Daniela Kloock im Gespräch mit Prof. Gundolf S. Freyermuth
Daniela Kloock: Gegenwärtig verändert sich das Kino in vielerlei Hinsicht. Was können Sie als Medien- bzw. Filmhistoriker beobachten, kann man von einer Krise des Kinos sprechen?
Gundolf S. Freyermuth: Das Kino ist sein halbes Leben schon in einer Dauerkrise, ausgelöst von immer besserer Versorgung mit audiovisueller Heimunterhaltung. Vor einem halben Jahrhundert sorgte der Siegeszug des Fernsehens dafür, dass die Hälfte aller Kinos schließen musste. In den achtziger und neunziger Jahren begann dann mit Videokassette und DVD die nächste Kinokrise…
Und jetzt hat sich der Zugriff auf Filme weiter individualisiert und vereinfacht, indem ich über online Portale wie etwa MUBI.com die Filme direkt ins Haus hole – in immer besserer Qualität und für immer weniger Geld. Ich muss nicht mehr 7 oder 8 Euro bezahlen, auf abgewetzten Kinostühlen sitzen und dergleichen Unannehmlichkeiten hinnehmen, um einen Film zu sehen…
Ja, die ja schon Jahrhunderte alte Tendenz zur Heimunterhaltung setzt sich fort. Filme, wie es sie früher nur im Kino zu sehen gab, lassen sich immer früher und einfacher zu Hause ansehen. Bei der Konkurrenz von Film und Fernsehen oder Video ging es ja primär um verschiedene Methoden, recht ähnliche Produkte unter die Menschen zu bringen, nämlich linear erzählte Audiovisionen. Außerdem sieht man im Rückblick, dass die Differenz zwischen Film und TV gar nicht so groß war, bei aller Verschiedenheit zwischen Fernsehfilm und großer Hollywoodproduktion…
Jetzt aber kommt etwas qualitativ völlig Neues hinzu. Eine neue Sorte von Kunst und Unterhaltung macht dem Spielfilm Konkurrenz: Games, nonlineare Audiovisionen, die nicht mehr passiv betrachtet, sondern interaktiv genutzt werden.
Also das Kino als Abspielstätte der Ware Film sieht sich nicht nur mit veränderten Distributionsformen konfrontiert, sondern steht auch in Konkurrenz mit einem völlig neuen Medium?
Ja. Und so gesehen erleben wir eben heute nicht nur eine Krise des Kinos, sondern auch ein Krise des Films und des Fernsehens. Und das ist der große Unterschied zu den 1950er bis 90er Jahren. Damals blieb der Film als lineare Erzählform ästhetisch ohne Konkurrenz!
Sind die Games Ihrer Meinung nach die Leitmedien der Zukunft?
Ja. Aber Games vermitteln gänzlich andere ästhetischer Erfahrungen als Filme. Das Kino wird daher genauso wenig verschwinden wie das Theater, dessen Bretter einmal die Welt bedeuteten. Aber wie das Theater in der vorindustriellen Welt wurzelt, so ist der Film als Erzählform stark der industriellen Epoche verhaftet. Wie es eben bereits Walter Benjamin in seinem berühmten Aufsatz „das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit“ ausgeführt hat, ist der Film – im Vergleich zum Theater – die der industriellen Erfahrung angemessenere Erzählform. Das Theater drückt vorindustrielle Erfahrungen aus – die ja nicht mit der Industrialisierung gänzlich an Bedeutung verloren haben. Deshalb gibt es das Theater ja noch… Was für unsere Gegenwart bedeutet: Auch wenn wir die digitale Revolution erleben, bleibt die industrielle Wirklichkeit parallel dazu wesentlich erhalten. Wir haben ja weiterhin materielle Produktion und fahren im Alltag ja weiter Auto oder Eisenbahn…
Hart gesprochen kann man also sagen: Der Film ist die Kunstform audiovisuellen Erzählens in der industriellen Epoche. Und mit der Durchsetzung digitaler Kultur rücken neue audiovisuelle Erzählformen ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit, weil sie unseren neuen Weisen zu arbeiten und zu kommunizieren näher sind.
Wie verändert sich nun der Film selbst durch das Digitale?
Als der Film aufkam, beeinflusste er die älteren Künste. Der Roman wurde „filmisch“, das Theater versuchte gar, Filme zu integrieren. Ebenso wird sich jetzt das Kino der digitalen Kultur adaptieren müssen. Und in der Tat haben wir ja schon digitale Kameras, digitale Projektionen und digitale Distribution von Filmen.
Und der soziale Raum Kino, wie soll/kann der sich digitalisieren? Wie soll das konkret aussehen?
Nun, das Kino besteht ja eigentlich aus drei „Räumen“: Vorführraum, Leinwand und Zuschauerraum. Der Vorführraum wird bereits digitalisiert, mit digitalen Projektoren und digitaler Distribution. Auch was auf der Leinwand gezeigt wird, verändert sich. Etwa durch neuen, digital übertragenen Live-Content, also Opern oder Sportveranstaltungen. Da ist ein großes Potenzial, Dinge ins Kino zu bringen, die man eben nicht zu Hause haben kann, z. B. Gespräche mit Filmemachern, ob sie nun leibhaftig vor der Leinwand sitzen oder live aus einem anderen Weltteil dazu geschaltet werden. Und was den Zuschauerraum angeht, sehe ich die Notwendigkeit, auch hier Vorteile gegenüber der Heimunterhaltung zu schaffen. Die reale Gemeinschaft der Kinobesucher sollte durch virtuelle Communities ergänzt werden. So könnten Kinobesucher z. B. schon an der Programmgestaltung beteiligt werden. Und anschließend könnten ihnen Möglichkeiten zur Diskussion über das Gesehene geboten werden. Am Ende werden sich alle drei „Räume“ des Kinos unter dem Einfluss der Digitalisierung verändern. Und auch der Film selbst wird zu neuen ästhetischen Formen finden…
In welche Richtung wird das Ihrer Meinung nach gehen?
Wir beobachten die Beeinflussung des Films durch digitale Spiele ja schon eine ganze Weile. Denken Sie an die zahlreichen Experimente, im linearen Kinofilm nonlineares Erzählen zu simulieren, zum Beispiel durch die Dekonstruktion der filmischen Zeit durch spielerische Wiederholungsstrukturen, etwa in „Lola rennt“, „Memento“ oder jüngst „Inception“. Insgesamt hat sich das Kino unter dem Einfluss digitaler Spiele doch bereits so stark verändert, dass klassische Filme aus den vierziger Jahren, die wir einmal für sehr filmisch hielten – sagen wir „Casablanca“ oder „Big Sleep“ –, heute fast theaterhaft wirken. Im Vergleich dazu schaut Vieles im aktuellen Kino eher „gamish“ aus. So sehr hat sich der erzählerische Umgang mit Raum und Zeit verändert …
Aber die Manipulation von Zeit und Raum im filmischen Erzählen hat es doch immer gegeben, dass man Filme noch mal neu anfangen lässt usw. – hat das denn wirklich etwas mit der Digitalisierung zu tun? Vielleicht ist es doch eher so, dass man jetzt ein Publikum hat, dass bereit und in der Lage ist solchen Filmen zu folgen …
Richtig. Aber die Existenz eines solchen neuen Publikums ist natürlich ein Indiz für nachhaltigen Wandel. Und ebenso die auffällige Häufigkeit von Filmen, die nicht mehr traditionell linear erzählen wollen ….
Gleichzeitig sehe ich aber auch eine Tendenz zum Handgemachten, zum Klassischen und Spirituellen….
Nun, was bahnbrechend ist, entscheiden die Menschen der Zukunft. Der kulturelle Prozess ist ja einer der Auswahl, des Vergessens. Aus dem Jahr 1920 kennen wir noch den „Dr. Caligari“ und nicht die vielen durchschnittlichen Filme, die nichts wagten oder gar rückwärtsgewandt Theater abfilmten … Ich denke, in unserer Umbruchszeit geht es nicht um den Rückzug aufs Klassische, sondern darum, die Erfahrung des Übergangs von der industriellen zur digitalen Kultur ästhetisch innovativ zu gestalten.
In diesen Kontext der Innovationen bzw. der Übergänge gehört dann auch der Versuch Filme ins Dreidimensionale zu bringen, bzw. der gegenwärtige Hype um den stereokopischen Film. Wird 3D Ihrer Meinung nach das Kino attraktiver machen?
Also vorneweg etwas Grundsätzliches zum Thema 3D. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, es braucht circa 6 bis 7 Filme bis man sich an den Effekt gewöhnt hat. Die Synapsen müssen sich neu verschalten, wir müssen neu sehen lernen…Wir wissen ja auch aus den Anfängen der Perspektivtechnik, dass viele Zeitgenossen in der Renaissance den Mehrwert der Perspektivtechnik erst nicht erkannt haben, einfach weil sie die Perspektive gar nicht erkannt haben.
Ist es also jetzt eine Kulturtechnik, die erlernt werden muss, oder ein neurologisches Problem?
Beides. Vergessen wir nicht, dass über 10 Prozent aller Menschen ja physiologisch gar nicht in der Lage sind, 3D angemessen wahrzunehmen. Aber abgesehen davon müssen nicht nur die Zuschauer neu zu sehen lernen, auch die Macher müssen erst einmal lernen, mit dieser neuen Technik ästhetisch angemessen und kreativ umzugehen.
Wim Wenders hat hier in Paris gesagt, die Zukunft von 3D sieht er im Dokumentarischen, nicht im Spielfilm. Das hat mich erstaunt.
Ja, der Effekt ist im Dokumentarischen noch bedeutender als im Fiktionalen. Ich denke, Wenders hat recht. Die Industrie glaubt ja auch, dass sich 3D-Fernsehgeräte zunächst hauptsächlich für Sport verkaufen werden – wie im Übrigen einst die Farbfernsehen. Und bei Sportübertragungen handelt es sich ja um eine Form dokumentarischer Teilhabe. Die Menschen wollen das Gefühl haben, noch immersiver dabei zu sein. Ich denke, Sport wird sich als 3D-Seherlebnis durchsetzen, denn der Eindruck der Authentizität, des Dabei-Seins wird sehr stark gesteigert durch 3D.
Dann hätte am Ende eher Kracauer recht als Bazin?
3D bedeutet sowohl die Errettung der äußeren Wirklichkeit als auch das „total cinema“, das totale Kino! Beides auf einmal. Es ist eigentlich die Verschmelzung von Kracauer und Bazin…
Ist es denn Ihrer Meinung nach wirklich das totale Cinema?
Na, sagen wir, es ist ein weiterer Schritt dahin. Am Ende dürfte das totale Kino haptisch sein.
Ein total gewordenes haptisches Kino, das ist dann ja Disney… An der Stelle würde ich gerne noch auf ein anderes Argument hinaus. In Bezug auf 3D und vor allem auch auf die neuen Internetportale ist ja immer wieder von Kinobetreibern gerne die Rede vom Moment der Vereinzelung… also dass im Unterscheid zur sagen wir klassischen Kinorezeption eine Tendenz zur Vereinzelung stattfindet. Wie sehen Sie diesen Zusammenhang?
Wenn wir das klassische Theaterereignis im frühen 19. Jahrhundert betrachten: Der Zuschauerraum war taghell, bis Wagner ihn abgedunkelt hat, und das Publikum war auch nicht sonderlich still. Die Zuschauer haben miteinander kommuniziert im Theater. Demgegenüber war das Kino von Anfang an abgedunkelt. Auch heute noch ist man im Kino isolierter als im Theater, schon allein deshalb, weil der Film über die Kamera eine sehr starke Blicksteuerung betreibt. Hinzu kommt dann noch der Schnitt. In der Regel muss man also einen Kinofilm aufmerksamer betrachten als ein Theaterstück. Man kann den Blick nicht einfach schweifen lassen. Andererseits wird die 3D-Brille welche die Zuschauer voneinander isoliert, sowieso bald wegfallen. Sie ist ein Übergangsphänomen und das Äquivalent zum schwarzweißen Fernsehen. Das ist ein technischer Mangel, der über kurz oder lang verschwinden wird.
Also keine Tendenz zur Vereinzelung?
Nein, was ich eher sehe ist, dass wir in die quartäre Medialität kommen, also zu Medien mit Rückkanal. Bei Computerspielen zum Beispiel, da wird über Headsets geredet und gespielt. Auch wenn heute Leute TV gucken, chatten sie häufig gleichzeitig über das, was sie sehen. Da gibt es ein Publikum und einen Austausch – das ist keine Vereinzelung! Diese neuen Rezeptions-Gemeinschaften oder Publica sind softwarebasiert, d.h. ihre Mitglieder müssen nicht mehr im selben Raum sitzen, es entstehen neue virtuelle Gemeinschaften, eine virtuelle Nähe.
Ist dies übertragbar aufs Kino?
Das ist eine gute Frage. Ob das im Kino eine Option ist, weiß ich nicht. Das hängt nicht nur von den Lichtverhältnissen ab, sondern vor allem von der Konzentration, die Kinofilme erfordern. Aber von Kongressen oder Lehrveranstaltungen kennen wir solche Phänomene ja bereits. Dort gibt es immer häufiger eine doppelte Öffentlichkeit, die reale, die da sitzt und schweigt und zuhört, und die virtuelle, die online diskutiert, was im Realraum geschieht…
Okay, aber wir wollen ja übers Kino reden… Und in dem Moment, wo jemand chattet ist er nicht im filmischen Geschehen. Was passiert dann mit dem Moment der, sagen wir, vorbehaltslosen Hingabe? Wäre das dann noch Kino?
Es wäre jedenfalls nicht mehr das Kino, von dem wir heute sprechen… Aber das Theatererlebnis hat sich unter dem Einfluss der Industrialisierung stark verändert. Warum sollte sich also nicht nun auch das Kinoerlebnis unter dem Einfluss der Digitalisierung stark verändern?
Es bleibt also abzuwarten wie Kinobetreiber, die Filmindustrie, die Regisseure usw. auf diese technologischen Veränderungen reagieren werden. Herr Prof. Freyermuth, vielen Dank für das Gespräch.
Interview: Daniela Kloock
siehe auch: audiovisualitaet.freyermuth.com
- Highlights der 74. BERLINALE in der Sektion Forum - 24. Februar 2024
- Highlights der 74. BERLINALE in der Sektion Panorama - 23. Februar 2024
- Herausragendes im Wettbewerb der 74. BERLINALE - 23. Februar 2024
1 Pingback