Zu groß, zu klein, zu politisch, zu oberflächlich … Die Meinungen über die aktuellen Filmfestivals sind vielfältig und kontrovers. Anlässlich des 70. Jubiläums der Berlinale diskutierte Akademie-Präsidentin Jeanine Meerapfel mit den Künstlerischen Leiterinnen und Leitern bedeutender internationaler Filmfestivals (Carlo Chatrian, Karel Och, Eva Sangiorgi ) über die Entwicklung der Programme, über künftige Pläne und die Profile der jeweiligen Festivals.

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Kurz vor Beginn der 70. BERLINALE (die – nach 18 Jahren Dieter Kosslick – jetzt mit einer neuen Führung antritt) über dieses Thema zu diskutieren liegt nahe.

Der Einladung von Jeanine Meerapfel, Filmregisseurin und Präsidentin der Akademie der Künste Berlin, waren gleich drei Direktoren verschiedener Festivals gefolgt: Carlo Chatrian, der als neuer Künstlerischer Leiter der Berlinale für neue Impulse und Konzepte der BERLINALE sorgen soll, Karel Och (Künstlerischer Direktor des Mezinárodní filmový festival Karlovy Vary) und Eva Sangiorgi, die seit 2018 künstlerische Direktorin der Filmfestspiele Viennale in Wien ist.

Filmkritiker Andreas Kilb, der den Abend moderierte, versuchte redlich aber tendentiell vergeblich vor allem aus Chatrian Programmatisches für die Zukunft „herauszukitzeln“. Auf die entscheidenden Fragen danach, wie er die BERLINALE politisch und ästhetisch neu verorten wolle antwortete Chatrian ausweichend. Aussagen wie, dass sich das Kino in den letzten 10 bis 15 Jahren verändert habe, klingen vage. Es gäbe eben die alten politischen Zuordnungen nicht mehr, die in den 1960er oder 70er Jahren noch für Provokationen sorgten. Jeanine Meerapfel erinnerte in diesem Zusammenhang an den „Deer Hunter“ (Michael Cimino), der 1979 für einen riesen Eklat bei der BERLINALE sorgte, ähnlich übrigens wie 1970 Paul Verhoevens Film „o.k.“ über ein von US-amerikanischen Militärs vergewaltigtes vietnamesisches Mädchen (in der Hauptrolle Eva Mattes). Chatrian betonte, er wolle mit seiner Filmauswahl grundsätzlich eher überraschen als provozieren, eher nachdenklich machen, als große Emotionen erzeugen.

Auch sei die Idee, dass Kino subversiv sein solle antiquiert. Dem entgegnete Jeanine Meerapfel, dass zumindest in bestimmten Ländern dieser Erde Kino immer noch genau DAS sei. In Havanna habe sie dies jüngst bei einem Filmfestival erlebt. Warum eigentlich nur in bestimmten Ländern? Welche Strukturen verhindern es bei uns, dass Kino lebendiger und diskursiver sein könnte? Da war viel Ausweichen, dem man zugutehalten kann, dass Chatrian noch neu in Berlin ist. Es bleibt abzuwarten, wie er die BERLINALE die nächsten Jahre belebt und verändert. Wozu er sich aber eindeutig äußerte war, dass eine massive Verschlackung des Film-Angebots mit ihm nicht zu erwarten ist. 300 000 Zuschauer wollen befriedigt werden, dafür muss es die Masse an Angeboten geben, so seine Argumentation. Immerhin sind es dieses Jahr angeblich „nur“ 350 statt 400 Filme. Auch sei es gut, so meinte er, die unterschiedlichen Sektionen zu behalten. Hier verteidigte Chatrian seinen Vorgänger. Dies ermögliche einzelnen Filmen den Platz zu geben, der zu ihnen passt.

Auf den Wettbewerb jedenfalls darf man dieses Jahr gespannt sein. Chatrian hat viel Arthouse Prominenz nach Berlin eingeladen und damit schon einmal eine deutliche Akzentverschiebung vorgenommen. Auch die neu hinzugekommenen Sektionen „Encounters“ und „On Transmission“ klingen vielversprechend.

Und was war von den anderen Festivalleitern Interessantes zu hören? Eva Sangiorgi machte sich stark für die Aufhebung der Unterscheidung zwischen Spiel- und Dokumentarfilm. Das seien für die heutige Zeit keine sinnvollen Kategorien mehr und gehörten abgeschafft. Der Dokumentarfilm als Begriff käme aus einer alten Zeit, denn alle Arten von Filmen seien „Aussagen über die Welt“. Und jeder Film wäre letztendlich Ergebnis einer subjektiv konstruierten Wahrnehmung. Ob Sangiorgi zu viel radikalen Konstruktivismus gelesen hat? Wohl eher ein Thema für ein akademisches Film-Seminar als eine Antwort auf die Frage nach Sinn und Zweck von Filmfestivals. Fast konterkarierend zu derlei philosophischen Zuspitzungen gab sich Karel Och, der neben allerlei Anekdoten auch den ökonomischen Faktor eines solchen Mega-Events ins Spiel brachte. Dass Karlovy Vary ausschließlich privatwirtschaftlich finanziert wird und welche entsprechenden Abhängigkeiten es dadurch zu berücksichtigen gilt, führte er kurz aus. Och jedenfalls hat sein Festival-Film-Angebot um 20 Prozent verkleinert.

Dass die Vielgestaltigkeit von Kino nicht mehr im Kino stattfindet, sondern auf Festivals – in diesem Punkt waren sich alle einig. Angesichts der nur aufs wirtschaftliche Überleben ausgerichteten Kinos dominieren dort die „feel-good movies“ und die großen US-amerikanischen Produktionen. Nur die Festivals garantieren noch Einblicke in das Filmschaffen anderer Länder, garantieren Zugang zu ungewöhnlichen und unkonventionellen kinematographischen Erlebnissen. Und – dies wird in derlei Runden immer gebetsmühlenartig wiederholt – die Festivals seien ein Ort der Kommunikation. Letzteres halte ich dann aber doch weitestgehend für fragwürdig. Klar, die Branche trifft sich, die Fachbesucher verabreden sich, die Journalisten tauschen sich aus, die Stars feiern sich. Aber das Publikum, die „normalen“ Kinozuschauer, finden vor allem in Berlin keinen Ort der Begegnung, der es möglich macht in größeren Runden über das Gesehene zu sprechen. Aus den Kinos wird man immer schneller hinauskomplementiert, weil der nächste Film schon wartet. Und der Berliner Potsdamer Platz ist und bleibt ein Un-Ort, zugig, verschattet, unwirtlich. Dabei gäbe es so viel ungenutzten „öffentlichen Raum“ in der unmittelbaren Umgebung. Aber das ist ein anderes Thema.

Daniela Kloock

Bild oben: Der rote Teppich am Berlinale Palast bei der Premiere des Films Viceroy’s House

Autor: Martin Kraft – Eigenes Werk

Erstellt: 12. Februar 2017

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