Ein Turm mit besten Ausblicken
Eine Ausstellung im Deutschen Architektur Zentrum zeigt mit einem Pariser Beispiel ein gebautes Manifest: die Nachkriegsmoderne recyceln!
Stell dir vor, du kannst dir deine Wohnung in der Innenstadt nicht mehr leisten. Du ziehst raus in ein Hochhausviertel und kannst vom Wohnzimmer aus die Skyline und den Fernsehturm sehen. Die Wirklichkeit ist nur eine Handbreit entfernt.
Im Deutschen Architektur Zentrum (DAZ) sind diese Aussichten zu sehen. Eine Ausstellung zeigt ein Beispiel, was man aus dem Erbe des industriellen Wohnungsbaus der 60er und 70er Jahre machen kann. Das Beispiel heißt Tour Bois le Prêtre. Er steht in einer Pariser Banlieue und ist Avantgarde, als er im Jahr 1961 bezugsfertig wird. Es ist eine Zeit, als Paris aus allen Nähten platzt, und der Architekt Raymond Lopez baut etwas Besonderes: 96 Appartements in einem 50 Meter hohen Turm mit versetzten streng quadratischen Fenstern. Aus heutiger Sicht sind ein Teil der Appartements mit 42 Quadratmetern sehr klein – aber seinerzeit ist das in den neuen Hochhäusern state of the art.
Ein Abrisskandidat
Später verwahrlost der Turm, so wie die meisten Hochhäuser in den Banlieues verwahrlosen. Eine lieblose Sanierung mit Styroporplatten in den 80ern gibt ihm den Rest. In den 90ern avanciert er zum Abrisskandidaten.
Bis die Architekten Frédéric Druot, Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal sich mit einem klugen Vorschlag durchsetzen, die auf den Hund gekommene Architektur zu recyceln. Abriss sei – in der Gesamtbilanz – immer Verschwendung, argumentieren sie. In einer Zeit, in der kostengünstiger Wohnraum in großen Städten zur immer knapper werdenden Ressource wird, sollte man sorgsam mit ihm umgehen und seine Potenziale nutzen. Sie entwickeln eine einfache wie schöne und ökologisch nachhaltige Lösung für den Tour Bois le Prêtre, rechnen aus, dass ihr Konzept billiger kommt, als das staatliche Abrissprogramm abzurufen – und überzeugen.
Der simple Kniff besteht darin, das Gebäude von seiner lieblosen Fassade zu befreien und anschließend mit billigen Mitteln zu erweitern. Rund um den Wohnturm wird ein Stahlgerüst mit gläsernen Loggien gestellt. Dahinter bleibt alles so, wie es war. Durch die zwei Meter breiten Loggien gewinnen die Bewohner einen Raum hinter ihrem Raum, in dem sie frühstücken oder Tomaten züchten können. Und weil die Eingriffe so sparsam sind, bleiben selbst die Mieten günstig. Der Wohnzimmersessel von Mieterin Madame Dorsemaine steht jetzt direkt vor der raumhohen, gläsernen Schiebetür, die ihr Wohnzimmer von ihrer neuen Loggia trennt, und zum ersten Mal genießt sie den eigentlichen Luxus des hohen Gebäudes: nämlich den freien Blick über die Stadt.
Der Umbau des Tour Bois le Prêtre ist mehr als eine Hochhaussanierung. Er versteht sich als gebautes Manifest. Das Programm „Plus – les grands ensembles de logements“ von Druot, Lacaton & Vassal ist ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, die gebaute Moderne als unvollendetes sozial-utopisches Projekt zu begreifen, das man weiterdenken muss – damit es wird, was es sein könnte.
Statt Gropius‘ Minimum für die Massen fordern sie Platz für jedermann. Großzügigkeit, Leichtigkeit, Raum. All diese Qualitäten brächten die Großwohnsiedlungen im Grunde ja mit. Mitunter, so wie beim Tour Bois le Prêtre, brauche man sie nur freizulegen, anzueignen und weiterzuentwickeln. Ein unerschöpftes Reservoir an Möglichkeiten. Denn wo, wenn nicht in den Großsiedlungen, gibt es eine solche Fülle von Wohnraum, der noch zu bezahlen ist?
Insofern könnte der Turm Ausblicke bieten – gerade auch für Berlin. In Berlin wie in Paris steigen die Mieten. Und längst wächst die Erkenntnis, dass eine Stadt, um Qualitäten eines lebenswerten und kulturell interessanten Ortes zu entfalten, verfügbaren Lebens- und Schaffensraum braucht. Und längst beziehen die ersten Gentrifizierungsverlierer und Stilpioniere die Hochhausviertel. Sie legen Beton frei. Und entdecken bislang unbekanntes Terrain.
Mit Panoramablick
Auch die Ausstellung im DAZ greift das Motiv der Ausblicke auf. Indem die Ausstellungsräume durch raumhohe Fototapeten den Panaromablick aus dem Tour Bois le Prêtre vortäuschen, wähnt sich der Besucher hoch oben. Im Raum stehen Gummibäume und Tische mit Häkeldeckchen wie im Wohnzimmer von Madame Dorsemaine. Man kann in ihrem Sessel sitzen und nach draußen schauen. Auch die Fotowand zeigt einen Sessel, in dem jemand sitzt und nach draußen schaut. Man sieht einen Raum hinter dem Raum. Verliert den Sinn für Distanzen. Und wer nah genug an die Wand herantritt, meint, Paris zu überblicken.
Weit hinten im Dunst erkennt er den Eiffelturm. Das Mögliche, will die Ausstellung sagen, liegt uns zu Füßen. Man muss es nur sehen.
Tina Veihelmann, taz 15.02.2013
Bild: © David Boureau; Tour Bois-le-Prêtre à Paris (17e)
AUSSTELLUNG:
Druot, Lacaton & Vassal – Tour Bois le Prêtre
Deutsches Architektur Zentrum DAZ, kuratiert von Andreas und Ilka Ruby, bis 31.3.2013
Ilka & Andreas Ruby, Peter Cachola Schmal
DRUOT, LACATON & VASSAL – Tour Bois le Prêtre
2012, Verlag Ruby Press
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