Wo bleibt das Neue?
Der Kapitalismus scheint unangefochten. Welche kulturellen Folgen das hat, beleuchtet ein pointierter Essay von Mark Fisher
Kann es eine Alternative zum Bestehenden geben? Lange Zeit hing die Antwort darauf vom politischen Standpunkt ab. Heute, sagt der Kulturtheoretiker Mark Fisher, ist schon die Frage unverständlich. Es fehle schlicht die Vorstellungskraft, eine ganz andere Gesellschaft zu denken: „Fukuyamas These, die Geschichte gipfele im liberalen Kapitalismus mag oft verspottet worden sein, doch auf der Ebene des kulturell Unbewussten wird sie akzeptiert, sogar vorausgesetzt.“
Diese Haltung nennt Fisher in seinem gleichnamigen Essay den „Kapitalistischen Realismus“. Dessen Folgen sind immens, so die These seines Buches: Unsere Kultur habe die Fähigkeit eingebüßt, Neues hervorzubringen. Das ist nicht zuletzt ein Problem der Kritik. Der Kapitalismus vermochte immer wieder, ihr die Spitze zu nehmen und sie zur Selbstreform zu nutzen. Seine Gegner versorgten ihn somit ungewollt mit frischen Impulsen.
Vielen Subkulturen ist dabei ihr einstiger rebellischer Charakter abhanden gekommen. Nirvana dient Mark Fisher als tragisches Beispiel für diese Entwicklung. Ihr Frontmann Kurt Cobain habe erkannt, dass jede stilistische Innovation ausgeschöpft sei und „dass auf MTV nichts besser läuft als ein Protest gegen MTV“. Er verkörperte die Verzweiflung jener Generation, die nach dem postulierten Ende der Geschichte aufwuchs und „deren kleinster Schritt antizipiert, aufgespürt, erworben und verkauft wurde, noch bevor er geschehen war.“ Bitter diagnostiziert Fisher, die kapitalistische Kultur beschränke sich nicht mehr darauf, vormals subversive Impulse zu integrieren. Heute würden Begehren, Sehnsüchte und Hoffnungen gleich „preemptiv“ geformt. So markiert „independent“ nicht länger eine Spielart des Undergrounds – sondern den dominanten Stil des Mainstreams.
Anstelle des Widerspruchs tritt in der Popkultur ein hohler Enthüllungsgestus, der beansprucht, schonungslos eine gewalttätige Gegenwart zu beschreiben, mit der er sich tatsächlich längst arrangiert hat. Diese zynische Pose findet sich ebenso im Hip-Hop, in Gangsterfilmen wie Pulp Fiction, in den Krimis von James Ellroy oder den Comics von Frank Miller. Sie behaupten, „die Welt von sentimentalen Illusionen entkleidet zu haben und sie als das zu sehen, ‚was sie wirklich ist’: ein Hobbes’scher Krieg aller gegen alle, ein System immerwährender Ausbeutung und verallgemeinerter Kriminalität.“ Diese vermeintliche Kritik mündet aber nicht in Empörung, schreibt Fisher, eher bewirkt sie eine Desensibilisierung, die letztlich die Verhältnisse stützt.
Zynismus und Angst identifiziert er als die dominanten Gefühle im heutigen Kapitalismus. Sie bilden nicht zuletzt eine Reaktion auf die gewandelte Arbeitswelt, den Fisher anhand zweier Gangsterfilme illustriert. Die Mafiosi in Der Pate verkörpern das Idealbild des traditionellen Unternehmers, der stolz seine lokalen Wurzeln betont und Familienwerte hochhält. Dagegen gibt Roberto De Niro in Heat den bindungslosen kriminellen Experten: „Du darfst dich niemals an etwas hängen, das du nicht innerhalb von 30 Sekunden problemlos wieder vergessen kannst, wenn du merkst, dass dir der Boden zu heiß wird.“ Er scheitert am Ende, weil er seinem eigenen Credo nicht entsprechen kann.
Die Segnungen erzwungener Flexibilität bezweifelt Fisher: „Dauerhafte strukturelle Instabilität und die Aufgabe langfristiger Perspektiven führen ausnahmslos zu Stagnation und Konservatismus – nicht zu Innovation“. In seinem Essay konfrontiert er den Neoliberalismus mit dessen eigenen Maßstäben: Der verheißt kulturelle Vielfalt, erzeugt aber Konformität und die Kunst der minimalen Variation. Leidenschaftslosigkeit avanciert im Kapitalistischen Realismus zum Ideal. Weil alle großen Ideen angeblich zwangsläufig blutig scheitern müssen, gilt eine ironisch distanzierte Haltung als die angemessene. Das Engagement weicht der Zuschauerhaltung: „Wenn wir unsere Erwartungen zurück schrauben, sagt man uns, bezahlen wir einen geringen Preis für den Schutz vor Terror und Totalitarismus… Dieser ‚Realismus’ entspricht der deflationistischen Perspektive eines Depressiven, der jeden positiven Zustand, jede Hoffnung für eine gefährliche Illusion hält.“
Pointiert diagnostiziert Fisher eine bunt schimmernde Einförmigkeit und drückende Alternativlosigkeit. Ein solches Bild reizt zum Widerspruch. Das utopische Denken ist keineswegs einer allgemeinen Ernüchterung gewichen, sondern tritt an den unterschiedlichsten Orten in Erscheinung, sei es in den Debatten um ein bedingungsloses Grundeinkommen, sei es in der Open Source-Bewegung. Es hat allerdings bislang nicht die Form einer großen Erzählung angenommen, wie sie Fisher offenbar vorschwebt.
Dieser Einwand schmälert seine Leistung nicht. Ohne Nostalgie für die Nachkriegsjahrzehnte stellt Mark Fisher einige vorherrschende Tendenzen der Gegenwartskultur heraus. Sein Essay lädt ein, scheinbar unverbundene Phänomene in der theoretisch untermauerten Gesamtschau zu betrachten. Sein Buch ist originell, flüssig geschrieben und zeigt einen oft vermissten Mut zur starken These.
Text: Steffen Vogel
Mark Fisher: Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?
Symptome unserer kulturellen Malaise.
VSA, Hamburg 2011, 96 S., 11,80 Euro
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