In „Moments politiques“ schreibt Jacques Rancière gegen den erdrückenden Konsens in der Politik an und plädiert für ein radikales Verständnis von Demokratie
Der Satz könnte direkt auf die Empörten gemünzt sein, die in den vergangenen Wochen auf der Puerta del Sol in Madrid, dem Athener Syntagma-Platz oder dem Rothschild-Boulevard in Tel Aviv demonstriert haben. Politik, schreibt Jacques Rancière, ist „die Fähigkeit jedes Beliebigen, sich um die gemeinsamen Angelegenheiten zu kümmern.“ Und tatsächlich denkt der französische Philosoph nicht an Regierung und Parlament, wenn er von Politik spricht. Sein Interesse gilt dem Dissens, der die institutionellen Routinen und Machtkämpfe unterbricht und damit einen offenen Raum schafft. In einem solchen „politischen Moment“ scheint ein anderer Lauf der Dinge möglich. Dabei versteht Rancière unter Momenten nicht bloß kurze Augenblicke der geglückten Emanzipation des Menschen. Er verwendet den Begriff auch im Sinne des Momentums, als Meilenstein, hinter den man nicht so schnell zurück kann.
Die Ereignisse von 1968 markieren für Rancière einen solchen Moment. In den damaligen Revolten wurde bestritten, dass Politik sich im Handeln klar begrenzter Gruppen erschöpft: Sie kann überall sein und muss nicht von bezahlten Profis oder vermeintlichen Experten betrieben werden. Auch habe der Mai 68 gezeigt, so Rancière weiter, dass Herrschaft nicht gerechtfertigt werden kann. Gegen diesen anarchischen Geist ziehen heute nicht nur Papst Benedikt und Nicolas Sarkozy zu Felde; seit über 30 Jahren sei eine regelrechte „intellektuelle Gegenrevolution“ im Gange, schreibt der Pariser Theoretiker.
Aus eben diesen drei Jahrzehnten stammen die Texte in einem jüngst veröffentlichten Buch des emeritierten Professors. Mit oftmals elegantem, zuweilen ironisch-spöttischem Stil attackiert Rancière dort Sachzwanglogik und Rassismus, identifiziert aber auch Phasen politischer Selbstermächtigung – die titelgebenden „Moments politiques“. Ihnen widmet er sich in Zeitungskommentaren zum aktuellen Geschehen, pointierten philosophischen Randnotizen und längeren Interviews. Der Sammelband besticht dabei durch eine planvolle Zusammenstellung, bei der die – sachkundig und mit viel Sprachgefühl übersetzten – Beiträge einander ergänzen. Zusammen bieten sie nicht zuletzt einen guten Einstieg ins Denken Rancières und lassen erahnen, warum er international zu einem gefragten Theoretiker avanciert ist: Verteidigt er doch leidenschaftlich die anarchischen Grundlagen der Demokratie.
Mit diesem großen Wort belegt er allerdings nicht die westlichen Regierungssysteme. Diese könnten nur dann als demokratisch gelten, wenn man die Formen des Staates mit denen der Politik verwechsle – tatsächlich handle es sich um Oligarchien. Demokratie denkt Rancière eher als gesellschaftliche Bewegung, als einen kollektiven Austausch von Informationen und Argumenten. Um dies zu institutionalisieren, müsste die Mandatsvergabe größtenteils durch Auslosung erfolgen; denn „das Schlimmste ist, wenn die Macht von denen besetzt wird, die sie haben wollten.“
Wesentlich für eine so verstandene wirkliche Demokratie ist der Streit. Politik ist erst dann möglich, wenn gemeinsam über Gesellschaftsentwürfe diskutiert wird. Besonders vehement kritisiert Rancière daher den erdrückenden Konsens in westlichen Staaten, der das Politische auf technisches Verwaltungshandeln reduziert; dies durchzieht die Beiträge des Bandes wie ein roter Faden.
Die entpolitisierende Wirkung des Konsens beruht auf einer behaupteten Alternativlosigkeit, die von oberflächlichen Polarisierungen bestenfalls überdeckt wird: Scharf rechte Polemiken, wie sie beispielsweise Sarkozy gerade in Wahlkämpfen pflegt, bieten keine Abhilfe. Mögen sich Rassisten aller Couleur noch so sehr als Tabubrecher inszenieren, so gehören „konsensueller Realismus und rassistische Ausbrüche“ doch untrennbar zusammen, argumentiert Rancière. Gerade in den Einwanderungsdebatten werde der Konsens nicht primär untereinander, sondern „gegen den Anderen“ hergestellt. Dabei gilt: „Man hat die politischen Probleme, die man haben will, im Allgemeinen weil man bereits die Antworten hat.“ Das klingt wie ein vorweg gegebener Kommentar zu Sarrazin, bezieht sich aber auf die französische Situation von 1993.
Obwohl Rancière, der in jüngster Zeit auch große Aufmerksamkeit als Kunsttheoretiker erfährt, das öffentliche Engagement nie gescheut hat, lehnt er den Intellektuellen-Begriff für sich ab. Er weist damit die gesellschaftliche Arbeitsteilung zurück, bei der die unwissende Mehrheit von den Gelehrten aufgeklärt werden müsse. Emanzipation gelinge nur, wenn sie von der Gleichheit der Menschen ausgehe. So prägt die Texte in „Moments politiques“ der erfrischende Geist eines hierzulande selten gewordenen anti-autoritären Denkens.
Steffen Vogel
zuerst veröffentlicht in der taz
Jacques Rancière: Moments politiques. Interventionen 1977-2009
Aus dem Französischen von Ellen Antheil und Richard Steurer.
Diaphanes, Zürich 2011, 224 S., 24,90 Euro
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