Viel Ernstes aus dem Diesseits und Jenseits
Bei den Solothurner Filmtagen ging es oft um sehr Existentielles
Schweizer Filme haben es schwer. Sie sind vom Medienabkommen der EU seit fast zwei Jahren ausgeschlossen, gelten seither nicht mehr als europäisch und konkurrieren somit „schutzlos“ gegen asiatische, us- und lateinamerikanische Filme. Zudem sind sie extrem klischeebehaftet. „Heidi“ und „Schellen Ursli“, die für die schweizer Kinos erfolgreichsten Filme des Jahres 2015, bestätigen diese Vor-urteile. Doch Heimatverbundenheit, Natureuphorie und eine geografische und zuweilen vielleicht mentale Enge führen auch zu Aus- und Aufbrüchen.
So gab es bei den 51. Solothurner Filmtagen (21.1. bis 28.1.) eine nicht unerhebliche Anzahl an Filmen, die einen kritischen Blick hinter die schönen Berge, die Sauberkeit und den calvinistischen Ethos wagten. Gewalt gegen andere Menschen und die Natur war ein ebenso durchlaufendes Thema, wie Protagonisten, die sich auf die Reise machen, nachdenkliche bis ins spirituell-religiös reichende Filme neben Filmen mit politischer Aktualität. Und auffallend viele Filme, die sich kritisch-reflexiv mit der Keimzelle der Gesellschaft beschäftigen.
Familiengeschichten
Beispielhaft hierfür steht der diesjährige Preisträger-Film „Das Leben drehen – Wie mein Vater versuchte, das Glück festzuhalten“ von Eva Vitija. Die „Prix de Soleure“-Jury, bestehend aus der deutschen Schauspielerin Julia Jentsch, der Schweizer Botschafterin Heidi Tagliavini und dem rumänischen Regisseur Calin Peter Netzer, entschied sich hierbei für einen Debütfilm. Der Vater der 1973 in Basel geborenen Regisseurin filmte zwanghaft sein Familienleben, sehr zum Missfallen der Kinder. Nach seinem plötzlichen Tod beginnt die Tochter anhand des Filmmaterials den Kosmos des Bessesenen zu durchforsten und zu demontieren – fast wie in einer psychoanalytischen Kur handelt es sich dabei um einen langen Prozeß mit vielen schmerzhaften Momenten; immer verbunden mit der Frage, was Bild-Nahme überhaupt für die Fotografierten und den Fotografierenden bedeutet.
Herausgekommen ist ein sehr intimer Film aus einer Zeit als Kinder noch nicht selbstverständlich mit und vor dem Smartphone der Eltern aufwuchsen.
In die Richtung „Aufarbeitung von Traumata“ – jedoch mit einem sehr experimentellen Zugang – ging auch die Doku von Nathalie Pfister „Familienbruchstück“. Eine Scheidungsfamilie wird mit ihren eigenen von Schauspielern nachgesprochenen Aussagen konfrontiert. Auch hier wird Intimität durchbrochen, der Zuschauer quasi Teil eines therapeutischen Sets. Das kann man mögen – muß man nicht.
Das auffallend weibliche und auffallend überaltertePublikum jedenfalls fand Gefallen an dem Thema „familiäre Aufarbeitung“. Und so erhielt den „Prix du Public“ dieses Jahr „Lina“ (R: Michael Schaerer), ein Film, der sich dem düsteren Kapitel fürsorgerischer Zwangsmassnahmen annimmt. Das Drama handelt von der gleichnamigen Protagonistin, die als junge Frau in eine „Umerziehungsanstalt“ gesteckt und gezwungen wird, ihr Kind zur Adoption freizugeben.
Vierzig Jahre später begegnen sich Mutter und Sohn. Die erst 17-jährige Hauptdarstellerin Rabea Egg erhielt für ihre Rolle den Schweizer Fernsehfilmpreis als beste Schauspielerin.
Vom Soziotop zum Biotop
Weniger psychologisch ging es bei den Filmen zu, die sich der Umwelt und Natur zuwenden. Regisseur Leonidas Bieri beispielsweise dokumentiert in „Andermatt – Global Village“ sieben Jahre lang die brutalen ökologischen und sozialen Umbrüche dieses von Abwanderung betroffenen Dorfes. Wie es jedoch dazu kommt, dass ein ägyptischer Milliardär sich ein ganzes Tal kauft um vollkommen ungehindert touristische Monsterarchitektur für die Superreichen dieser Welt zu bauen – das hätte man doch gerne genauer gewußt. Auf die ökologische Problematik der Alpen weist „Aletsch – Von Menschen und Eis“ hin. Caroline Fink läßt uns teilhaben am Schwinden des mächtigsten Gletschers der Schweiz mit seinen unglaublichen 27 Milliarden Tonnen Eis. Vor dessen Hintergrund ist der Mensch nurmehr ein kleiner Punkt – der jedoch die fatalen Konsequenzen des sogenannten Fortschritts nicht in den Griff bekommt. Dies thematisiert auch Alex Meyenfisch mit „Un besoin pressant“. Geschickt montiert der Regisseur Archivaufnahmen aus den 1960er Jahren zur Rettung des damals komplett verschmutzen Genfer Sees. Auch wenn dort heute unbesorgtes Baden wieder möglich ist, so macht der Film doch auf unerbittliche Weise deutlich wie wenig sich in über 50 Jahren getan hat, um unsere „Zivilisation des Abfalls“, unsere Müllkultur grundsätzlich zu stoppen. Und auch bei dem von insgesamt zehn Regisseuren gedrehten Film „Heimatland“ geht es um eine Umweltkatastrophe, bzw. darum wie „die braven Schweizer“ sich enthemmen, wenn die Apokalypse naht.
Am ökologischen Faden knüpft auch ein Film an, der zu einem der Höhepunkte der Filmtage hätte werden können und für den „Prix de Soleure“ nominiert war. „Sila and the Gatekeepers oft he Arctic“ von Corinna Gamma sorgte schon morgends um halb zehn für eine ausverkaufte Vorführung. Die in Los Angeles lebende schweizer Regisseurin behandelt das Abschmelzen des Eises in Grönland. Polarforscher einerseits und die seit Jahrhunderten dort lebenden Innuits andererseits dokumentieren und kommentieren den Klimawandel. Während die Wissenschaftler zwischen Hightech und Whiskey ein sorgenloses Leben führen – einmal im Jahr einfliegen und ihre Daten erheben – kämpfen die noch verbleibenden Jäger unter den Innuits ums nackte Überleben. Zu warme Winter, der Rückzug des Eises und damit ihrer Jagdgründe, absurde von Brüssel verordnete Fangquoten und andere bürokratische Hindernisse zwingen sie zunehmend in die Städte abzuwandern. Dort leben sie perspektivlos von Sozialhilfe. Corinna Gamma, die auch die Kamera führt, gelingen in diesen Eiswüsten zwar Bilder von großer Schönheit, jedoch leidet der Film vor allem an seinem Konzept – an der nicht nachvollziehbaren und letztlich auch überflüssigen Verschränkung der zwei „Betroffenengruppen“.
Deutlich stringenter waren die politisch ausgerichteten Filme angelegt, wie beispielsweise „Democracy – Im Rausch der Daten“. David Bernet verfolgt über zwei Jahre die Prozesse der Rechtsetzung der Europäischen Union zum Thema Big Data und Massenüberwachung, „Citizen Khodorkovsky“ von Eric Bergkraut beschäftigt sich mit der dramatischen Freilassung Chodorkowskis und seinem Leben im schweizer Exil, und „Offshore – Elmer und das Bankgeheimnis“ (R: Werner Schweizer) erzählt die Geschichte von Rudolf Elmer, der u.a. angeklagt wurde, Daten über schweizer Steuerhinterzieher an Julian Assange bzw. WikiLeaks übergeben zu haben.
Glücklicherweise gab es jedoch auch einiges zu entdecken, was nicht so zentnerschwer daher kam – wobei Leichtigkeit und Tiefsinn mitnichten Gegensätze sein müssen.
Den besten Beweis hierfür lieferten Filme wie „To Make a Comedy is no Fun – Jiří Menzel“, in dem der in Solothurn geborene Robert Kolinsky den umwerfenden Witz eines der ganz großen des tschechischen Kinos vorführt. Oder „Dedications“, der neben vielen anderen sehr touchierenden Momenten auch den grimmigen Humor des 2014 verstorbenen Peter Liechti wieder aufleben läßt. Auch „Fragments du Paradis“ von Stéphane Goël gehört in diesen Zusammenhang. Welch umwerfend komischen Einfälle sehr, sehr alte Menschen zum Paradies und zum Leben nach dem Tod haben, und wie man daraus einen Film montiert ohne die Interviewten vorzuführen oder gar bloßzustellen, das gehörte zu den filmischen Höhepunkten des Festivals.
Die feine Balance, dass ein Film gleichermaßen unterhaltend und anspruchsvoll, leicht und tief sein kann, schaffte auch der wunderbare Film „Welcome to Iceland“ von Felix Tissi. Eine kleine Gruppe von Menschen, die sich zufällig in der Einöde des isländischen Hochlands begegnen, müssen miteinander klarkommen um den richtigen Weg aus der inneren und äußeren Wüste zu finden. Eine Geschichte voller skurriller, tragischer und lustiger Momente mit herrlich spärlichen und geschliffenen Dialogen, ganz ohne Soundtrack und mit herausragenden Schauspielern, ein Roadmovie zu Fuß, großes Kinovergnügen!
Daniela Kloock
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