Karl May lebt – unter anderem in der Darstellenden Kunst.

Ein Schriftsteller kennt keine Geheimnisse vor seinen Lesern,
er gehört zu ihnen und sie zu ihm – wie der Vater zu seinen Kindern.

Karl May

„Im Indianerland steht ein hoher Stein, / Viel hundert Jahr` alt, allen zur Pein. / Auf seinem Scheitel haust der Sturm, / Unten krümmt sich der wilde Wurm“, heißt es in einem alten Trapperlied. Mit dem hohen Stein könnte das ŒuvreKarl Mays gemeint sein, das nach Meinung seines Schöpfers „granitene, marmorene, alabasterne und goldene Kolossalgedanken“ enthält und wie ein erratischer Block aus der deutschen Indianerliteratur herausragt. Könnte, hätte es ein paar Jahrhunderte mehr auf dem Buckel. Denn der „Shakespeare der Jungen“ (Ernst Bloch), der vor 170 Jahren in Hohenstein-Ernstthal zur Welt kam, feiert dieses Jahr – am 39. Tag der Fastenzeit – seinen gerade mal hundertsten Todestag.

„Im Indianerland steht ein hoher Stein“: Deckelbild von Carl Lindeberg zu "Satan und Ischariot I"

„Im Indianerland steht ein hoher Stein“: Deckelbild von Carl Lindeberg zu "Satan und Ischariot I"

Mit ihm feiern zahlreiche Verlage: Die Flut der Neuerscheinungen reicht von Comic- und Hörspieladaptionen über Mikrobuchausgaben – eine „samtausgeschlagene Halbleinen-Kassette mit Kunstleder-Schließe“ beherbergt May-Kleinodien im Goldschnitt, dazu eine „Meissener Porzellanmedaille“ – bis hin zu Best-of-Sammlungen und Nachdichtungen. Darunter eine Neuauflage knirschender Gedichte („Still, es krächzt der Eichelhäher, / Ben Nemsis Gruppe kommt schon näher“), verfasst von Roger Willemsen, der nicht fehlen darf, „wenn gelehrte Männer in den Sattel ihres Geistes steigen, um in seinem Reiche herumzugaloppieren“, wie Pekala, die schwatzhafte Köchin, im Silbernen Löwen sagt.

Begleitet werden die Feierlichkeiten von Diavorträgen, Busrundfahrten, Tombolas und Karl-May-Gottesdiensten, einer davon in der – igitt! – Reformationsgedächtniskirche Nürnberg-Maxfeld. Als ginge es darum, mit allen Mitteln zu beweisen, dass das 100-bändige Werk, sollte es auch Schimmel, Rost und Schwamm angesetzt haben, noch immer lesbar und wirkungsmächtig ist.

„Der Zorn kocht in meiner Seele, und der Grimm dampft in meinem Herzen. Wenn ich den Kerl erfahre und erwische, der auf meinem Pferde gesessen hat, den zerschneide ich von oben herab in zwei ganz gleiche Hälften, so dass er niemals wieder reiten kann, sondern sobald er aufgestiegen ist, zu beiden Seiten wieder herunterfällt!“ droht Halef, der Diener mit den vielen Namen, im dritten Bande von Im Lande des Mahdi. (Mehr Namen hatte nur Walter Kempowski, der sich auf seinen Briefbögen und wenn stimmt, was ich jüngst in einem Fachbuch las, in den siebziger Jahren Walter Krempowski, Walter Klimbimbsky, Walter Kompotzky usw. nannte.)

Dass man Hadschi Halef Omar wörtlich nehmen darf, bestätigt hundert Jahre später Peter Hacks. „Man kann, so lehrte damals die Erfahrung, gleichzeitig rechts und links vom Pferd fallen“, heißt es in Zur Romantik. Auch wenn Halef einen kriminellen Kelhur-Kurden und Hacks Leo Trotzki im Auge hat (mit dem Pferd ist übrigens Lenin bzw. „Lenins Linie“ gemeint)1 , mich würde es nicht wundern, wenn die bewusste Erfahrung eine Leseerfahrung ist und Hacks sie der Lektüre des Mahdi verdankt.

In seinem Roman Und Friede auf Erden! zitiert der Jubilar seine Großmutter. „Bilde dir ja nie ein, dass du besser seist als andere Leute! Hinter jedem Menschen, mit dem du sprichst, steht sein Engel. … Und bedenke, dass der Engel des Negers genauso licht, so rein und dankbar wie der deine ist!“ Womit wir bei Günter Wallraff wären, dem Engel der Callcentergeschädigten, Obdachlosen usw.

Dass Wallraff sich von einer May-Novelle zu seiner letzten Maskerade hat hinreißen lassen, hatte ich bereits im Text  „Das Geheimnis der gelben Tüte; Leben und Taten des Kwami Ogonno: Günter Wallraff hat einen Blaxploitationfilm gedreht“ angedeutet und vermutet, dass die „Hausschatz“-Erzählung Der Boer van het Roer mit ihrem Sympathieträger Quimbo für „Schwarz auf Weiß – eine Reise durch Deutschland“ Pate gestanden haben könnte. Da kannte ich die zweite Quimbo-Geschichte An der Tigerbrücke noch nicht.

„Schwarz auf Weiß“: Günter Wallraff als Kara Ben Nemsi (Bild: X-Verleih)

„Schwarz auf Weiß“: Günter Wallraff als Kara Ben Nemsi (Bild: X-Verleih)

„Kennst du mich nicht mehr?“ begrüßt der Ich-Erzähler seinen alten Freund und Diener, der auch diesmal wieder seinen Lieblingsschmuck, zwei Kuhglocken, um den Hals trägt. „Ich bin das gut`, lieb` Deutschland, mit dem du damals bei dem Boer van het Roer gewesen bist.“ Nach stürmischen Liebkosungen läßt Kara Ben Nemsi sich von Quimbo, dem Basutokaffern, das Gesicht „mit angeräuchertem Korke“ färben, um Mädchenfängern auf die Spur zu kommen.

Die Prozedur, die wie vom Blatt gefilmt „Schwarz auf Weiß“ eröffnet, hatte schon Josef Ulrich ins Bild erlöst. Über 800 Schwarzweißgemälde hat der böhmische Illustrator zwischen 1898 und 1907 für den Prager Verlag Vilímek angefertigt und ist dem Geist der Vorlage dabei erschreckend nahegekommen – näher als Wallraff, der sich in „Schwarz auf Weiß“ aus Gründen des Markenrechts nicht Quimbo, sondern Kwami nennt.

Wer von Kwami Ogonno spricht, darf von Jim Knopf nicht schweigen. In den achtziger Jahren kam man beim Thienemann Verlag auf die Idee, das Flaggschiff des Hauses optisch aufzumöbeln. Die klassischen Tuschezeichnungen F. J. Tripps mussten Darstellungen weichen, die Lummerland und Umgebung ins Ruhrgebiet verlegten. Hatte der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt – zu dessen Drahtziehern Günter Wallraff zählte – die Finger im Spiel? Der Scheinriese Tur Tur sah aus wie ein vietnamesischer Reisbauer und Meerkönig Lormoral erinnerte an den Kölner „Proll-König“ Zeltinger. Ein Paradebeispiel, wie Bebilderungen, besonders solche mit Pfiff, in die Hose gehen können.

Einen Streifzug durch die bewegte, 130jährige Geschichte der Karl-May-Illustration unternimmt seit 2004 die Reihe Traumwelten, deren dritter und letzter Band rechtzeitig vor den May-Feiern erschienen ist. „Jeder Zeichner wird anhand seiner besten und schönsten Werke exemplarisch vorgestellt, um so die Charakteristika seines Schaffens treffend zu dokumentieren“, hat es in Band 1 geheißen – wie immer in solchen Fällen kann man sich über Auswahl und Gewichtung trefflich streiten.

Was beim Blättern in den prachtvollen Bänden – zwischen den Deckeln tummeln sich 1.000 oft seitenfüllende Abbildungen – auf Anhieb erfreut: Viele der Interpreten nähern sich den Texten – wie bei einer Audienz – gebückt, und nicht wenige gehen mit dem Ethos von Herrgottschnitzern an ihr Werk; eine Handreichung, auf die der deutsche Verlag bei seinen „Grünen Bänden“ verzichten wollte – angeblich, um die kindliche Phantasie nicht zu beschädigen. Dass die Devotionalien oft ansehnlich ausfallen, ist vor allem den tschechischen Ausgaben zu danken, von denen viele üppig illustriert waren. Mitunter, so Walter Benjamin, „zischt an Stellen des Daseins, von denen wir es am wenigsten dachten, ein Geysir neuer Bildwelten auf“ – und liegt Segen auf der Sache, dann durchdringen sich Text und Bild responsoriumsartig: Hier verewigten sich Zdeněk Burian und Josef Ulrich, Věnceslav Černý und Gustav Krum, und auch wenn keiner dieser Meister ein Riou oder Phiz ist, so findet sich doch eine Fülle ansehnlicher Imaginationen. Zumindest Krum und Burian – der 20.000 Arbeiten hinterlassen haben soll, darunter zahllose Ursumpf- und Saurierbilder – sind in den Traumwelten opulent vertreten.

Bechern mit Old Death: "Gouache" von Zdeněk Burian

Bechern mit Old Death: "Gouache" von Zdeněk Burian

Auf mittelmäßige, wenn auch karlmayhistorisch wichtige Figuren wie Claus Bergen und Carl Lindeberg entfallen leider je 100 Seiten, während Meistern wie Oskar Herrfurth und Josef Ulrich keine 20 gegönnt werden. Ulrich handelt sich überdies eine Rüge ein. Zwar habe er „großes Geschick bei der Auswahl interessanter Motive bewiesen, doch wirkt die künstlerische Durchführung nicht immer vollauf befriedigend, da recht häufig der Humor überbetont und viele Figuren ins Lächerliche verzerrt sind“.

„Die wenigen Schritte zum Braunen hin konnte ich wagen ...“: Illustration von Josef Ulrich

„Die wenigen Schritte zum Braunen hin konnte ich wagen ...“: Illustration von Josef Ulrich

In 20 Bänden der Gesammelten Reiseerzählungen (später kamen noch die Jugenderzählung Der Sohn des Bärenjägers und der Fantasyroman Ardistan und Dschinnistan hinzu) lässt Ulrich Mays Helden als Deppen auftreten. Wie das „gut`, lieb` Deutschland“ durch die Savannen stolpert, hat niemand so schön in Szene gesetzt wie er (abgesehen von Oskar Herrfurth, dessen Output mit rund 100 Motiven vergleichsweise bescheiden ausfiel).

Sam Hawkens & Co.: Autotypie von Oskar Herrfurth, 1893

Sam Hawkens & Co.: Autotypie von Oskar Herrfurth, 1893

Das Irritierende an den Bildern ist, dass man sich nie sicher sein kann, wie sie gemeint sind – schließlich schmücken sie die erste tschechische Werkausgabe, sind also vom Mayster (so nennen ihn seine Fans) autorisiert. Wie Falschgeld steht der deutsche Übermensch, von Malaisen und Zipperlein geplagt („Wie die Schwimmer von einem Schwimmkrampfe sprechen, so reden die Westmänner von einem Anschleichekrampfe, welcher gar nicht weniger gefährlich ist als der erstere“, klagt der Held im Sohn des Bärenjägers), in der Prärie, umspielt von wechselnden Schurken und Sidekicks, von denen besonders Dick Hammerdull, der Urgaul Smihk und Old Wabble gut getroffen sind. Letzterem, einem klapperdürren Rassisten, dem May gehässigerweise „Niggerlippen“ andichtet, hat Ulrich das Gepräge des Bluesgitarristen Johnny Winter verliehen.

Bedauerlicherweise würdigen die Traumwelten kaum Abstruses. Wollte man sich seine Schiba-bigks und Schahko Mattos, seine Kolma Puschis und Lata-nalgas nicht madig machen lassen? (Nebenbei: May war ein großer Namensgeber, nur in Sachen Pferdenamen blieb er merkwürdig blass. Was sind seine Hatatitlas und Iltschis, seine Rihs und Sahms gegen die Rösser der Weltliteratur, gegen Mopsus und Sturmi?)2 Und warum mußte man den Farbtafeln, die man dem Lieferungsroman Das Waldröschen oder Die Rächerjagd rund um die Erde entnahm, die Beschriftungen rauben, die dem Art-Brut-Charme der Tafeln erst ihre Wucht verleihen?

Chromotafel zu "Das Waldröschen"

Chromotafel zu "Das Waldröschen"

 

1 Der Satz davor lautet: „Trotzkis Politik ist die Summe aller rechten und linken Abweichungen von Lenins Linie.“
2 Mopsus findet sich bei Théophile Gautier, Sturmi bei Thomas Mann. Und Lata-nalga bedeutet, lt. Arno Schmidt, „Breit Arsch“.

Bilder: Wolfgang Hermesmeier/Stefan Schmatz: Traumwelten I-III. Bilder zum Werk Karl Mays. Karl-May-Verlag, Bamberg 2004-2010

Viele der komischen Schwarzweißgemälde von Josef Ulrich kann man in der sogenannten Weltbild-Ausgabe, einer Art Billigversion der historisch kritischen Werkausgabe (HKA), bewundern.

Autor: Wenzel Storch

Text: veröffentlicht in konkret 4/2012

FORTSETZUNG: Karl May goes FKK