„freedom to dream“
1995 wagte es der Videospielhersteller Sega mit „Comix Zone“ eine Chimäre aus Comic und Videospiel auf den Markt zu werfen. Der Protagonist hangelte sich von Bild zu Bild, sah sich mit Rätseln konfrontiert oder schlug alles Feindselige zu Klump. Solche Crossovers sind kompliziert und selten. Etwas subtiler setzte sich der tschechische Regisseur Vaclav Vorlicek mit der Thematik auseinander. Vorlicek haben wir übrigens auch „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ zu verdanken. Weinachten hätte er damit schon mal gerettet. „Wer will Jessie umbringen?“ konnte wohl nur in den 60ern entstehen. Während Frankreich die Werke der Nouvelle Vague feierte, nannte sich die Neuausrichtung des Kinos in der Tschechoslowakei Nova vlna. Der Spaß beginnt in einer Comicwelt. Die leicht geschürzte Heldin Jessie ist mit ihrer Erfindung, den Antigravitationshandschuhen, auf der Flucht vor zwei Schurken in Gestalt eines Cowboys und eines Superman ähnlichen Recken. „Ortswechsel“ in die Realwelt! Doktor Ruzenka Berankova steht kurz davor, die größte Erfindung ihres Lebens vorzustellen. Den Nobelpreis fest im Visier kommt es zur Demonstration. Mit ihrer Erfindung gelingt es nicht nur Träume sichtbar zu machen, sondern auch Alpträume therapeutisch zu behandeln. Versuchsobjekt Kuh leidet in der Traumwelt unter Schmeißfliegen. Nach einer Injektion ist das liebe Vieh die Plage los und liegt vernügt in der Hängematte. Was keiner mitbekommt, die verhinderten Träume transformieren sich in die reale Welt. Und da Frau Doktor nicht nur erfolgsgeil ist, sondern auch mißtrauisch, möchte sie natürlich wissen, was ihr Gatte träumt. Der, eine treue Seele, träumt, nach dem Lesen eines Comics, ganz unschuldig von der titelgebenden schönen Heldin Jessie. Ruzenka meint schon ihn ertappt zu haben, aber tatsächlich bricht sie die Grenze zur Phantasiewelt und am nächsten Morgen sind die drei Figuren des Comics in der realen Wohnung im Kommunismus angekommen. Es beginnt die Jagd auf die von ihr geschaffenen Geschöpfe.
Regisseur Vorlicek subversive Thematisierung von individueller und künstlerischer Freiheit dürfte spätestens auch beim letzten Zuschauer angekommen sein, als eine Comicfigur in einer Sprechblase die Freiheit zu träumen fordert. Damit hinterfragt Vorlicek den Konformismus, den Sinn der konsequenten Unterordnung des Individuums unter die Ideale einer Gesellschaft. Wo findet die Autorität des Staates ihre Grenzen? Im Schlafzimmer? Die Nova vlna fand wohl ihr Ende mit dem „Prager Frühling“, 1968.
Danach war solch leichte, absurde und durchaus auch frivole Auseinandersetzung mit der tschechoslowakischen Gesellschaft nicht mehr möglich. Die DVD stammt aus Tschechien, also falls man wieder mal zum Zigarettenkauf oder Knödelessen hinfährt, DVD mitbringen!
Andreas Thaetz
Wer will Jessie umbringen? / Kdo chce zabít Jessii? (Tschechoslowakei 1966, Regie: Vaclav Vorlicek)
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