DIE VERWEIGERUNG
Qui est Farocki?« fragte die französische Filmzeitschrift Cahiers du cinéma 1981, als Harun Farocki gerade mit dem Spielfilm »Zwischen zwei Kriegen« international Aufmerksamkeit erfuhr. Damals umfasste seine Filmographie, die 1966 mit zwei Kurzfilmen fürs Fernsehen beginnt, bereits 40 Titel. 1983 stellte der Filmhistoriker Thomas Elsaesser Farocki in einem Vortrag »als Westdeutschlands bekanntesten unbekannten Filmemacher« vor. Darüber hinaus gab es aber noch den Essayisten Farocki, den glänzenden Polemiker (»Ohne die Zinsen für zu spät ausgezahlte Honorare hätten alle Sender ein Stockwerk weniger«), den Redakteur der legendären Zeitschrift Filmkritik, den Schauspieler, Produzenten und Godard-Fan. Im Sommer 2002 konnte Thomas Elsaesser Farocki in Senses of Cinema bereits als »Deutschlands bekanntesten wichtigen Filmemacher« vorstellen.
Will man den politischen wie ästhetischen Weg Farockis von seinen Anfängen im Hamburger Boheme-Treffpunkt »Palette« in den frühen sechziger Jahren – bei Hubert Fichte firmiert Farocki als »der schiefe Inder« mit dem Wittgenstein unter dem Arm – über die (kurze) Zeit als Student an der Deutschen Film- und Fernsehenakademie Berlin (DFFB), die langen Jahren als freier Filmemacher, der unter prekären Bedingungen produziert, bis hin zu der Zeit, als Farocki sich in der Kunstszene durchgesetzt hatte und selbst an Akademien lehrte, nachzeichnen, dann lohnt die Erinnerung an die große Harun-Farocki-Ausstellung im Museum Ludwig in Köln 2009. Begleitet von einer umfänglichen Filmreihe waren dort ständig zu sehen: die komplexe Installation »Deep Play« (2007), eine vielschichtige und höchst informative Aufbereitung von Bildern zum WM-Endspiel 2006 zwischen Frankreich und Italien; die Installation »Arbeiter verlassen die Fabrik in elf Jahrzehnten« (2006) – eine Variation von Farockis Film »Arbeiter verlassen die Fabrik« von 1995 –; und die Installation »Immersion« (2009) über ein Computerprogramm der US-Armee zur Therapie traumatisierter Soldaten aus dem Irak-Krieg. Zu sehen war aber auch die selbstreflexive erste Installation »Schnittstelle«, die der Filmemacher 1996 auf Einladung des Musée d’art de moderne Villeneuve d’Ascq produzierte, und auch ein ganz früher Kurzfilm Farockis: »Die Worte des Vorsitzenden«, ein phantasievoller und erstaunlich frischer Agit-prop-Film von 1967 mit Pop-Elementen und konzisem Witz, produziert anlässlich des Schah-Besuchs in Berlin. Als Regieassistentin fungierte hier Helke Sander, die Kamera führte Holger Meins; beide gehörten damals mit Farocki zum ersten Jahrgang der DFFB (siehe Interview auf den folgenden Seiten). In Köln bekam man einen Eindruck von der intellektuellen, ästhetischen und politischen Spannbreite seiner Arbeiten zwischen Lehr- und Agitationsfilmen, Beiträgen für das Kinderfernsehen, Essayfilmen, Direct-Cinema-Studien, Found-Footage-Filmen und Spielfilmen, die nicht zuletzt Ausdruck einer Suche waren und Irrtümer sowie Fehlschläge produktiv zu machen wussten.
Nach den beiden Spielfilmen »Zwischen zwei Kriegen« und »Etwas wird sichtbar«, die Farocki international bekannt machten, folgte eine Phase der Neuorientierung, als Farocki sich binnen kürzester Zeit mit vier Arbeitsweisen anderer Künstler auseinandersetzte: Heiner Müller, Peter Weiss, Robert Bresson und Danièle Huillet und Jean-Marie Straub. Im Gespräch mit der Zeitschrift Revolver bringt er diese Neuorientierung auf den Punkt: »Desillusionierung in einem guten Sinne: ent-täuschen, also Täuschung weg. So, wollen wir doch mal lieber die Welt anschauen, in der wir leben. In den achtziger Jahren fing ich mit Direct-Cinema-Filmen an.« »Leben – BRD« (1990) zeigt, wie eine Gesellschaft spezialisierte Räume ausbildet, in denen man den Alltag trainieren kann. »Die Schulung« (1987) und »Die Umschulung« (1994) zeigen Formen des Trainings für Manager vor und nach dem Mauerfall. »Worte und Spiele« (1998) zeigt, wie man Alltagsmenschen für einen Auftritt im Fernsehen trainiert. Immer wieder hat Farocki Menschen bei der Arbeit gezeigt, sei es am Set eines Films oder bei der Produktion eines Playboy-Centerfolds, sei es bei der Vorstellung einer Werbekampagne oder beim Verhandeln über Risikokapital. Im letzgenannten Fall –im Film – »Nicht ohne Risiko« (2004) – sammelte Farocki Material, das er bei seiner dramaturgischen Mitarbeit an Christian Petzolds Film »Yella« produktiv machen konnte.
»Leben – BRD« war Farockis letzter Film, der eine Öffentlichkeit erreichte, die man als der Rede wert bezeichnen könnte: Der Film wurde an 30 Orten »im fast schon wiedervereinigten Deutschland« (Farocki) gezeigt. »Als ›Videogramme einer Revolution‹ 1993 in Berlin in zwei Kinos Premiere hatte, kam in beide Kinos je ein Zuschauer«, schreibt Farocki rückblickend in der Broschüre Rote Berta Geht Ohne Liebe Wandern. Und folgert daraus, »dass für mich ›Das Kino‹ nicht einmal mehr ein Ort der symbolischen Präsenz war«.
In den seltensten Fällen sind seine Filme abendfüllend: »Die Worte des Vorsitzenden« dauert drei Minuten, der Film über die Dreharbeiten zu »Klassenverhältnisse« von Huillet/Straub (1983), in dem Farocki auch mitspielte, gerade einmal 26 Minuten, »Die Schöpfer der Einkaufswelten« (2001), der sich mit der Architekturpolitik von Shopping Malls beschäftigt, immerhin 72 Minuten.
Über seine Bevorzugung der kleinen Form sagte Farocki: »Gelegentlich hielten mir Freunde vor, ich habe nun schon fünf Jahre lang, seit ›Videogramme einer Revolution‹, keinen ›großen Film‹ mehr gemacht. Keinen abendfüllenden und keinen, den man mit einem Buch vergleichen könnte, eher kurze Filme wie Artikel, die man in Zeitschriften veröffentlicht. (…) Ich sagte natürlich, nur von einem karrieristischen Gesichtspunkt aus käme es auf diese Art von Hauptwerken an. Es sei doch gänzlich unmodern, einem bildenden Künstler vorzuwerfen, er oder sie mache nur Zeichnungen und käme nicht mehr zu den großen Formaten in Öl. Tatsächlich gibt es wenige Filmemacher oder Filmemacherinnen, die einen kurzen Film fürs Kino, für das Fernsehen oder für sonst eine Distributionsform machen, nachdem sie einen abendfüllenden Film gemacht haben. Es wurde mir bewusst, dass ich lieber die kleine Form wählte: und das, weil ich nichts Großes zu sagen hatte. Schließlich war die Sache, zu der ich mit meiner Arbeit beitragen wollte – die soziale Revolution – gerade nachdrücklich abgesagt worden. 1989 war das Gegenkdatum zu 1917.«
Beide Aspekte, die Farocki hier anspricht, gilt es zu bedenken. Der abendfüllende Film, besser noch der abendfüllende Spielfilm gilt als Ziel einer Karriere, die über kurze und mittellange Talentproben führt. Das ist die Regel, die sich immer wieder in Festivalkatalogen überprüfen lässt. Dass Farocki eher der kleinen Form zuneigte, trug vielleicht am Meisten dazu bei, dass ihn eine große Öffentlichkeit nicht als das wahrgenommen hat, was er war: ein europäischer Intellektueller von Rang.
Und was ist mit 1917? Nicht nur die unterschiedlichen Phasen der Projektentwicklung profitieren vom Verbund der Arbeiten, sondern auch die Filme kommunizieren auf mehreren Ebenen. Mitunter erlaubte es die Arbeitsweise Farockis, über die Jahre immer wieder dasselbe Thema zu bearbeiten – aus wechselnden Perspektiven und mit einem sich wandelnden Blick auf historische Veränderungen. Der Filmtitel »Bilder der Welt und Inschrift des Krieges« bündelt die Themen so unterschiedlicher Filme und Installationen wie »Nicht löschbares Feuer«, »Etwas wird sichtbar«, »Erkennen und verfolgen« oder »Ernste Spiele«.
Ein anderes Thema, das viele Filme Farockis durchzieht, ist die Arbeit, besser: die Reflexion auf das Verschwinden körperlicher Arbeit aus dem öffentlichen Raum. Wenn Farocki 1988 in einem verdeckten Selbstporträt den Schriftsteller und Schmied Georg K. Glaser porträtierte, spielte das Nachdenken über Arbeit und Kunst ebenso eine zentrale Rolle wie Jahre später bei der Durchsicht der Filmgeschichte für den Film »Arbeiter verlassen die Fabrik«.
Seit »Leben – BRD« sind Farockis Filme nicht mehr regulär in die Kinos gekommen und schon dieser Film hatte nach Farockis Ansicht nichts mehr mit 1917 zu tun. Auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen brach seither als zuverlässiger Partner weg. Die kurzen Filme wurden meist nur noch gebündelt, selten und zu sehr später Stunde gesendet.
Der Filmemacher sah sich gezwungen, aber auch in der glücklichen Lage, in die in- und ausländische Kunstszene, in Galerien und Ausstellungen wie die Documenta abzuwandern zu können, zumal er in diesem Rahmen vielleicht sogar mehr Zuschauer als im Fernsehen und in den Kinos erreicht. Typisch für Farocki, dass er auch diese Entwicklung auf luzide und hintersinnige Weise reflektiert hat: »Wird eine Arbeit von mir im Fernsehen gezeigt, so kommt es mir vor, als würfe ich eine Flaschenpost ins Meer, stelle ich mir einen Fernsehzuschauer vor, so ist er frei erfunden. In einem Kino scheint es mir jedoch, als könnte ich die kleinsten Schwankungen in der Aufmerksamkeit der Zuschauer auffassen und auf die Konstruktion des Filmstücks zurückschließen. Die Zuschauer von Vorführungen in Kunsträumen sprechen mich häufiger an als die von Kinovorführungen, ich kann aber schwerer verstehen, was ihre Worte bedeuten.«
Die Auseinandersetzung mit den Arbeiten Farockis bietet die Gelegenheit, eine undogmatische linke intellektuelle Biographie nach 1968 nachzuvollziehen, die vielleicht exemplarisch, wenngleich nicht unbedingt verallgemeinerbar sein dürfte: Von der Ideologie zur Weltanschauung, vom Materialismus zum Strukturalismus, vom Hinarbeiten auf die Revolution zu deren Abwicklung (»Videogramme einer Revolution«, 1990), von der Disziplinargesellschaft (Foucault) zur Kontrollgesellschaft (Deleuze). Farockis international Maßstäbe setzende – davon vermittelt die zur Londoner Ausstellung erschienene, prominent besetzte Aufsatzsammlung »Against What? Against Whom?« einen fast schon aufdringlich gewichtigen Eindruck – und politisch redliche Entwicklung einer »offenen« und stets neugierigen Anschauung der Welt wird fehlen. In seiner beharrlichen und scharfsinnigen Arbeit entlockte Farocki immer wieder industriell gefertigten Bildern aufmerksam Widersprüche und Überschüsse, zeigte die Sinnproduktion Bewegungen des ideologischen Apparats zwischen Mensch und Maschine und ist dabei immer auch, verdeckt mitunter durch einen trocken-lakonischen Witz, Trauerarbeit gewesen.
Ulrich Kriest
Text zuerst erschienen in Jungle World Nr. 32, 7. August 2014
Bild: screenshot (Ausschnitt) farocki-film.de
- Zum Tod von Harun Farocki - 10. August 2014
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