Michael Hardt über über eine Ökonomie des Gemeinsamen, radikale Demokratie im Netzwerkzeitalter und den politischen Wandel in Lateinamerika
ein Interview

Bekanntheit erlangte Michael Hardt als Ko-Autor der Theorie-Bestseller „Empire“ und „Multitude“, die er mit dem Philosophen Antonio Negri verfasste. Dieses Jahr ist mit „Common Wealth“ der Abschlussband dieser Trilogie erschienen. Hardt lehrt Literatur und Italienisch an der renommierten Duke University in Durham im US-Bundesstaat North Carolina.

Im Interview spricht er über eine Ökonomie des Gemeinsamen, radikale Demokratie im Netzwerkzeitalter und den politischen Wandel in Lateinamerika.

Steffen Vogel: Sie dürften den Satz kennen: Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus. Teilen Sie die Aussage?

Michael Hardt: Ich weiß nicht, ob Fredric Jameson oder Slavoy Žižek diesen Ausspruch geprägt haben. Ich habe ihn von beiden gehört, und beide bezogen sich dabei auf Hollywood-Filme, weil dort oft das Ende der Welt thematisiert wird. Vielleicht dienen diese imaginären Szenarien teilweise als Hilfsmittel, um das mögliche nahe Ende des Kapitalismus zu begreifen. Jameson würde so argumentieren. Genau wie man sagen könnte, dass Verschwörungstheorien eigentlich bloß auf dürftige Weise die reale Existenz eines globalen Systems anerkennen. Wir können uns eine weltweite Ordnung nicht wirklich vorstellen, aber die Verschwörungstheorien sind eine Art Kurzformel, die wir begreifen können. Etwas Falsches verweist auf etwas Wahres.

Ich frage mich, ob in der zunehmenden Zahl von apokalyptischen Ende-der-Welt-Szenarien eine alles andere als perfekte Anerkenntnis des notwendigen Endes der gegenwärtigen Ordnung liegt.

Sie halten dieses Ende also nicht nur für wünschenswert, sondern auch für möglich. Worauf gründet Ihre Hoffnung?

Michael Hardt: Es gab eine Zeit im 20. Jahrhundert, als auch kapitalistische Ökonomen die Grenzen dieser Gesellschaft erkannten, etwa Joseph Schumpeter oder John M. Keynes. Heute scheinen bemerkenswerter Weise alle Ökonomen anzunehmen, der Kapitalismus verfüge über eine unbefristete Lebenserwartung. Es wäre schockierend, wenn heute ein Wissenschaftler wie Keynes oder Schumpeter in einer Zeitung schriebe, mit dem Kapitalismus könne es irgendwann zu Ende gehen. Das scheint völlig aus dem Sprachschatz gefallen zu sein.

Deswegen mag es merkwürdig klingen, wenn Toni und ich solche Aussagen treffen. Vor 50 Jahren wäre es das nicht gewesen. Seinerzeit haben nicht nur Kommunisten das Ende des Kapitalismus propagiert, auch kapitalistische Ökonomen erkannten es. Es verrät einiges über die Illusionen der Gegenwart, dass solch spekulatives Denken nicht mehr erlaubt ist.

Ökologische und soziale Fragen lassen sich zunehmend schwerer in die gegenwärtigen Eigentumsverhältnisse übersetzen

Doch zeigt sich der Kapitalismus in der gegenwärtigen Krise bislang stabil. Was begrenzt denn heute seine Lebenserwartung?

Michael Hardt: Offensichtlich entsprechen die gegenwärtigen Eigentumsverhältnisse einem anderen Paradigma kapitalistischer Produktion. Sie sind für mobile Materialien und Waren geschaffen worden, für den Schutz dieser Waren und die Regulation ihres Besitzes. In den vergangenen zehn, zwanzig Jahren haben immaterielle Eigentumsformen die heutigen Besitzverhältnisse vor große Herausforderungen gestellt, denken Sie etwa an Copyright-Fragen.

Es wird immer deutlicher, dass die Mechanismen der Eigentumsverhältnisse unzureichend sind, um den Kapitalismus aufrechtzuerhalten. Nehmen wir ein Extrembeispiel aus den Debatten um die globale Erwärmung: Einige so genannte Klimaskeptiker fordern hier eine Kosten-Nutzen-Abwägung. Sie versuchen, die Frage der Erderwärmung in Eigentumsverhältnisse zu übersetzen, indem sie sagen: Schaut, wie viel es uns kosten würde, den Klimawandel zu stoppen und schaut, was es kosten würde, wenn das Klima sich wandelt. Ihr Ergebnis: Es käme uns teurer den Klimawandel zu verhindern.

Für eine solche Rechnung müsste man die Überflutung halb Bangladeshs oder zunehmende Dürren in Ostafrika quantifizieren können. Es erscheint aber absurd, derartiges in einem Geldwert auszudrücken.

Oder, anderes Beispiel: Haben Sie mal Versicherungsverträge gelesen? Dort heißt es etwa, wenn Sie einen Finger verlieren, erhalten Sie so und so viel Geld, wenn Sie einen Arm verlieren, erhalten Sie soviel usw. Das klingt irgendwie unpassend. Aber die gegenwärtige Eigentumsordnung muss allen Faktoren einen Wert beimessen und sie in einen Markt verwandeln, sagen wir in einen CO2-Markt oder gar einen Markt für Finger und Zehen. Und das erscheint immer unzureichender. Ökologische und soziale Fragen lassen sich zunehmend schwerer in die gegenwärtigen Eigentumsverhältnisse übersetzen.

Darin klingt ein Argument von Marx und Engels aus dem Kommunistischen Manifest an. Sie schreiben dort, der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus vollzog sich, als die etablierten Eigentumsverhältnisse nicht mehr der neu entstandenen Produktionsweise entsprachen. Tatsächlich waren die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse jener Zeit angemessener.

Heute ist der Unternehmer vollständig von den innovativen Kräften getrennt

Sie sprechen also von einer sehr langsamen Transformation?

Michael Hardt: Ich liefere keine Vorhersage im Sinne von „nächsten September“ oder „nächstes Jahr wird es einen Wandel geben“. Es geht eher darum, bestimmte grundlegende Bedingungen zu erkennen, die den Wandel möglich und nötig machen. Thomas Kuhn zeigt in seinem Buch The Structure of Scientific Revolutions, wie sich wissenschaftliche Paradigmen verändern. Es reicht nicht, ein Paradigma einmal zu widerlegen, um es abzulösen. Vielmehr lässt eine Häufung wissenschaftlicher Anomalien es beispielsweise plausibler erscheinen, dass die Sonne sich nicht um die Erde dreht. Der Wandel kommt nicht schlagartig, sondern die Anomalien bereiten den Übergang in ein neues System mit eigenen – aber geringeren – Anomalien.

Heute stoßen die Grundvoraussetzungen für die Fortsetzung kapitalistischer Herrschaft und der gegenwärtigen Eigentumsordnung zunehmend auf Hindernisse. Damit besteht die Bedingung für einen Wandel – aber noch nicht die Notwendigkeit.

Auch Marxisten haben dem Kapitalismus zugute gehalten, dass er eine enorme gesellschaftliche Entwicklung eingeleitet hat. Diese Innovationsfähigkeit hat er eingebüßt, schreiben Sie in Common Wealth. Ist der Kapitalismus heute bloß noch ein Hindernis für die gesellschaftliche Entwicklung?

Michael Hardt: Das wäre zuviel gesagt. Aber die Innovationsfähigkeit ist ein wichtiger Punkt. Schon in den fünfziger Jahren stellte Joseph Schumpeter die Vitalität des Kapitalismus in Frage, weil die Unternehmer ihre Innovationskraft verloren hätten. Sein Bild des Kapitalisten als Erfinder war beinahe nietzscheanisch.

Heute ist der Unternehmer vollständig von den innovativen Kräften getrennt. Es gibt noch Symbole, die den Anschein einer Kontinuität erwecken. Wenn Steve Jobs ein neues Apple-Produkt ankündigt, präsentiert er sich stets, als personalisiere er die Innovation. Bill Gates tut das gleiche. Aber weder diese beiden Männer noch ihre Angestellten sind der Ursprung der Innovation. Sie entsteht in einem viel breiteren Netzwerk sozialer Beziehungen, das über die Grenzen ihrer Firmen hinausgeht.

Die Industrie ist in einer untergeordneten Stellung gegenüber der immateriellen Produktion

Das bezeichnen Sie als biopolitische Produktion. Können Sie das erläutern?

Michael Hardt: Lassen Sie mich mit dem schlechten, aber zuweilen aufschlussreichen Begriff der immateriellen Arbeit beginnen. Er bezeichnet die Produktion von Gütern, die zumindest teilweise immateriell sind wie Ideen und Wissen, Bilder und Informationen, aber auch Affekte, die ich dabei für eine sehr wichtige Komponente halte.

Der Begriff ist nicht zuletzt deswegen schlecht, weil er Ihnen die Idee vermitteln könnte, der Produktionsprozess sei immateriell. Selbstverständlich umfasst er Geist und Körper gleichermaßen. Aber die Produkte weisen einen immateriellen Bestandteil auf, der zunehmend wichtiger wird.

Unsere These lautet: Während die Industrieproduktion in den vergangenen 150 Jahren vorherrschend war, treten wir jetzt in eine Übergangszeit ein, in der die immaterielle oder biopolitische Produktion dominant wird. Die Dominanz der Industrieproduktion war dabei keine quantitative. Als Marx seinerzeit ihre Vorherrschaft in England beschrieb, arbeitete nur eine kleine Minderheit in der Fabrik. Ihm ging es darum, und darin folgen wir ihm, dass die Charakteristika der Industrieproduktion schrittweise den anderen Sektoren aufgenötigt wurden: Die Landwirtschaft musste sich industrialisieren, ebenso der Bergbau. Die Gesellschaft selbst wurde industrialisiert, durch neue Formen der Mechanisierung und Rationalisierung, auch durch neue Zeitlichkeiten: die Einführung des Arbeitstages sowie einer abstrakten und unendlich teilbaren Zeit, die Uhren wichtig werden ließ etc.

Heute befindet sich die Industrie selbst in einer untergeordneten Stellung gegenüber der immateriellen oder biopolitischen Produktion. Deren Charakteristika werden ihr nun auferlegt. Sie muss kommunikativer und informationeller werden, Affektsteuerung ist zentraler geworden. Selbst die Zeitlichkeiten unseres sozialen Lebens, die lange von der Fabrik bestimmt worden sind, wandeln sich massiv. So bricht der in industriellen Verhältnissen geprägte Arbeitstag zusammen.

Gefühle, Eigentum und Stachanow, der Held

Und das innovative Potenzial dieser Art zu produzieren wird von der Eigentumsordnung gehemmt?

Michael Hardt: Denken Sie an affektive Arbeit, etwa von Anwaltsgehilfinnen. In den USA zumindest ist das ein geschlechtsgetrennter Beruf: Meistens arbeiten Frauen als Gehilfinnen für männliche Anwälte. Sie müssen sich um andere kümmern, soziale Beziehungen glätten und sicherstellen, dass sich im Büro jeder wohl fühlt.

Man kann seine Fähigkeit, freundlich zu sein und soziale Beziehungen zu schaffen durchaus verkaufen. Man kann sie in Eigentum verwandeln und kommodifizieren. Sie können sich die Szene vorstellen: Die Chefflugbegleiterin sagt zu ihrer Untergebenen: „Gehen Sie zurück zu dem Mann in Sitz 18B, und seien Sie freundlich zu ihm, auch wenn er ein Trottel ist.“ Man kann Nettigkeit darstellen. Aber dem wohnt etwas Reduziertes inne.

Diese Tendenz zeigt sich auch im Bereich der intellektuellen Produktion. Wenn etwa die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung privat bleiben, können sie produktiv sein. Aber wenn man sie zum Gemeinsamen macht und jeder Zugriff auf sie hat, werden sie noch produktiver. Um diese Spannung geht es. Die Ergebnisse biopolitischer Produktion entziehen sich tendenziell der Eigentumsordnung. Darin besteht das Verhältnis zwischen biopolitischer Produktion und dem Gemeinsamen.

Sie betonen stark die Produktivität der Gesellschaft.

Michael Hardt: Das klingt vielleicht produktivistisch. Aber es geht nicht darum, mehr Autos oder Kühlschränke zu erzeugen, sondern mehr Ideen und Affekte, mehr soziale Beziehungen. Und das hat einen ganz anderen Charakter als die alten produktivistischen Argumente – dennoch könnte das eine interessante Kritik an uns sein.

Das klassische Bild liefert für mich der sowjetische Bergmann Stachanow, der Held, der immer mehr Kohle fördert. In der biopolitischen Produktion hingegen, insbesondere wenn sie dem Gemeinsamen offen steht, scheinen mir die gesteigerten Produktionsfähigkeiten nur ein Gutes zu sein. Meine Fähigkeit, mehr zu denken, meine Fähigkeit, mehr zu fühlen, können mir nur zur Freude gereichen. Das ist Spinozas Definition von Freude: meine Fähigkeit, stärker zu denken und zu fühlen. Für mich gibt es einen Unterschied zwischen einem Stachanow, der mehr Kohle fördert und der spinozistischen Freude über die Fähigkeit, mehr Affekte zu produzieren, stärker zu fühlen und kraftvoller zu denken. Das ist eng verbunden mit dem Gemeinsamen.

Das Gemeinsame

Worin besteht für Sie der Unterscheid zwischen dem Gemeinsamen und dem Öffentlichen?

Michael Hardt: Im Englischen deckt sich der allgemeine Gebrauch des Worts „öffentlich“ oft mit dem, was wir das „Gemeinsame“ nennen. Wir meinen mit „öffentlich“ etwas Beschränktes, das unter Kontrolle von Staat oder Regierung steht. Wir bemerken das etwa bei einer Fahrraddemonstration, einer Critical Mass. Dann erkennen wir, dass die Straße zwar öffentliches Eigentum sein mag, sie aber nicht die unsrige ist. Genau in diesem Konflikt, der üblicherweise das Gesicht einer Auseinandersetzung mit der Polizei annimmt, realisiert man, dass das Öffentliche kein Gemeinsames ist. Eine solche Demonstration ist eine politische Provokation, um diesen Unterschied zu beleuchten und zu versuchen, die Straße einen Nachmittag lang zum Gemeinsamen zu machen.

Vielen Menschen erscheint die Welt völlig in privat und öffentlich geschieden. Aber das sind nicht die einzigen Alternativen, es gibt darüber hinaus eine Auffassung des Gemeinsamen. Wenn jemand Schwierigkeiten hat, sich etwas darunter vorzustellen, ist Sprache ein gutes Beispiel. Sie ist notwendigerweise mehrheitlich gemeinsam. Sonst würden wir unkommunikativ und müssten überdies aufhören, linguistisch erfinderisch zu sein.

Eine Privatisierung von Sprache kann man sich kaum vorstellen. Kennen Sie das englische Lied Happy Birthday? Es steht unter Copyright und kann daher in Filmen nur gegen Gebühr verwendet werden. Glücklicherweise ist es nicht verboten, es auf Geburtstagspartys zu singen. Das wäre ein bizarrer Missbrauch – und zwar, weil das Lied zu unserem linguistischen Erbe gehört. Dieses Erbe ist selbstverständlich zum größten Teil gemeinsam.

Auch im öffentlichen Eigentum, also unter Staatskontrolle, verliert Sprache ihre Ausdrucksfähigkeit. Frankreich versucht manchmal, die Sprache und ihre verschiedenen Verwendungen oder die Erfindung neuer Wörter zu kontrollieren. Doch genau diese linguistische Kreativität ist ein Gemeinsames.

Das gilt tendenziell für alle biopolitischen Produkte. Sie können privatisiert oder in dem Sinne öffentlich gemacht werden, dass der Staat sie regulieren kann. Aber das ist schwierig, und wenn man sie zu öffentlichem oder privatem Eigentum macht, neigen sie dazu, ihre produktiven Kapazitäten zu verlieren. Damit sind wir wieder beim Kommunistischen Manifest: Die öffentlichen oder privaten Eigentumsverhältnisse bilden ein Hindernis für den Produktionsprozess.

Jenseits von Markt und Staat

Sie suchen also nach einem Weg jenseits von Markt und Staat?

Michael Hardt: Die erwähnte falsche Alternative wurde in der Wirtschaftskrise von 2008 sehr deutlich. Lange ging man davon aus, das Rezept gegen das Übel öffentlichen Eigentums bestünde in Privatisierungen. Umgekehrt hieß es nach Ausbruch der Krise, das Rezept gegen den Neoliberalismus sei keynesianische oder sozialistische Staatskontrolle über die Wirtschaft. Es wäre sinnvoll, sich etwas jenseits sowohl der Herrschaft des Privateigentums wie des öffentlichen Eigentums vorzustellen, also eine Verwaltung des Gemeinsamen.

Die Open-Source-Bewegung, aber auch Leute, die zum geistigen Eigentumsrecht arbeiten, benutzen oft Analogien zum Gemeinsamen. Sie gehen dabei zurück auf einen Begriff aus dem England des 17. Jahrhunderts, wo das Gemeinsame die Wälder, das Land oder das Wasser meinte, zu dem jeder in der Gemeinschaft freien Zugang hatte. Heute nutzen sie diese Matrix, um über das kybernetische Gemeinsame nachzudenken, etwa wenn es um den Austausch von Musik, Codes oder Software geht.

Diese Analogie ist nützlich und kraftvoll, sie erfasst aber nicht, dass es hier um zwei unterschiedliche Begriffe geht. Zum einen haben wir das ökologische Gemeinsame: die Ökosysteme der Erde, das Wasser und die Luft, die gemeinsam sind oder sein sollten. Zum anderen gibt es das Gemeinsame in Form von Ideen, Musik oder Bildern. Nun ist die Erde aber grundlegend begrenzt und lässt sich nicht beliebig reproduzieren.

Klimawandel: zwei Gesichter der Apokalypse

Damit sind wir beim Klimawandel. Sie haben den Weltklimagipfel in Kopenhagen im vergangenen Dezember besucht.

Michael Hardt: Dort kamen zwei Strömungen sozialer Bewegungen zusammen, die beide auf dem Gemeinsamen bestehen, aber aus unterschiedlichen Perspektiven. Leute, die hauptsächlich zum Klimawandel arbeiten, denken über die Begrenzungen der Erde nach, während die Globalisierungskritiker sich vor allem dem biopolitischen und reproduzierbaren Gemeinsamen widmen. Faszinierenderweise gelang ihnen trotz ihrer konzeptionellen Konflikte ein gemeinsamer Kampf.

Doch kamen die Unterschiede schon in den Slogans zum Ausdruck. Einer meiner liebsten globalisierungskritischen Sprüche aus den vergangenen zehn Jahren lautet: „Wir wollen alles für alle“. Vom Standpunkt der Umweltschützer klingt das bloß nach gegenseitig zugesicherter Zerstörung. Dagegen gehörte zu den charmantesten Plakaten der Kopenhagener Demonstration „Es gibt keinen Planeten B“. Für Leute, die gegen den Neoliberalismus kämpfen, erinnert das wiederum stark an Margaret Thatchers Wendung „Es gibt keine Alternative“. Es hat immer Alternativen gegeben. Darum ging es den globalisierungskritischen Bewegungen doch: „Eine andere Welt ist möglich“. Die Klimaaktivisten würden eher sagen: „Diese Welt ist vielleicht noch möglich“.

In Kopenhagen gab es zwei Gesichter der Apokalypse. Die der Globalisierungskritiker entspricht den Vorstellungen, die chiliastische Bewegungen seit langem vertreten: Das Ende aller Tage verheißt den Beginn eines neuen Tages. Das ist im Wesentlichen ein revolutionärer Begriff der Apokalypse, christlich und kommunistisch zugleich. Für die Klimaaktivisten meint das Ende aller Tage schlicht das Ende aller Tage. Das ist eine ganz andere Apokalypse.

Die beiden Strömungen beschäftigen sich mit zwei verschiedenen Arten des Gemeinsamen. In unseren Büchern haben Toni und ich uns vor allem dem biopolitischen Gemeinsamen gewidmet. Kopenhagen hat mir klar gemacht, wie nötig es ist, sich mit beiden Formen und ihrem Zusammenspiel zu befassen. Man muss um beide kämpfen, aber ihre Unterschiede wahrnehmen. Daher ist die Begegnung und Überschneidung dieser zwei Bewegungen so faszinierend und produktiv.

Lenin

Sie argumentieren, die gegenwärtige Produktionsweise ermögliche demokratische Organisationsformen. Wie hängt das zusammen?

Michael Hardt: Das ist ein altes leninistisches Argument. In dieser Hinsicht bin ich also Leninist (lacht). Demnach liefert die vorherrschende Arbeitsorganisation nicht nur das Modell, sondern sogar die sozialen Fähigkeiten für eine politische Organisationsform. Die stark hierarchisierten und zentralisierten Fabriken zu Beginn des 20. Jahrhunderts gaben in gewisser Weise das Modell für die bolschewistische Avantgardepartei vor. Lenin sagt sinngemäß: Die Menschen haben einen Boss auf der Arbeit, also brauchen sie auch einen Boss in der Politik. Er schreibt das in Staat und Revolution mit dem Ziel einer demokratischen Gesellschaft, in der die Leute selbst handeln und entscheiden können. Aber er schränkt ein, so wie die menschliche Natur heute sei, reiche es dafür noch nicht.

Nach dieser Logik muss man fragen, was ist heute die dominante Produktionsform und welches Modell und welche Fähigkeiten hält sie für politische Organisation bereit? Leninist sein, hieße heute demnach, die Avantgardepartei abzulehnen. Denn wenn es stimmt, dass die vorherrschende Form der Arbeitsorganisation heute in horizontalen und dezentralisierten Kooperations-Netzwerken besteht, könnte man sich eine politische Form vorstellen, die ebenso dezentralisiert und horizontal ist. Lenin sprach von der menschlichen Natur. Vielleicht hat sie sich heute gewandelt: Menschen sind bei ihrer Arbeit flexibel, autonom und kooperativ, und das erlaubt ihnen, in der Politik horizontale Netzwerke zu knüpfen und zusammen zu arbeiten. Ich mag es, Lenin mit Lenin zu bannen.

Wir sprechen über eine Tendenz, nicht über etwas Vollendetes. Betrachtet man diesen Begriff von horizontalen Produktionsnetzwerken aus der Perspektive der Arbeitssoziologie, dann erweist er sich teilweise als richtig, aber in vielen Fällen auch nicht. Aber wenn es eine Tendenz und eine ökonomische Transformation in diese Richtung gibt, müssen wir das anerkennen.

Selbst in Lenins eigenen Überlegungen haben wir es nicht mit einem Automatismus zu tun. Die Struktur der Fabriken führte nicht zwangsläufig zu den Sowjets und der Avantgarde. Sie setzten eine politische Organisierung voraus. Ebenso liefert das Denken über Arbeitsbeziehungen und Kooperationsfähigkeiten heute nur das Rohmaterial für Politik. Es ist möglich, eine demokratische politische Organisation zu schaffen. Aber es erfolgt in keiner Weise automatisch.

Das gegenwärtige repräsentative, parlamentarische System ist nicht demokratisch

Sie sprechen von einer Demokratie jenseits der politischen Repräsentation?

Michael Hardt: Genau. Sie würde auf der Autonomie jedes Einzelnen basieren, darauf dass Menschen selbstständig handeln und denken. Ob das Formen der Delegation einschließt, oder welche Strukturen das nötig macht, bleibt herauszufinden.

Auch in Ihrem Buch argumentieren Sie scharf gegen den Parlamentarismus. Aber Sie sagen nicht, was Sie von Delegation an sich halten.

Michael Hardt: Schauen Sie sich die Gründungsdokumente der USA an, die Federalist Papers oder auch die Verfassung selbst. Ihre Autoren wussten sehr genau, dass Repräsentation anti-demokratisch, dass sie ein Bollwerk gegen die Demokratie ist. Sie ermöglicht eine periodische Verbindung zwischen Repräsentierten und Repräsentanten – aber in diesen Texten stand vor allem die Trennung im Zentrum. Als die Verfassung in den 1780er Jahren geschrieben wurde, waren die Gründer sehr gegen die Demokratie. Daher konzipierten sie die Repräsentation als eine Kluft, die sie mit der Bevölkerung verbindet, aber auch von ihr trennt. Es ist wichtig, das zu erkennen. Das gegenwärtige repräsentative, parlamentarische System – wie es die USA, Deutschland und andere Länder im Wesentlichen teilen – ist nicht demokratisch.

Daraus ergibt sich eine formale Frage: Wie können wir ein System erfinden, dass es den Menschen erlaubt, sich kollektiv selbst zu regieren? Wir stehen aber auch vor einer anthropologischen Frage. W.E.B. Du Bois hat ein fabelhaftes Buch über die so genannte Reconstruction geschrieben, über die 20 Jahre nach dem Sezessionskrieg. Er interessiert sich dort vor allem für die Möglichkeiten einer „Rassen“-Demokratie, mit der kurz experimentiert wurde, bis sie vollständig scheiterte und in der schrecklichen Segregationszeit endete. Interessant ist folgendes: Du Bois sagt, die schwarze Bevölkerung wurde dazu geformt, arm und ignorant zu sein. Wenn man nun versuchen würde, sofort eine Demokratie aufzubauen, wäre sie bloß die Herrschaft von Armut und Ignoranz. Sklaven müssen nicht nur emanzipiert, sie müssen befreit und transformiert werden. Und auch wenn in verschiedenen Experimenten etwa schwarze Repräsentanten gewählt wurden, so gab es doch keine radikale Transformation der Sklavenbevölkerung, die es ihr erlaubt hätte, sich selbst zu regieren; von der damaligen weißen herrschenden Klasse ganz zu schweigen.

Das ist eine interessante Erkenntnis. Es geht auch heute nicht nur um formale Systeme, sondern wir stehen immer noch vor einer anthropologischen Frage. Unser Blick auf die Arbeitswelt ist ein Versuch, das anzusprechen. Welche Anzeichen haben wir für eine Transformation der Menschheit, eine Transformation unser selbst, die die Demokratie möglich macht?

Das zapatistische Experiment, schön wie es in seiner Miniatur manchmal ist, schafft nicht nur Formen der Selbstregierung, über Versammlungen und andere Strukturen. Es ist auch eine Transformation der Bevölkerung: Sie unternehmen ein anthropologisches Ausbildungs-Experiment, sie lernen gemeinsam, sich selbst zu regieren. Es reicht also nicht, ihre Regierungs- und Gesellschaftsstrukturen zu übernehmen, man müsste auch darüber nachdenken, wie eine solche Transformation stattfinden könnte.

Isolation – Der Blick auf die Arbeitswelt

Ein Schlüssel zur Demokratie liegt also in der Arbeitswelt. Aber was ist mit deren Schattenseiten?

Michael Hardt: In gewisser Hinsicht erzeugt die biopolitische Produktion immer mehr Isolation. Die Fabrik war für die Menschen auch ein vereinender Ort, der Kooperationsbeziehungen und damit Kampfformen schuf. Die biopolitische Produktion hat einen dezentralisierten Charakter, der zuweilen die Form sehr mächtiger horizontaler Netzwerke annimmt und manchmal schlicht die Form sozialer Anomie und Isolation. Das führt zu einer politischen Frage: Wie können wir kämpfen, damit diese Arbeitsbeziehungen nicht in die Isolation führen? Einige Auseinandersetzungen um Prekarität gehen darum, etwa die EuroMayDay-Bewegung.

Ich war beeindruckt wie mächtig der Diskurs um Prekarität in Japan ist. In Nordamerika ist er sehr schwierig zu führen, weil dort stabile und garantierte Arbeitsplätze nie erwartet wurden. In Westeuropa war das anders, und auch in Japan ging man von einer Arbeitsgarantie aus, so dass die neuen Formen von Arbeitslosigkeit und Teilzeitbeschäftigung wie ein Betrug erscheinen. Der Diskurs über Prekarität geht in Japan um extreme Formen sozialer Isolation, etwa in Fällen von Selbstmord oder aktiver Gewalt derer, die unter diesen Verhältnissen leiden. Zugleich werden Gewerkschaften der Prekarisierten aufgebaut, was ich für eine sehr interessante Idee halte. Prekarität kann zur sozialen Isolation führen, sie kann aber auch politisch organisiert werden und so eine andere Form annehmen.

Evo Morales

Bleiben wir bei politischen Kämpfen. Oft wird derzeit positiv auf die Entwicklung Boliviens Bezug genommen. Worin besteht für Sie deren prinzipielle Bedeutung?

Michael Hardt: Evo Morales ist der erste indigene Präsident in einem mehrheitlich indigenen Land. Und er kämpft für einen Wandel, der nicht nur Rechte für die Indigenen schafft, sondern den Staat in Übereinstimmung mit ihren Auffassungen von Gemeinschaft, gesellschaftlicher Organisation und Autonomie transformiert.

In dieser Hinsicht unterscheidet er sich von Obama, auch wenn ihre Antrittsreden sich sehr ähnelten. Evo erwähnte in seiner Ansprache, dass sein Vater einst den Platz vor dem Präsidentenpalast, in dem er selbst nun sprach, nicht betreten durfte. Obama sagte in seiner Rede, dass sein Vater in Washington früher kein Restaurant besuchen durfte. Aber in Obamas Präsidentschaft nehmen ethnische Fragen bislang keinen zentralen Platz ein, während Evo mit der neuen Verfassung versucht, das Thema zu indigenisieren.

Überdies ist das Verhältnis zu den sozialen Bewegungen sehr wichtig. Viele Regierungen insbesondere in Lateinamerika – auch Obama könnte in diese Reihe aufgenommen werden – wurden auf dem Rücken sozialer Bewegungen an die Macht getragen. Bei Evo sieht man das sehr deutlich, aber auch bei Lula da Silva in Brasilien, und Hugo Chávez erkennt das ebenfalls an.

Aber was passiert, wenn die von den Bewegungen gewählte Regierung ihr Amt antritt? Glaubt sie, sie würde diese Kräfte repräsentieren und schickt die Leute nach Hause? Oder erhält sie eine Beziehung zu den Bewegungen aufrecht? Bleiben die Bewegungen aktiv und verhalten sich antagonistisch zur Regierung?

Letzteres passiert in Bolivien, und es ist das beste Szenario. Die Bewegungen denken nicht: Einer von uns ist an der Macht, er wird uns repräsentieren, wir müssen nicht mehr handeln. Sie machen weiter, widersprechen der Regierung vielfach und treiben sie voran. Das kann man in Bolivien viel deutlicher sehen als in Venezuela, oder Brasilien, das dem bolivianischen Beispiel am nächsten kommt.

In den USA ist die große Mobilisierung, die Obama ins Weiße Haus gebracht hat, nach der Wahl leider immer mehr zurückgegangen. Dabei wäre eine antagonistische gesellschaftliche Präsenz der Bewegungen auch für Obama besser, selbst wenn sie ihn angreifen würden, etwa wegen des Afghanistan-Krieges. Stattdessen hat seine Regierung ihr möglichstes getan, die Bewegungen zur Ruhe zu bringen.

Es ist nicht so, dass ich Evo für den Heiland halte. Im Gegenteil, ich finde es großartig, dass die Bewegungen ihm andauernd widersprechen.

Regierung und Opposition

Nach dem Weltsozialforum 2009 kritisierten Sie, das Treffen orientiere zu stark auf linke Regierungen. Ist die Autonomie des Forums gefährdet?

Michael Hardt: In den Anfangsjahren des Forums gab es in Lateinamerika noch nicht diese Regierungen, zumindest nicht im selben Ausmaß. Daher nahm das Forum seinerzeit deutlich eine ideologische Position gegen Regierungen ein.

Auf dem Forum 2009 in Belém war ein Abend den Führern der Linksregierungen gewidmet. Fünf von ihnen waren angereist: Fernando Lugo aus Paraguay, Evo Morales aus Bolivien, Hugo Chávez aus Venezuela, Lula da Silva aus Brasilien und Rafael Correa aus Ecuador. Das Treffen fand selbstverständlich außerhalb des Geländes statt, weil die Gründungsdokumente des Forums eine Beteiligung von Regierungsvertretern verbieten. Dennoch zog es alle Aufmerksamkeit auf sich, nicht zuletzt die der Medien. Lustig war, dass alle diese Führer in ihren Reden Sätze wie diesen sagten: „Ich verdanke meine Wahl dem Weltsozialforum“. Und ich erinnere mich an die Einführung durch die Gouverneurin des Bundesstaats Pará: „Diese fünf Männer verkörpern die Hoffnung auf eine neue Welt.“ Das schien mir den langjährigen Bemühungen des Forums zuwider zu laufen.

Manche Leute denken, gegen den Staat zu sein, wäre für mich vielleicht irgendwie ideologisch folgerichtig. Aber das bin ich gar nicht. Ich halte die Experimente dieser Regierungen für wirklich wichtig und in vieler Hinsicht progressiv. Viele Forumsmitglieder, etwa aus seinem Internationalen Rat liebäugeln mit der Unterstützung dieser Regierungen. Um die Autonomie des Forums fürchte ich deshalb nicht. Ich denke bloß, es hat bessere und wichtigere Arbeit zu tun.


Interview: Steffen Vogel

zuerst erschienen bei Telepolis, 20.05.2010

Fotos: Sarah Ernst