Plot:
Unser Protagonist wandert seit einigen Wochen im hohen Kaschmir, mehrere Tagesreisen von Manali entfernt. Selten sind Dörfer an ein Straßennetz angeschlossen. So begegnet er hier Menschen, die ein Leben weitab der Zivilisation führen. Er übernachtet meist bei Bauern. Sein Interesse ist, seine Kunst mit dem Unterwegssein zu verbinden. Er malt mit Acrylfarben in Malblöcke, die er mit sich führt. Gefällt seinen Gastgebern ein Gemälde, malt Back ihnen das Motiv auf ihre Hauswand. Die Hygiene ist einfach. Viele der Bewohner haben Amöbenruhr und werden diese Parasiten bis zu ihrem Lebensende nicht mehr los. Inzwischen hat Back extrem abgenommen und alle Anzeichen weisen darauf hin, dass auch er von den Parasiten befallen ist.
(Auszug aus dem Nachlass von Stan Back; herausgegeben von Jules Beauregard und Stefan Römer)
Er ist den ganzen Tag in den Bergen gewandert und hat Skizzen angefertigt. In das tiefe schmale Tal scheint täglich nur für wenige Stunden die wärmende Sonne; unten tost der eisige Fluss. Deshalb wandert man in die höheren Regionen, will man nicht den Tag im Schatten oder in den feuchten Gebäuden verbringen. Die Dörfer in Kaschmir folgen hier auf dem jahrtausendealten Verbindungsweg zwischen Indien und Tibet einer einfachen Anordnung: am Fuße des Tals führen Straßen oder Wege, von denen Trampelpfade zu den Dörfern oder Siedlungen abgehen. Die Dörfer liegen an Straßenkreuzungen oder an heiligen Orten. In Manikaran gibt es heiße Quellen, in denen man tagsüber völlig alleine relaxen kann, weil die Einheimischen sie nur morgens oder abends zum Baden aufsuchen. Das Dorf, von Hindu- und Sikh-Mythen aufgeladen wegen seiner heißen Quellen, ist schrecklich langweilig. Es gibt weder Strom noch Post. Ich fühle mich wie gelähmt, habe das Gefühl, dass ich hier nie mehr wegkomme. Doch sobald ich in einem Becken im Angesicht rudimentärer Shiva-Statuen von dem heiligen, heißen Wasser umströmt werde, träume ich von der Ewigkeit. Sitze ich in der Sonne und zeichne Felsformationen oder die bizarren Wälder, dann arbeite ich selbstvergessen. Irgendwann ist die Sonne weg, und ich erstarre blitzartig, wegen des aus dem nördlichen Ladakh oder dem östlichen Pin Valley Nationalpark herabwehenden Eishauchs. Dann ist es höchste Zeit, das Malzeug zusammenzupacken und ins Dorf zurückzukehren. Wenn man Leute treffen und neue Geschichten hören will, muss man in den Chai-Shop gehen. Hier gibt es nur Tee, denn einerseits verweigert sich Indien westlichen imperialistischen Marken wie Coca Cola und andererseits: Wer soll das Zeug in diese Dörfer tragen? Doch der Tee hat einen Nachteil. Da Wasser in einer Höhe von 2000 m bereits bei weniger als 100 °C kocht, werden die Amöben nicht abgetötet. Man kann im Chai-Shop ein reiches Spektrum an Leuten treffen, die in dieser Region leben: von aus Afghanistan immigrierten Händlern, britischen Freaks, die dort zeitlich noch unbegrenzt leben können, über Touristen bis zu Locals, die entweder im Restaurationsgeschäft tätig sind, oder sich im Handel mit dem versuchen, was auch immer gerade Absatz findet. Spätestens hier an diesem sozialen Ort des Chai-Shops holen sich viele Leute Amöben beim Teetrinken. So banal das klingt, für viele Existenzen hat es schwerwiegende Folgen.
Mit einem unvorstellbaren Darmdruck wache ich nachts auf. Sofort raus.
Pang!
Meine Stirn kracht gegen einen Holzbalken unterm Dach. Meine Hände tasten im Dunkeln an einem morschen Holzgeländer nach Halt, eine steile Leiter runter – mehr gerutscht –, im Hof durch dösende Kühe gedrängt, dann auf die andere Seite der Dorfgasse gehastet: zwei feste Steine zwischen denen Wasser durchfließt, darüber ist eine Bretterbude: in die Hocke, was für eine simple biologische Freude das ist, das Glück eines Klosetts.
Nachdem er von Tag zu Tag beobachtet, wie sich sein Stuhl immer mehr rosa färbt und sich sein Gesamtzustand verschlechtert, muss er sich mit dem Gedanken anfreunden, dass er Amöben hat und in eine andere Region reisen muss, wo er sie mit einem starken Medikament bekämpfen kann.
Ich habe in Löchern geschlafen, in denen nachts kleine bis mittelgroße Vierbeiner um mich herum krochen. Die Sehnsucht nach einem schöneren Ort und nach warmen, weichen Armen, die mich halten. Doch sich nur zu Fuß fortbewegen zu können und in einer Kultur zu leben, die in jeder Hinsicht grundsätzlich verschieden ist von der, in der ich aufgewachsen bin, war der Grund dieser Reise.
Die Tage verrinnen wie im Flug! (Vielleicht ein bisschen zu schnell) Es wird nicht langweilig in der Ewigkeit.
Der 1980er-Jahre Zynismus sitzt tief. In sein Tagebuch notiert er: „You know you‘re in the best selling show.“ Aus welchem Song ist das? Einige Monate zuvor war er noch an der Startbahn West in Frankfurt/Main demonstrieren. Rainald Goetz hatte sich ein Jahr zuvor in Klagenfurt die Stirn aufgeritzt, IRRE Mann, KONTROLLIERT ist das, sehr kontrolliert von „den Medien“. Ein Land, das von einem Machtbesessenen regiert wird, und er alle Gegner mit demokratischen Mitteln beseitigt. Doch die Mehrheit hat den gewählt. Die Hamburger Hafenstraße schaukelt sich gerade zu einer Stadtrebellion hoch. Die USA geben dem Irak Waffen. Schizophrenie ist, wenn man nicht nur versucht, sich selbst die Hand zu geben, sondern sich dabei auch noch sich selbst vorstellt. D-land hat er hinter sich gelassen. Dachte er.
Das wochenlange Wandern in den Bergen hat Stan Back müde gemacht. Visionen mischen sich in die Realität. Gestalten, die zur Sonne schreiten, treffen sich zum Tarot im alten nebelverschwommenen Schuppen, ein Kaminfeuer knistert. Es liegt ein Geruch in dieser dünnen Luft, der sich nie wieder aus dem Gedächtnis löschen lässt.
Ich verrichte meine malerischen Arbeiten in Malblöcken, die immer trocknen müssen, weil sonst die Blätter verkleben. Doch meine Kunst hat sich seit den Malstunden beim Hofmaler des Dalai Lama in Dharmasala einige Wochen zuvor nicht verbessert. Nicht mal großartig verändert. Das stresst mich extrem.
Nun kommt er ins Dorf zurück, er ist hungrig und will für seine am nächsten Tag geplante Rückreise packen.
Eine alte Frau ist die Chefin der Familie; sie verwaltet das Haus, in dem er einen Raum unterm Dach gemietet hat. Ihr gehören die Kühe, sagt sie. Manchmal besuchen sie Männer, die wie Geschäftsleute gekleidet sind mit weißem Hemd und schwarzer Hose, mit denen sie beim Tee ernste Gespräche führt. Worum es geht, ist nicht rauszufinden.
Gerade will ich in mein Zimmer gehen, da sehe ich sie in einem dunklen Raum mit einem Deutschen reden. Offensichtlich zeigt sie ihm verschiedene Qualitäten von Haschisch. Sie gibt ihm kleine, daumendicke Haschisch-Rollen. Man spricht hier von der Maßeinheit Tola, was in etwa zehn bis elf Gramm entspricht. Hanfblüten werden so lange zwischen den Händen gerieben, bis diese Rollen aus Hasch entstehen. Nun knetet der Deutsche die harzigen Röllchen, riecht an Ihnen und begutachtet die Farbe der neuen Ernte, die außen zwischen dunkelbraun bis schwarz und innen zwischen dunkelgrün bis braun changiert; je weniger Druck bei der Ernte angewendet wird, desto cremiger ist die Konsistenz. Er entscheidet sich für eine mittelgute Qualität, woraufhin die alte Frau mehrere Bündel auf die Waage legt. Nachdem er bezahlt hat, packt er die ansehnliche Menge in seine kleine Reisetasche. Bei einem gemeinsamen Tee erzählt mir Achim, dass er früher in Berlin lebte, aber aus Sachsen stammt. Nun lebt er schon zwei Jahre in Indien von dem Geschäft, die neue Ernte aus den Bergen in Goa an die Touristen zu verschieben. Er hat vor, am nächsten Morgen das Tal zwei Stunden hinabzuwandern, um dort in den Bus zu steigen. Er sagt, er habe das schon häufig gemacht, um die Drogenkontrollen zu umgehen. Am 21. Oktober 1984 wandern wir morgens um 6:00 Uhr etwa 12 km auf einem Fußpfad das Tal hinab. Meine Kräfte schwinden langsam wegen des schweren Rucksacks, als wir, die Schuhe in der Hand, durch den eiskalten Fluss waten. Auf der anderen Seite angekommen, wärmen wir uns in der Sonne. Obwohl ich fast nichts gegessen hatte, treibt mich mein Darm immer wieder ins Gebüsch. Nach schier endlosem Warten hören wir endlich den Bus kommen. Auf unser Zeichen hält er an und lässt uns einsteigen. Doch er fährt nur einige hundert Meter bis zu einem Chai-Shop, wo er abrupt stoppt. Zwei Mitfahrer in Uniform geben sich als Drogenfahnder aus. Ohne großes Aufsehen greifen sie in die Reisetasche meines Begleiters, als wüssten sie von seinem Einkauf, und fördern etwa zwei Kilo des gesuchten Materials zutage.
Mir wird ebenfalls geboten, meinen Rucksack auszupacken. Nachdem ich meine Kleidung auf den Asphalt gelegt habe, beginnt einer der beiden Polizisten alles zu durchsuchen. Während ich meine Malutensilien, Farbtuben, Schälchen, Pinsel, Spachtel und Lappen dazu viele Musikkassetten und die Walkman-Boxen auspacke sowie einen ganzen Beutel mit Diafilmdosen öffne, durchkramt der andere Uniformierte meine umfangreiche Kollektion an Kräutertees, Medikamenten und meinen Pfeifentabak. Über mehrere Quadratmeter breiten sich meine Dinge auf der Straße aus; die anderen Fahrgäste feixen und schließen offensichtlich Wetten ab, ob auch bei mir „etwas“ gefunden wird. Als beide Uniformierten leer ausgehen, fordert mich der Ranghöhere auf, mich breitbeinig, mit hinter dem Kopf verschränkten Händen hinzustellen. Mit gezielten Griffen tastet er meinen ganzen Körper von Kopf bis Fuß ab, doch er kann nichts finden. Erneut durchwühlen beide meine gesamte Reiseausstattung einschließlich meines Rucksacks, doch da ist nichts. Wieder muss ich mich in Position stellen und werde, unter den Blicken der Menge, abgetastet. Ohne Erfolg. Beide Polizisten treten etwas zur Seite und beratschlagen, als ich bemerke, dass mein Berliner Mitreisender bereits mit Handschellen in einem Polizeifahrzeug sitzt. Ich wende mich an einen der Mitfahrer aus dem Bus, äußere mich betont lässig und cool bedauernd über das schlechte Karma, das dieser Mann offensichtlich hat. Der ranghöhere Uniformierte behauptet noch immer, dass ich „something“ hätte, und befiehlt mir erneut, mich breitbeinig hinzustellen. Wieder tastet er mich ab. Nun muss ich auch meine Schuhe ausziehen. Doch er findet nichts. Ein drittes Mal tastet er mich ab, dieses Mal mit aller Sorgfalt und sehr langsam bis in alle Körperdetails. Nichts. Nachdem der Bus nun so lange gewartet hat, treibt der Fahrer unsere kleine Gruppe an, schnell einzusteigen, damit wir weiterfahren können. Ich beeile mich, meine gesamten Sachen hastig einzusammeln und sie im Bus in meinen Rucksack zu stopfen. Meine Verfassung ist übel, da ich noch nichts gegessen und nur Wasser getrunken habe. Meine Kräfte reichen gerade, um mich an meinem Vordersitz festzuhalten. Das war eine verdammte Bodycheck-Performance auf einer gottverlassenen Straße mitten im Himalaya. Meine Gedanken kreisen um den gebusteten Berliner und die Frage, wie ich die Übernacht-Busfahrt zurück nach Neu-Delhi durchstehen soll.
Ununterbrochen während der elend langen Fahrt nach Kullu redet der Uniformierte auf mich ein, um mir zu entlocken, wo ich „Es“ versteckt hätte. Er verspricht mir, dass ich nicht ins Gefängnis komme. Doch jeder weiß, dass viele Touristen im Gefängnis von Shimla sitzen, dass ihre gesamte Reisekasse für Bestechung draufgeht. Ob man dann frei kommt, ist dem Glück überlassen; das nennt man hier Karma. Nur eins ist klar: Wer nicht genug Cash hat, kommt nicht frei.
Immer wieder sagt er, er wisse genau, dass ich „etwas“ habe. Ich frage ihn, wie er auf diese absurde Idee komme. Doch er insistiert. Dabei fixiert er mich mit strengem Blick, während ich mir den Kopfhörer meines Walkman aufsetze, um The Top von The Cure zu hören:
I don’t care
If only I could say that
and not feel so sick and scared
I don’t care
if only I could say that
if only my eyes would close
Der Auspuff des Diesels muss undicht sein, denn die Abgase dringen in den Gastraum. Mir ist so schlecht und ich bin so schwach, dass ich mich kaum auf dem schaukelnden Sitz halten kann – I don’t care. Der Motorenlärm und die Bezichtigungen des Polizisten bilden einen Soundtrack, dem ich mit geschlossenen Augen ausgesetzt bin. Nachdem wir in Kullu angekommen sind, muss ich mehrere Stunden auf den Übernachtbus nach Neu-Delhi warten. Selbst als ich in dem Traveler-Restaurant Rama’s versuche, mich zu stärken und zu dösen, kommt der Polizist noch mehrmals, um mich auszufragen.
Von ankommenden Reisenden höre ich, dass die Ministerpräsidentin Indira Gandhi von Sikh-Soldaten ermordet worden ist. Es hatte in Neu-Delhi tagelang Unruhen gegeben, bei denen viele Hotels der religiösen Gemeinschaft der Sikhs abgebrannt waren.
Schließlich besteige ich den überfüllten Nachtbus völlig entkräftet, um einen Stehplatz zu bekommen. Wie sollte ich bloß die 20-stündige Fahrt überleben?
Damals gab es noch keine Mails oder Internet. Deshalb löst die Aussicht, auf dem GPO meine Post von Freunden abzuholen, eine große Vorfreude aus. Das gibt mir Kraft.
Stan Back, der vor Jahren in Costa Rica verschwundene Künstler und Musiker, ist getidan Leserinnen und Leser kein Unbekannter.
Siehe die Texte: normaler Bürger,
Stan Back – aus seinem Nachlass (I),
Stan Back – aus seinem Nachlass (II),
Stan Back – aus seinem Nachlass (III)
Stan Back – aus seinem Nachlass (IV)
Stan Back – Left on a little Farm
Stan Back – aus seinem Nachlass (V)
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Stan Back, © Stefan Römer, Fotograf: Franz Wanner
Die Texte von Stan Back werden auf diesem Blog veröffentlicht: stan-back.tumblr.com
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- Welcoming Culture – 2015 - 3. Oktober 2015
- Stan Back – aus seinem Nachlass (VI): Bodycheck. Eine Straßenszene im Parvati Valley, Kaschmir 1984 - 5. April 2015
- Stan Back – aus seinem Nachlass (V): Nur wer Antennen hat. Ebene Null – Ebertplatz. - 7. Februar 2015
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