Der Text ist ein Kapitel aus dem noch unveröffentlichten Buch „Erinnerung unter Vorbehalt“ von Thomas Knauf
Kalter Krieg im Radio
Wer das Glück hatte, einige Jahre nach dem Weltkrieg in Mitteldeutschland statt im mittleren Westen der USA aufzuwachsen, der wurde nicht schon von frühester Jugend an durchs Fernsehen verdorben. Hinterm Mond lebten wir trotzdem nicht, wir hörten Radio, die Westsender NDR, BR, Deutschlandfunk, RIAS und Sender Freies Europa konnten wir nur schlecht empfangen. Auf Mittel- und Langwelle waren wir mit dem Rest der Welt verbunden, mehr oder weniger unverständlich, auf Kurzwelle mischte sich dauernd eine Stimme auf Russisch aus der Funkstation des nahen Flugplatzes ins Programm, weshalb wir nur UKW hörten. An den Namen des ersten Empfängers erinnere ich mich nicht, er stammte noch aus der Kriegszeit und roch nach Kampfer. Mitte der 50er Jahre kaufte mein Vater das neueste Modell aus dem VEB Elektro-Apparate-Werke J.W.Stalin in Berlin-Treptow mit dem schönen Namen Undine II. Es war mit gelbem Stoff bespannt und hatte ein grünes Glasauge, das je nach Empfangsstärke des Senders hell oder dunkel zwinkerte. Auf der Senderskala aus lindgrünem Glas standen so seltsame Namen wie Borkum, Gleiwitz, Hilversum, Luxemburg, Nizza.
Wenn ich nachts allein zuhause war und mich im Dunkeln fürchtete, schaltete ich das Radio an. Es dauerte fünf Minuten, bis die Röhren warm waren und Musik oder Stimmen aus dem Äther meine Angst übertönten. Die gesamte Bandbreite aller Wellen hörte ich ab, indem ich die Tasten KW, LW, MW, UKW drückte und den Senderknopf drehte. Manchmal erwischte ich auf Kurzwelle einen sogenannten Zahlensender, auf dem eine meist weibliche Sprecherin mit einem vorherigen „Achtung!“ Fünferreihen von Ziffern vorlas. Das konnte eine halbe Stunde so gehen und gefiel mir, obwohl ich keine Ahnung hatte, welchem Zweck die Algebra im Radio diente. Es handelte sich in diesen Fällen um verschlüsselte Nachrichten des DDR-Geheimdienstes an seine Kundschafter des Friedens im Westen, aber auch der BND benutzte diese Methode in umgedrehter Richtung im Kalten Krieg. Dass der Vater meines Schulfreundes Rüdiger Pieritz eine Zeitlang Agent des MfS in der Bundesrepublik war, wusste ich ebenso wenig. Rüdiger wohnte in einer runtergekommen Bauhaus-Villa am Krankenhaus meiner Mutter. Wenn ich dort zu Besuch war, zeigte mir mein Freund seine neuesten Zigarettenbilder mit Motiven aus Karl-May-Filmen. Manchmal sahen wir auch 8mm-Filme von Mickymaus und Goofy an, die es in der DDR nicht gab. Zuerst tauschte ich Teile der wertvollen Briefmarkensammlung meines Vaters gegen Karl-May-Bilder ein, als ich sie zurückbringen musste, weil Vater sauer war, klaute ich die Bilder und Rüdiger merkte es nicht einmal, weil er ständig Nachschub aus dem Westen erhielt. Später tauschte ich Winnetou und Old Shatterhand gegen Cadillac und Coca-Cola-Lieferwagen der Firma Matchbox ein. Die tauschte ich irgendwann gegen BRAVO-Poster, diese dann gegen Schallplatten von den Beatles, Kinks und Who, nur für die Rockoper Tommy musste ich das Grammophon meiner Großeltern mit Dutzenden Schellackplatten, darunter echte Kostbarkeiten wie Die tote Stadt von Korngold mit Richard Tauber und Aufnahmen der Commedian Harmonists. Doch Tommy, die Geschichte eines autistischen Jungen aus London, der durch Rockmusik aus seiner Isolation befreit wird, war wie für mich komponiert und geschrieben, ein Spiegel meines trostlosen Daseins in den von Krankenhausgeschichten meiner Mutter bestimmten Verhältnissen, wie Madame Bovary, der Frau des Landarztes Dr. Bovary, für den Idioten der Familie Gustave Flaubert.
Aber noch war der Beat der 60er Jahre Zukunftsmusik, das Radioprogramm wurde von Schlager, Volksmusik und Operette bestimmt, die mein Vater liebte, meine Mutter weniger, sie mochte die Sendung des NDR Zwischen Hamburg und Haiti. Darin berichteten Westdeutsche, die im Ausland lebten, von ihren Ländern. Jeden Sonntagvormittag lief Mutter zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her, um ja nichts zu verpassen. Für mich waren die dokumentaren Geschichten aus Übersee wie Märchen aus Tausendundeiner Nacht, sie legten das Fundament meines sich über die Jahre der Kindheit ins Krankhafte steigernden Fernwehs. In diesem Punkt war ich mit der Mutter einig, wir starben vor Sehnsucht nach fernen Ländern, jeder für sich und an verschiedenen Orten. Ich wollte Alexandria, Katmandu, Sansibar, Timbuktu sehen, Mutter Tholey in Österreich, wo sie vorm Krieg als BDM-Mädchen im Arbeitsdienst glücklich war, und einmal nach St.Moritz und Davos, den beliebten Ferienzielen ihrer Eltern. Vater träumte heimlich von Paris, wo er als Hallenser Armeleutekind ohne den größten Reise-Führer aller Zeiten, Herr Schickelgruber aus Braunau, nie hingekommen wäre. Hin und wieder schwärmte er auch vom Elbrus, dem höchsten Berg des Kaukasus, den er 1943 mit seiner Leica von oben fotografierte. Dank der grenzenlosen Radiowellen sahen wir ohne Reisefreiheit die Welt, wie der portugiesische Dichter Fernando Pessoa sagte: „Am besten geht man auf Reisen, indem man träumt.“ Doch in der Realität wurde unsere Welt immer kleiner, Mutter und ich durften zwar alle paar Jahre zu unseren Westverwandten in Steinhude am Meer fahren, Vater nur allein. Einmal nahm Mutter mich mit ins Saarland, wo die vier Brüder ihres Vaters wohnten, und wir fuhren mit einem westdeutschen Pass über die Grenze in den Elsass. Ich erinnere mich nur daran, dass in der Bahnhofshalle von Straßburg ein riesiger, schwarzer amerikanischer Soldat auf mich zukam und ich mich vor Angst hinter meiner Mutter versteckte. Nachdem er mir eine Tafel Herschey’s Blockschokolade reichte, hatte ich kein Problem mehr mit Negern.
Ende Oktober 1956 wurde ich Ohrenzeuge dramatischer Ereignisse, als im Budapester Sender Freies Radio Kossuth ein neues Kapitel der Geschichte des ungarischen Rundfunks verkündet wurde. „Lange Jahre hindurch war das Radio ein Werkzeug der Lüge. Es hat nachts gelogen, es hat tags gelogen, es hat auf allen Wellenlängen Lügen ausgestrahlt„ erklärte eine Stimme auf Deutsch mit österreichischem Akzent. Mein Vater, der sonst früh zu Bett ging, saß die halbe Nacht am Empfänger. Mutter bat ihn, den Ton leiser zu machen, da die Wände Ohren haben. Am nächsten Morgen blieb Vater zuhause und jubelte, als die Nachricht kam, dass die sowjetischen Panzer aus Budapest abgezogen seien. Doch wie die Magyaren hatte Vater zu früh gejubelt. Vier Tage später, als die Panzer erneut angriffen, schickte der neue Präsident Ungarns Imre Nagy einen dringenden Appell in den Äther. Er wurde in mehreren Sprachen alle fünfzehn Minuten verlesen: „Im Namen aller aufrichtigen Ungarn appellieren wir an alle aufrichtigen Menschen in der Welt… Liebt ihr die Freiheit? Die UN ist fähig, weiteres Blutvergießen zu stoppen… Wir haben keine Antwort auf unseren Appell erhalten… Nur militärische Hilfe kann uns retten…Wir bitten dringend um aktive Intervention, bevor es zu spät ist…“ Danach kamen nur noch von Schüssen und Explosionen begleitete verzweifelte Rufe von einem Amateurfunksender in Pest: „Wir sind verwundet… Das letzte Stück Brot ist gegessen… Wer begräbt die Toten?“ Am 4. November verkündete Radio DDR „Die Regierung Nagy ist nicht mehr im Amt, es herrscht Ruhe in den Straßen von Budapest… Genosse Wilhelm Pieck hat der Kádár-Regierung ein Grußtelegramm geschickt.“ Zum zweiten Mal in diesem vor Wahnsinn knallenden Jahrhundert war Ungarn von der Roten Armee befreit worden. Mein Vater verfluchte die Russen und den amerikanischen Präsidenten Eisenhauer, der auf das Hilfeersuchen der Nagy-Regierung geschwiegen hatte. Im BUNA-Werk hatte es rumort, die Arbeiter verlangten von ihren Parteisekretären Aufklärung über den angeblich faschistischen Budapester Aufstand. Wer zu viele Fragen stellte, verschwand auf Nimmerwiedersehen von seinem Arbeitsplatz. Mein Vater hatte keinen Bedarf an klärenden Gesprächen mit den Genossen, er war keiner und wurde trotzdem von ihnen gebraucht als Abteilungsleiter der Bauprojektierung. Zuhause schnappte ich Wortfetzen auf wie „rübergehen“, „ich mit dem Jungen über Helmstedt und du mit Sabine über Westberlin“, „entweder zusammen oder nicht.“ Streit gab es zwischen den Eltern regelmäßig, doch im Winter 56 eskalierte die Uneinigkeit derart, dass Vater zum Abendbrot oft nicht da war. Er esse mit seinen Kollegen im Klub der Intelligenz in Schkopau und kommt später, meinte Mutter genervt.
Ich konnte in der Schule mit niemandem über die Ereignisse in Ungarn reden, die meisten Schüler interessierten sich nicht dafür und von den Lehrern wurde das Thema totgeschwiegen. Ich habe nicht erlebt, dass jemand deswegen eingesperrt wurde, doch die Pionierleiter forderten uns regelmäßig auf, von heimlichen Hörern feindlicher Sender zu berichten. Da ich ein vorlauter, mitteilsamer Schüler war, blieb mir nur das Kino, um über Gesehenes und Gehörtes zu parlieren. Meine Eltern hatten fürs Kino nicht viel übrig, sie lieferten mich an der Kasse der Flohkisten ab und holten mich danach wieder ab. So teilten wir nie das Erlebnis des dunklen Raumes, wo auf der Leinwand alles überlebensgroß erschien. Nur, wenn ich zu Besuch bei Tante Inge in Berlin war, saß ich nicht allein im Film. Die bildschöne Frau des stellvertretenden DDR-Postministers Heinz Hemming konnte keine Kinder bekommen und liebte mich über alles. Oft ging sie mit mir ins Kinderkaufhaus am Straußberger Platz, wo es ein Kino gab. Die einzige Erinnerung ist ein chinesischer Zeichentrickfilm über einen Jungen, der einen Zauberpinsel besitzt, mit dem alles, was er auf Papier malt, lebendig wird. Dieser Zauberkasten, der die ersehnten und befürchteten Dinge real werden lässt, war für mich fortan das Kino.
Kino in der Flohkiste
In Schweden heißen Filmhäuser seit der Stummfilmzeit BIO, der Ort, wo die Biografien der Zuschauer belichtet werden, indem die gesehenen Filme sich mit persönlichen Ereignissen wie Verliebtheit, Liebeskummer und anderen Katastrophen/Glücksmomenten wie Knoten im Taschentuch zu unvergesslichen Erinnerungsfetzen verbinden. Für mich sind diese frühen Knoten ohne Erinnerungswert an äußere Ereignisse, nur was im dunklen Raum des Kinos Flohkiste in Merseburg geschah, blieb im Gedächtnis: Filme der DEFA wie Der kleine Muck, Das Kalte Herz, Das Feuerzeug, Die Geschichte vom armen Hassan; von MOSFILM Zar Wasserwirbel, Die schöne Wassilissa, Das schwedische Zündholz, Rette sich, wer kann!; die Westfilme Der Krieg der Knöpfe, Die Ferien des Monsieur Hulot, Toto und Peppino oder das Stummfilmprogramm Lachen verboten! mit Kurzfilmen von Charlie Chaplin, Buster Keaton, Harold Lloyd blieben mir im Gedächtnis. Die kinematografischen Knoten des Taschentuchs der Kindheit sind derart viele, dass für anderes kaum mehr Platz ist. An einen Film, den ich mit meinem Vater sah, erinnere ich mich deshalb, weil es in der Baracke der ehemaligen Zwangsarbeiter von BUNA, wo nach dem Krieg die Umsiedler aus Schlesien und dem Sudetenland hausten, entsetzlich stank, nicht etwa weil die erwachsenen Zuschauer während der Vorführung rauchten und Bier tranken, vielmehr wegen der Karbidfabrik gegenüber des in grauer Asche versinkenden Kino. Der Film hieß Schiffe stürmen Bastionen und handelte vom Seekrieg Russlands gegen die Türken Ende des 18.Jh. Ein zu recht vergessener Film des Regisseurs von Der gewöhnliche Faschismus und Neun Tage eines Jahres Michail Romm, doch in den Augen eines Sechsjährigen nicht weniger aufregend wie Master and Commander für einen sechzigjährigen Cineasten. Dass ich mich heute noch lebhaft an einige in keinem Filmlexikon erwähnten Lichtspiele erinnere, hat mit dem Nacherzählen zu tun, dass ich als Kind mit großem Eifer praktizierte, um andere Kinder, die nie oder nur selten ins Kino gingen, zu beeindrucken. Ohne kritische Reflexion und visuelle Interpretation musste ich den Inhalt der Filme so genau als möglich wiedergeben, nur Berichte, was nacheinander passierte. Die neugierigen Zuhörer erlebten den Film, den sie nicht sahen, wie Blinde, denen eine Off-Stimme der Handlung beschreibt. Ich muss als Erzähler gut gewesen sein, denn die Kinder aus meiner Nachbarschaft klebten an meinen Lippen, wenn ich wie Jesus am See Genezareth auf dem Schnorchel des Atombunkers für die Partei- und Staatsführung Merseburgs hinter unserem Wohnblock im Gerichtshain hockte und wild gestikulierend Kino predigte. Manches Mal erfand ich Situationen, die nicht in dem Film waren, um ihn spannender zu machen bzw. weil ich oft aufs Klo musste und ganze Szenen verpasste.
Dass ich zwanzig Jahre später Szenarist bei der DEFA wurde, hat wohl seine Logik, obgleich der Beruf des Drehbuchschreibers nur zweite Wahl war, nachdem ich für Regie an der Filmhochschule Babelsberg abgelehnt wurde. Mit meinem manischen Mitteilungsdrang hätte ich auch in die Politik gehen können oder als Moderator zum Fernsehen, die gnädigen Schicksalsgöttinnen Klotho, Lachesis, Atropos haben mich davor bewahrt.
An die Kinobesuche, die zum schulischen Pflichtprogramm gehörten, erinnere ich mich, weil wir unter Aufsicht der Lehrer um die Wette eiferten, welche Klasse den größten Blödsinn veranstaltet. Nach der Vorführung des monumentalen DEFA-Dokumentarfilms Das Russische Wunder verschüttete jemand Buttersäure im Saal und das Union-Theater musste für mehrere Tage das Kinoprogramm einstellen. Die Sache wurde nicht als dummer Jungenstreich abgetan, sondern als folgenschwerer Anschlag auf die deutsch-sowjetische Freundschaft, doch trotz stundenlanger Befragungen der Schüler und hektischer Aktivität der Genossen von der Staatssicherheit wurde der Täter nie gefasst. Obwohl ich in Chemie eine Vier auf dem Zeugnis hatte, verdächtigte man mich, weil mein Vater in BUNA arbeitete, wo man Butansäure (C3H7COOH) zur Herstellung von besonders festem Kunststoff verwendete. Weil aber jede Apotheke die nach Erbrochenem riechende, stark augenreizende Flüssigkeit an Kleingärtner zur Bekämpfung von Maulwürfen, Mardern und Wühlmäusen verkaufte, machte man mich dann doch nicht zum Sündenbock unfähiger Ermittler. An den Film über die Große Oktoberrevolution erinnere ich mich kaum, nur an eine Szene, wo die Zarenfamilie nackt in der Wolga badet. Kurz danach wurden sie alle auf Befehl von Leo Trotzki erschossen. Auch das Bad von Mao Tsetung im Jangtsekiang, bei dem angeblich hunderte Nichtschwimmer ertranken, die dem großen Steuermann blind folgten, erinnere ich aus dem französischen Film China – Land zwischen gestern und morgen, der 1958 statt Joris Ivens 600 Millionen With You in DDR-Kinos lief, weil der holländische Filmemacher und Kommunist den Einmarsch der Russen in Budapest kritisierte. 1956 drehte Ivens in Babelsberg den Spielfilm Die Abenteuer des Till Ulenspiegel mit Gerárd Philippe, den ich nicht in der Flohkiste sah, die schloss Ende der 50er Jahre ihre Pforten, sondern in der Sportlerklause der Radrennbahn unweit unseres Reihenhauses am Gerichtsrain. Dorthin ging ich fast jeden Sonntagnachmittag, um zwei Filme für 1,50 Mark hintereinander zu sehen. Der Saal, morgens und abends für Betriebsfeiern und Sportfeste reserviert, war um 15 Uhr meistens fast völlig leer, auf die zerknitterte Leinwand fiel das Tageslicht und der knarrende Filmton ging im Rattern des Kinoapparates TK35 unter, der mitten im Raum stand und öfters Bandsalat anrichtete. Auch gab es nicht immer zwei Koffergeräte, so dass alle zwanzig Minuten eine kurze Pause war, um die Filmrolle zu wechseln. Trotzdem waren es die schönsten drei Stunden der Woche, wenn ich nicht bei strahlendem Wetter mit den Eltern zum Sonntagsspaziergang in den Merseburger Schlosspark oder um den Gotthardteich gehen musste. Die Filme auf der Radrennbahn waren fast so alt wie ich und längst abgespielt in regulären Kinos, weshalb die Bilder aussahen, als wenn sie im Dauerregen spielen. Ihre Handlung huldigte auf heroisch-abenteuerliche Weise dem Kalten Krieg, wie Alarm im Zirkus, Operation Cobra, Zwischenfall in Benderath, Der König vom Böhmerwald. Von diesem tschechischen Film des Regisseurs Karel Kachyna bekam ich Alpträume. Am Ende der Jagd auf Banditen an der Grenze zu Bayern wird der Anführer abgeschossen und verbrennt mit seinem Motorsegler. Dass der König vom Böhmerwald in Wahrheit ein erfolgreicher Schleuser von Leuten, die genug vom Sozialismus hatten, war und nie gefasst wurde, erfuhr ich erst aus dem Internet, auch, dass 300 Tschechen auf der Flucht in den Westen ums Leben kamen. Ohnehin erinnere ich mich stärker an jene Filme, die in anderen zeitlichen Zusammenhängen spielen wie Ilja Muramez, Skanderberg – Ritter der Berge, Kotschubej, Berge brennen, Die Kreuzritter, Der Gejagte, Stechfliege. Letzterer war der erfolgreichste Kinofilm nach dem erfolgreichsten Buch der 50er Jahre in der Sowjetunion – eine tragische Liebesgeschichte aus dem italienischen Befreiungskrieg gegen Österreich im 18. Jahrhundert.
Noch übertroffen wurde der Schwarzweiß-Film aus dem Jahre 1955 durch den farbenprächtigen, utopischen Streifen aus den Lenfilm-Studios Der Amphibienmensch von 1962. Er basierte auf einem Roman von Alexander Beljajew aus den 20er Jahren und war die gelungene sowjetische Antwort auf kapitalistische Kinoadaptionen von Jules Vernes Kapitän Nemo. Dreimal hintereinander sah ich die bizarre Geschichte des Fischmenschen Ichthyander in den Goethe-Lichtspielen, wie das visionäre Tiefseemärchen nach Jules Verne Die Erfindung des Verderbens und das selbst von Spielberg nicht zu übertreffende Saurierabenteuer Reise in die Urzeit des tschechischen Kinovisionärs Karel Zeman. Aber all das war Kinderkram, sogenannte P6-Filme, und nicht halb so aufregend wie jene Filme, die man erst ab 14, 16 oder 18 ansehen durfte. Zum Beispiel der französische Kassenschlager Jugendsünde, für den 1959 die Schlangen vor den Kinos länger waren als vorm Konsum, wenn es Bananen gab. Und natürlich die Brigitte-Bardot-Filme der 50er Jahre Das Gänseblümchen wird entblättert und Babette zieht in den Krieg, die wegen Devisenmangels und moralischer Bedenken erst 1963 die Ostdeutschen ins Schwärmen brachten. Weil man beim Kartenkauf die Personalausweise vorzeigen musste, hatten Steppkes wie ich keine Chance, diese heissbegehrte Filmware aus dem NSW (nichtsozialistischen Währungsgebiet) zu sehen. Mit vierzehn gelang es mir, mich in einer Gruppe Sechszehnjähriger in den schwedischen Skandalfilms von 1951 Sie tanzte nur einen Sommer zu schmuggeln. Ein herbe Enttäuschung, denn außer der kurzen Nacktbadeszene war der Film zum Gähnen. Sogar das sowjetische Bürgerkriegsdrama Der letzte Schuss von 1957, in dem sich eine rote Kommissarin in einen gefangenen Weißgardisten verliebt, hatte mehr Sex und Leidenschaft als der kühle Schweden-Import, aber weniger Zuschauer als Moral 63, eine bitterböse Satire auf den Kölner Klüngel mit Nadja Tiller, der west-deutschen Antwort auf Kim Novak. Doch wir Niemandskinder aus dem Jedermannsland DDR waren seit 1957 hoffnungslos verknallt in Tatjana Samoilowa aus Wenn die Kraniche ziehen, dem traurigsten Sowjetfilm mit der schönsten Darstellerin über den Großen Vaterländischen Krieg. 1961 sahen wir sie in dem ungarischen Kundschafterfilm Alba Regia… bitte kommen und die kindliche Anbetung war dahin. Das Kino ist eine untreue Leidenschaft, mit jedem Film will es uns aufs Neue überwältigen mit den gleichen Geschichten und Darstellern, doch auch immer neuen Gesichtern.
In meiner Kindheit interessierten mich Filmstars weniger als spannende Szenarien. In der Pubertät war es umgedreht, die Handlung der Mantel-und-Degen-Filme Der Gejagte oder Die schwarze Tulpe war so überraschend wie die soundsovielte Verfilmung von Dumas Drei Musketiere. Der werdende Mann wollte sein wie Jean Marais und Alain Delon, weniger wie der DEFA-Haudegen Manfred Krug in Mir nach Canaillen! Ich weiß nicht mehr, wann mein Interesse an DDR-Filmen nachließ, aber nach den sensationellen Westimporten des staatlichen Filmverleihs Progress Die glorreichen Sieben (1963) und Abenteuer in Rio (1965), die im Völkerfreundschaft liefen, einem der wenigen DDR-Kinos mit 70mm-Projektoren vom Typ Pyrcon UP-700 und Visionsbar, wo man hinter Glas rauchen und trinken konnte, sah ich Babelsberger Kino höchstens noch als schulische Pflichtveranstaltung. Die großen Jungs in meiner Nachbarschaft wollten sein wie Yul Brunner, die Halbstarken wie Horst Buchholz. Mein Idol war Jean-Paul Belmondo, der in dem Film von Philippe de Broca unentwegt um sein von Bösewichten entführtes Mädchen rennt, durch Paris, Rio, das noch im Bau befindliche Brasilia und das Amazonasgebiet. Fünfmal sah ich Abenteuer in Rio im Kino, danach schwor ich mir, Brasilia mit eigenen Augen zu sehen, bevor ich in Rente gehe. Dreißig Jahre später ging ich durch die noch immer nicht vollendete Stadt im Dschungel, die, von oben betrachtet, Koturen hat, hawie eine Taube im Fluge. Die von Luis Costa und Oscar Niemeyer am Reißbrett entworfene neue Hauptstadt Brasiliens war die perfekte Filmkulisse, wie von Hergé für ein Comic-Abenteuer von Tim und Struppi gezeichnet. In einer der ersten Folgen des DDR-Comics Die Digedags landen Dig, Dag und Digedag (drei gnomenhafte Burschen verschiedener Haarfarbe) auf einem Planeten, wo ein Atomkrieg stattgefunden hat. Die zerstörten Gebäude der Stadt ähnelten denen Brasilias in Abenteuer in Rio, die Überlebenden den Androiden aus dem Science-Fiction-Film Blade Runner. Zwei Erinnerungsbilder aus dem Kino, die sich 1995 auf einer Reise quer durch Brasilien in der Provinz Matto Grosso in meinem Kopf überlagerten. Wie Belmondo irrte ich über verlassene Plätze und Autobahnen, balancierte auf staubigen Brettern über Baugruben und Sandberge, trank Caipirina an Pools gespenstisch-beleuchteter Hotels und kurvte im Eindecker zwischen schuhkarton-artigen Wohnblöcken herum. Auch heute kann kein Mensch im Brasilia zu Fuß gehen, ohne sich im Nichts zu verirren. Ich fand im Nebel nicht den Weg vom Platz der drei Gewalten zum Goethe-Haus (eines der schöneren Gebäude, erbaut von Hans Scharoun) und streunte über aufgeweichte Wege wie der einsame Hund auf dem Brasilia-Foto von Elliott Erwitt. Man fühlt sich wie in einem Horror-Film über einen wahnsinnigen Architekten, der Häuser, Straßen und Menschen in rechteckige und kühn geschwungene Betonformen goss. Brasilia, der Friedhof der Moderne, mit imposanten Regierungsgebäuden, aus denen die Staatsbeamten Donnerstagabend nach Rio oder San Paulo entfliehen, unbelebten Plätzen, leeren Autobahnen und dem gigantischen Mausoleum des Präsidenten Kubitschek, wird mittlerweile an den Rändern von Favelas und Urwald aufgefressen. Eines Tages könnte es hier aussehen wie der von Lianen und Buschwerk überwucherte Tempel in Abenteuer in Rio, aus dem Belmondo die zarte Claude Jade befreit, bevor alles durch die Sprengarbeit für eine Straße durch den Amazonas zusammenkracht.
Mit Siebzehn, kurz vorm Einmarsch sowjetischer Panzer in Prag, sah ich im Kino Lucerna am Wenzels-Platz die Fortsetzung des Rio-Abenteuers, das in Hongkong spielte und außer Action nichts zu bieten hatte. Abenteuer in Rio ist ein wunderbar altmodischer Abenteuerfilm, der nicht auf Turbo-Spannung setzt und nicht auf quantitative Gewalt, touristischen Schauwert besitzt und sich einige dramaturgische Längen leistet. Wie die endlose Fahrt mit der Bonde, der dienstältesten Trambahn der Welt, durch die steilen Gassen von Santa Tereza hinauf zum Corcovado. Der Film steckt voller Ungereimtheiten und ironischer Verweise aufs Kino. So landet Belmondo nach einer irren Verfolgungsjagd mit der Polizei durch Paris auf seinem Motorrad im Gebüsch, ohne jedoch, wie in Godards Außer Atem einen Polizisten zu erschießen. Vor allem aber ist Abenteuer in Rio eine virtuose Fingerübung in Film- und Realzeit. Im Urlaub vom Armeedienst erlebt der Held, statt acht Tage in den Armen seiner Geliebten, unglaubliche Ding, fliegt um die halbe Welt, stirbt tausend Tode, rennt hundert Kilometer und hat am Ende noch zwei Tage in Paris, um das Versäumte nachzuholen. In der Fortsetzung läuft Belmondo nicht mehr unentwegt durch den ziemlich lahmen Film. Ich hätte ihn spielend abgehängt, weil ich als Staffelläufer des SC Chemie Buna den Bezirksrekord der Jugend B über 4 x 400 Meter Hürden hielt. Außerdem kannte ich inzwischen aus dem Westfernsehen den anderen Belmondo, der im Kino der Nouvelle Vague den intellektuellen Ganoven gab, der er als Ex-Boxer nicht war. Die Millionen eines Gehetzten von Jean-Pierre Melville und Elf Uhr nachts von Jean-Luc Godard, die das ZDF damals noch vor Mitternacht sendete, waren für mich das Ende der Kindheit und des Kinderkinos. Wie der Held in Godards zweitem Spielfilm Der kleine Soldat hätte ich sagen können „Die Zeit des Handelns ist für mich vorbei. Ich bin älter geworden, die Zeit des Nachdenkens beginnt.“ Abenteuer in Rio, der erst seit kurzem auf DVD erhältlich ist, bleibt für mich der schönste Sehnsuchtsfilm der Kindheit. Beim Wiedersehen wusste ich fast jeden Dialogsatz vorher, manche Bilder waren verloren gegangen, das schmerzhafte Gefühl des Fernwehs war aber jetzt süße Erinnerung an wirkliche Tage in Santa Tereza, Brasilia, Manaus, Paris. Der Film des Lebens und das Kino – zwei Dinge, die sich gut miteinander vertragen können.
Das Fernsehen, das Anfang der 60er Jahre in Form eines Möbels auf vier dünnen Beinen namens Rafena in meinem Elternhaus Einzug hielt und als neues Familienmitglied fortan die Aufmerksamkeit auf sich zog, zeigte alles, was fürs DDR-Kino zu teuer oder verboten war: Doktor Schiwago, Bonnie und Clyde, die Bergman-Filme Das Schweigen und Persona, Der Schweinestall und Teorema von Pasolini, Fassbinders Katzelmacher, Verhoevens Okay, Kino aus Osteuropa von Forman, Passer, Chytilowa, Polanski, Skolimowski, Papic, Zilnik, Konzerte der Beatles, Rolling Stones, Jimi Hendrix. Mit dem samstäglichen BEAT-Club aus Bremen wurde ich zum Stubenhocker, sparte mein Taschengeld lieber für ein Kofferradio und ging nur zum Knutschen mit einem Mädchen ins Kino, gleich welcher Film gezeigt wurde. Das änderte sich erst, als ich mit achtzehn Mitglied des Hallenser Filmklubs im Kino Deutsch-Sowjetische Freundschaft wurde und Filme des Staatlichen Filmarchivs sah, die im regulären Programm nicht oder nicht mehr gezeigt wurden. Klassiker von, deSica, Rossellini, Bergman, Bunuel, Fellini, Rosi, Wajda, auch unerlaubterweise eine Kopie von Easy Rider, weswegen der Filmklub 1972 geschlossen wurde.
Seit dem sechzehnten Lebensjahr fuhr ich in den Schulferien nach Polen, um täglich bis zu fünf Filme in einem der 70 Kinos von Warschau zu sehen. Neue Filme aus dem Westen vor allem, auf die man in der DDR vergeblich hoffte, die den polnischen Genossen jedoch keine schlaflosen Nächte bescherten. Sie waren daran gewöhnt, dass ihre eigenen Filmemacher kein Blatt vor den Mund nahmen und die Absurditäten und Ungereimtheiten des Sozialismus à la russe auf die Leinwand brachten, auch wenn sie manchmal zeitweise verboten wurden oder nur in obskuren Kinos am Rande der Stadt liefen, wo es keinen Aushang des Programms gab und die Leinwand kaum größer als ein Bettlaken war.
Doch das ist ein anderes Kapitel. Obwohl ich noch immer im Dreckloch zwischen Buna und Leuna lebte, hatte ich die ungeliebte Kindheit hinter mir gelassen. Zu früh für ein Kind aus geordneten Verhältnissen, aber mit seelischen Blessuren, die mir noch im Alter von fünfzig Jahren Probleme bereiten sollten, als die DDR längst auf dem Friedhof der Geschichte dahin moderte.
Thomas Knauf
Bilder: Pegelanzeige „Magisches Auge“, Abstimmanzeigeröhre EM1; CC-BY-SA-2.0-DE Stefan Riepl (Quark48). Original uploader was Quark48 at de.wikipedia
und Progress Fimprogramm (6)
noch ein Kapitel aus Thomas Knaufs Buch „Erinnerungen unter Vorbehalt“: Das gelbe Unterseeboot
- Thomas Knauf: Erinnerung unter Vorbehalt - 31. Dezember 2011
- Thomas Knauf: Erinnerung unter Vorbehalt (Welt ohne Fernsehen) - 12. Dezember 2011
- Der Blaumilchkanal - 15. Januar 2011
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