Am Wochenende geraten die Baugruben im Prenzlauer Berg zum Abenteuerspielplatz. Bagger werden zu Klettergeräten, und mancher gräbt nach Überbleibseln aus dem Krieg
In einer Erzählung von Gustav Meyrink aus „Des deutschen Spießers Wunderhorn“ kommt ein Amerikaner namens George Makintosh nach Prag und kauft ein altes Haus auf der Neuseite, um es zu sanieren. Bei den Ausschachtungsarbeiten werden Goldklumpen gefunden. Daraufhin lassen etliche Besitzer ihre Häuser abreißen, doch Gold finden sie nicht. Als der Amerikaner Prag den Rücken kehrt, hinterlässt er auf dem Stadtplan die Initialen G.M. und schickt eine Depesche, dass er das Gold vergrub, um seine verhasste Geburtsstadt zu ruinieren.
Dieses Motiv kann man dem neuen Bürgermeister von Berlin, Prenzlauer Berg, Matthias Köhne, schwerlich unterstellen. Er stammt aus Itzehoe und hat, wie er im Internet betont, ein bürgernahes Herz für seinen Kiez. Trotzdem verdanken wir ihm die aufwendigste Ausgrabungsaktion seit Troja. Mit schwerem Gerät wird der Prenzlauer Berg seit Monaten von allen Seiten abgetragen, um seine Straßenkreuzungen fußgängerfreundlicher zu gestalten. An sich eine feine Sache, wenn nicht ein paar Ampeln mehr und die längst vorhandene Zone 30 denselben Zweck kostengünstiger erfüllten. Konsequente Verkehrsberuhigung des besonders am Wochenende als beliebtester Auto-Scooter Berlins genutzten Stadtbezirkes wäre für die Anwohner ein Grund, SPD zu wählen. Doch seit August Bebel sind die Partei und ihre Volksvertreter ein Garant für halbe Sachen und Hornberger Schützenfeste. Den chronischen Mangel an Parkplätzen sucht Herr Köhne durch gezielte Vernichtung von Parkraum zu beheben. Das freut den Finanzsenator, der mit Strafzetteln des allgegenwärtigen Ordnungsamtes seine defizitäre Stadtkasse aufbessern kann. Es ist auch viel billiger als lohnintensive Parkraumbewirtschaftung, wenn die Anwohner ihre Sicherheit als Fußgänger mit „Knöllchen“ an ihren Autos bezahlen. Wer sich aufregt und die Abkassierer der Wegelagerei bezichtigt, riskiert noch mal 1.000 Euro wegen Beamtenbeleidigung.
Das wäre nicht weiter schlimm, wir verdienen ja alle genug, um uns die gepfefferten Mieten im Kult-Bezirk leisten zu können. Aber bleibende Hörschäden durch Baulärm und Staublungen sind ein zu hoher Preis für Bürgermeister Köhnes Itzehoher Kleinstadtidyll. Wo Berlin doch ohnehin eigentlich mit Gewalt Großstadt werden will und der Prenzlauer Berg mit Restaurants und Cafés dem Kudamm Konkurrenz zu machen sucht. Die meisten Spielplätze und Wochenmärkte haben wir ja schon. Und weshalb in der Wörther Straße für eine halbe Million Euro eine Fußgängerzone geschaffen wurde, die dann doch keine ist, weil die Autos weiter übers teure Pflaster fahren dürfen, wissen vielleicht die klugen Krähen auf dem Kollwitzplatz. Eine weitere halbe Million Steuergeld wird seit Monaten an der Kollwitz-/Ecke Sredzkistraße verbuddelt. Das heißt, bis zum Jahreswechsel wurde im Akkord gearbeitet. Seitdem sichern zwei Bauarbeiter alle paar Tage die Gefahrenstelle, wenn sie nicht gerade bei Özkan, dem Lieblingsbäcker der Arbeitssuchenden und Freischaffenden, Pause machen. Am Wochenende wird die Baugrube zum Abenteuerspielplatz für Kinder und Erwachsene. Was für ein Spaß, sein Eis auf einem Bagger sitzend zu verspeisen. Oder in Ermangelung von Stellplätzen sein Auto im Bauloch zu parken. Manch einer gräbt mit Schaufel und Eimer nach Überbleibseln des Krieges und findet Geschichtsträchtiges. Zum Glück bisher keine Blindgänger oder menschliche Überreste. Gold hat noch keiner ausgegraben, und Ölquellen sprudeln in Brandenburg so häufig wie vernünftige Ideen, die dann auch umgesetzt werden. „Quo vadis, wem nützt das?“, heißt ein typisch Berliner Witz. Es muss natürlich heißen „cui bono“, doch man kann fragen „Quo vadis, wohin gehst du, Prenzlauer Berg?“ Denn seit mittlerweile 18 Jahren kann kein Mensch mehr vernünftig gehen in unserem Stadtbezirk, seit provinzialische Besitzständler aus dem kleinsten, bevölkerungsreichsten Wohnquartier Europas ein Musterdorf machen wollen. Ich fürchte, es wird ihnen gelingen, da sie den sprichwörtlichen Berliner Kuddelmuddel aus Halbwelt, Großkotzigkeit und Kleinbürgerlichkeit im Grunde hassen und solange nicht Ruhe geben, bis die Stadt so langweilig ist wie sie selbst. Der massenhafte Zuzug von dänischen Gutverdienern, die für Immobilienkredite nur geringe Zinsen zahlen, gibt auch keinen Anlass zur Hoffnung, wenn man einmal in Kopenhagen war. Zum Glück wird um die Kollwitz-Figur herum viel Spanisch und Katalan gesprochen. Die Kinder der Anarchisten finden das Trojanische Chaos auf den Straßen anheimelnd und verstehen nicht, warum die Deutschen so lärmempfindlich sind. Aber was soll man machen, wenn man kein südländisches Temperament besitzt und dazu erzogen wurde, der Obrigkeit seinen Tribut zu zollen? Da hilft nur der Ruf „Ausländer rein!“, um uns gegen die Schildbürgerstreiche aus dem Rathaus zur Wehr zu setzen.
Berlin war immer eine geschundene Stadt und trotzdem der ideale Ort für Leute, „denen die Energie aus den Augen spritzt wie der Saft aus einer Apfelsine“ (Erich Kästner). Diese tendenziell apolitische Energie schafft es allemal, aus bürokratischen Baugruben kommunale Orte der Begegnung zu machen. Menschen aller Glaubensrichtungen und Parteien fragen einander, was der Quatsch soll, und üben zivilen Ungehorsam. Eine junge Israelin sagt, dass der Prenzlauer Berg sie an Kishons Blaumilchkanal erinnert, wo ein entlaufener Insasse einer Irrenanstalt mit einem Presslufthammer die Dizengoff-Straße aufbuddelt und niemand ihn daran hindert. Weil niemand glaubt, dass im Gelobten Land jemand ohne Auftrag arbeiten würde.
Ein Marokkaner träumt davon, sich ein Kamel anzuschaffen. Weil er damit viel besser durch die Sandwüste der Winsstraße käme. Jetzt warten wir gespannt darauf, dass ein Bagger die Wasserleitung zerstört. Dann können wir diesen Winter vielleicht noch Schlittschuh laufen in unserem Kiez. Das Nützliche und Nächstliegende war nie ein Thema für Berlin. Deshalb haben die Berliner ein gutes Gespür für Zweckentfremdung. Was man an den Betonstelen des Holocaust-Denkmals sehen kann. Schon jetzt tragen die hässlichen Poller am Kollwitzplatz lachende Gesichter, und jede neue Fassade wird durch Graffiti markiert. Nicht, dass man die Schmierereien mögen müsste. Sie sind genauso überflüssig wie der Ordnungs- und Sauberkeitsfimmel der Kommunalpolitiker. Freud sagte, eine Manie ist immer der sublimierte Ausdruck einer Neurose. Leute, die wollen, dass die Welt so aussieht, wie sie es gerne wollen, gehen in die Politik. Vielleicht sollten sie lieber zum Psychiater gehen. Der Hauptmann von Köpenick ist die Summe aller Berlinischen Tugenden. Nur wäre er nie auf die Idee gekommen, die Rathauskasse auf der Köpenicker Straße zu vergraben. Dazu braucht es schon einen Ostfriesen. Mein Vorschlag an den Bürgermeister: ein Wettbewerb nach der DDR-sozialistischen Maxime – Schöner unsere Städte und Dörfer. Wer nicht mitmacht, wird aus Berlin ausgewiesen. Itzehoe soll auch nett sein.
Text: Thomas Knauf
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