchzuführen.
Iná wiederum, deren Schicksal und ethnische Wurzeln angedeutet werden, sucht ihren seit zwei Jahren verloren gegangenen Mann und (über)lebt mit ihrem kleinen Sohn mehr schlecht als recht. Eigentlich will sie die Bitte ausschlagen, doch zu nah sind noch die alten Machtverhältnisse. Iná nimmt also den Vorschlag an, der sie jedoch am Ende in schwere Konflikte bringt.
In dem Film wird viel geredet. Es gibt sehr statische Einstellungen, viele Großaufnahmen und wenig Handlung. Der Erzählrhythmus ist sehr gewöhnungsbedürftig und es fällt auf, dass ein Land mit einem solchen Machismo einen Film präsentiert, indem ausschließlich Frauenfiguren die Handlung tragen. Die einzigen drei Männer die es gibt, tauchen nur sehr kurz auf und machen dabei eine ganz schwache Figur.
Auf der Tonebene schleichen sich nach und nach Geräusche aus der Gegenwart ein, und am Ende „schlafwandelt“ Ana mit einem Kostüm des „Fin de Siècle“ durch das Sao Paulo der Jetztzeit. Damit soll wohl gesagt werden, die Vergangenheit ist gegenwärtig. Bis heute schreibt sie sich in das Leben Brasiliens ein. Der Film ist sicher Geschmacksache. Jedoch zeigt er, wie ungemein komplex und vielschichtig die Kolonialgeschichte dieses Landes ist.
Daniela Kloock
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First Cow (Regie: Kelly Reichardt, USA 2019) | Wettbewerb
Absolut keine Wild-West Romantik zeigt die bekannte Indie Regisseurin Kelly Reichardt („Certain Women“) in ihrem Spielfilmdebut. Anfang des 19. Jahrhunderts – man ist dabei die feuchte Wildnis Oregons zu kolonisieren – treffen zwei Außenseiter aufeinander. Ein gutmütiger Koch (Cookie), der eine Gruppe rauflustiger Pelztierjäger zu versorgen hat, und ein chinesischer Seemann (King-Lu), der von russischen Banditen verfolgt wird. Die beiden wortkargen Männer freunden sich an und finden eine pfiffige Geschäftsidee, die ihnen am Ende leider zum Verhängnis wird. Dabei spielt eine hübsche Kuh, die als Erste die weite Reise aus Frankreich überlebt hat, eine wichtige Rolle. Mit ihrer Milch, die nächtens unter höchsten Gefahren gemolken wird, backt Cookie köstliche Brötchen, die sich bald als Verkaufsschlager unter den Trappern erweisen. Denn sie bringen ein bisschen Süße und Heimatgefühle in den harten Überlebenskampf. Das Pionier-Leben besteht eben nicht darin, Postkutschen zu überfallen und mit rauchenden Colts zu wedeln, sondern in der kräftezehrenden Urbarmachung einer alles überwuchernden Vegetation. Trostlos und karg ist der Alltag.
Mit gängigen Klischees und Stereotypen dieses Abschnitts der amerikanischen Geschichte zu brechen, darum ging es der Regisseurin ebenso wie um die Darstellung einer anderen Art von Maskulinität. So ist Cookie einer, der nicht nur die spärliche Hütte, in der er mit seinem Partner lebt, putzt und mit Blumen dekoriert, der Früchte und Beeren sammelt, backt und kocht, sondern auch mit der einsamen Kuh redet, wie mit einem Menschen. King-Lu steht eher für das Fantastische, für das Wagemutige, für den Blick in eine bessere Zukunft. Wie sich diese beiden unterschiedlichen Charaktere langsam annähern, wie aufmerksam und offen sie sind, wie Freundschaft und Vertrauen entstehen, zeigt der Film jenseits vieler Worte und in eng komponierten Bildern (4:3 Format, Kamera: Christopher Blauvelt). So ist der Film nicht nur eine kunstvoll erzählte Demontage des „American Dream“, sondern auch eine schöne Kritik an der sogenannten Zivilisation, bzw. dem modernen Leben.
Jeder Fisch, jeder Pilz, jeder Tropfen Milch, ja sogar jeder Knopf hat hier noch einen Wert. Am Ende aber siegen Macht, Gier und Gewalt.
„Dem Vogel ein Nest, der Spinne ein Netz, dem Menschen die Freundschaft“ – dieses Zitat von William Blake ist dem Film vorangestellt. Ein ungewöhnlicher Western zum Thema Freundschaft. Spannend, zuweilen auch witzig, melancholisch, nachdenklich, schön.
Daniela Kloock
ganz oben: Nina Hoss, Lars Eidinger | Schwesterlein von Stéphanie Chuat, Veronique Reymond, CHE, 2020) |Wettbewerb | © Vega Film
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