Im Korsett lauert das Laster
Edith Wharton ist die Meisterin der bissigen Kostümliteratur. Jetzt gibt es auch ihren zornigsten Roman endlich auf Deutsch zu entdecken.
Geld. Manchmal darf man auch ungeniert über Geld reden. Zum Beispiel, wenn es erstens kein Problem ist und zweitens immer eine Hauptrolle spielt. Die große amerikanische Erzählerin Edith Wharton (1862 – 1937) zum Beispiel hatte von Haus aus viel Geld und verdiente noch mehr. Zur Welt kam sie als Edith Newbold Jones, ihre Eltern, so sagte sie, taten nichts als «jagen, segeln, reisen, trinken, an Pferde- oder Jachtrennen teilnehmen». Das Geld stammte von ihrem Großvater Jones, der ein so sagenhaft reicher New Yorker Geschäftsmann war, dass er das Sprichwort «Keeping up with the Joneses» – mit den Joneses mithalten – prägte. New York blühte und boomte, doch Ediths Eltern zogen das gemütliche Europa vor.
Als Zehnjährige begann sie zu schreiben, und zwar auf die großen, hellbraunen Papierbögen, in denen die Einkäufe der Joneses geliefert wurden. Als sie sechzehn war, finanzierte ihr der Vater die Publikation eines ersten Gedichtbandes, mit achtzehn erschienen erste Texte in Magazinen. Danach geschah viele Jahre lang fast nichts. Denn Edith Jones fügte sich zuerst einmal in die gesellschaftlichen Erwartungen und versuchte es mit heiratsfähigen Männern. Ihre erste Verlobung löste sich bald in Luft auf, wegen «geistigen Übergewichts der zukünftigen Braut», wie ein New Yorker Klatschmagazin wusste, doch als sie schon beinah hoffnungslose 23 Jahre alt war, ehelichte sie Teddy Wharton, einen arbeitslosen Sohn reicher Eltern, den sie zwar keinen Moment lang liebte, aber immerhin genug mochte, um mit ihm ein paar Häuser in Amerika und Europa zu kaufen und viel zu reisen.
«Der einzige Weg, nicht über Geld nachzudenken, ist, sehr viel davon zu haben»
1905 gelingt ihr der Durchbruch, da erscheint «The House of Mirth» als Fortsetzungsroman, dann auch als Buch, das sich in nur vier Monaten sensationelle 140’000-mal verkauft. Es ist die traurige Geschichte der Lily Bart, welche die große Liebe verpasst, weil sie auf das große Geld hofft. «Der einzige Weg, nicht über Geld nachzudenken, ist, sehr viel davon zu haben», sagt Lily Bart; ein Spruch, der bis heute zu den Lieblingsweisheiten der Wallstreet gehört.
Irgendwann bleibt Teddy in Amerika und Edith in Paris, irgendwann verspielt er ihr Geld, während sie ihn mit dem bisexuellen Bohemien und Journalisten Morton Fullerton betrügt, der seinerseits ihr Geld verprasst. 1913 lässt sie sich scheiden. Sie schreibt und schreibt, bis zu ihrem Tod erscheint mindestens ein neues Buch pro Jahr. Ihre Vorschüsse sind horrend, auf heutige Verhältnisse umgerechnet erhält sie mehrere Male gegen 350’000 Dollar im Voraus – und dann kommt der Krieg. Edith Wharton wird Kriegsberichterstatterin, gründet ein Flüchtlingscamp, schläft nur fünf Stunden pro Nacht und ist glücklich. 1916 erhält sie dafür den Orden der französischen Ehrenlegion. 1916 stirbt auch ihr bester Freund, der Exilamerikaner Henry James.
1921 gewinnt sie mit «The Age of Innocence» den Pulitzerpreis. Ein Mann heiratet in diesem Roman ein entzückendes, dummes, junges, steinreiches Wesen, verliebt sich aber in eine kluge, sich in Scheidung befindliche Lebefrau. Auch «The Age of Innocence» erscheint zuerst als Fortsetzungsroman, begleitet von einer reißerischen Leseraktion: «Schreiben Sie uns, was Sie wirklich über die Ehe denken! Raus damit!», forderte die «Pictorial Review». Martin Scorsese wird Edith Wharton 1993 in seiner berückenden Verfilmung mit Michelle Pfeiffer und Winona Ryder das schönste vorstellbare Denkmal setzen.
Spitze und zugleich sentimentale Studien der Upperclass
Die Wharton-Mania kennt in den 1920er-Jahren in Amerika keine Grenzen, ihre spitzen und zugleich sentimentalen Studien einer Upperclass, in der Emotionen durch kapitalistisches Kalkül ersetzt werden müssen, was zuverlässig die Liebe vernichtet, sind riesige Bestseller und gehören auch heute noch zum Köstlichsten und Kritischsten, was die Kostümliteratur zu bieten hat. Der 34 Jahre jüngere F. Scott Fitzgerald schreibt 1922 die Drehbuchfassung ihres Romans «The Glimpses of the Moon», doch als er sie 1925 endlich besuchen darf, da besäuft er sich vor dem Treffen aus lauter Angst derart, dass Edith Wharton in ihrem Tagebuch bloß das Wort «horrible» für ihn übrig hat.
1928 verdient Edith Wharton so viel wie nie, nämlich umgerechnet 1.25 Millionen Dollar, doch je erfolgreicher sie ist, desto mehr wollen ihre amerikanischen Abnehmer sie kontrollieren. Ihr Lieblingsthema, die Scheidung, die sie in «The Custom of the Country» (1913) anhand der aufstiegssüchtigen, seriellen Scheidungsfanatikerin Undine Spragg so wunderbar ironisch durchexerziert hat, gerät in Verruf. Und zum Glück weiß niemand, dass in ihren nicht veröffentlichten Manuskripten die Porno-Novelle «Beatrice Palmato» liegt, die en détail genüsslichen Inzest-Sex zwischen Vater und Tochter schildert. «Wir drucken nichts, was in irgendeiner Art krankhaft ist», schreibt eins ihrer Magazine, «sauber, gesund und glücklich» sollen ihre Helden sein.
Und endlich macht sich Edith Wharton Luft. Distanziert sich von der porzellanfeinen Welt unglücklicher reicher Debütantinnen und ihrer alten Tanten und von diesen unglaublich fein gestrickten Wharton-Dialogen, wo beiläufig tiefste moralische Abgründe und existenzielle Begierden aufgerissen werden. Sie schreibt zum ersten Mal über das Schreiben. «Hudson River Bracketed» heißt der Roman, den sie am 22. Oktober 1929 mit den Worten vollendet: «Ich bin sicher, dies ist mein bestes Buch.» Übersetzbar ist dieser Titel nicht, «Brackets» waren um 1850 üppige Verzierungen, mit denen reiche New Yorker ihre Villen im Hudson Valley dekorierten.
Und ist es nun ihr bestes Buch? Nein. Weil genau die rhetorischen und ironischen «Brackets» fehlen, die Whartons Stil sonst zu einem so kunstvollen Lesegenuss machen. Aber «Ein altes Haus am Hudson River», wie der Roman nun zum 150. Geburtstag der Autorin in der tollen deutschen Erstübersetzung durch Andrea Ott im Manesse-Verlag heißt, ist gewiss ihr eigenwilligstes Buch und wohl auch ihr ehrlichstes und zornigstes.
Immer elender und dreckiger wird das Dichterleben in der großen Stadt
Edith Wharton erzählt hier die Geschichte des idealistischen jungen Vance Weston aus der provinziellen amerikanischen Mittelklasse, der meint, zum Schriftsteller berufen zu sein. Die Begegnung mit einer belesenen höheren Tochter namens Halo (Heiligenschein) in einem alten Haus am Hudson River katapultiert den 19-Jährigen in die erhabene Sphäre der schönen Künste. Als Wunderkind reüssiert Weston ein wenig in New York, doch seine Weigerung, mit der alten Witwe Pulsifer (eine Anspielung auf den alten Pulitzer) zu schlafen, verbaut ihm den Weg zum wichtigsten Literaturpreis der Stadt. Kommerzorientierte Agenten und Redaktoren stellen sich ihm in den Weg, und dann heiratet er aus einer Laune heraus auch noch die falsche Frau, nämlich ein wunderschönes, aber armes, ungebildetes Mädchen, das bald an Schwindsucht stirbt. Und natürlich wäre Halo, die ihrerseits vernünftig geheiratet hat, genau die Frau, die er braucht und die ihn braucht.
Immer elender und dreckiger wird das Dichterleben in der großen Stadt, immer kühner werden Whartons drastische Skizzen der gegensätzlichen Soziotope, moderner und naturalistischer war sie nie. «Ein altes Haus am Hudson River» ist ein großer Künstlerroman und ein Abenteuer über und für die Literatur, eine 600 Seiten lange Verführung zum Lesen, und dabei geht es doch bloß ums Schreiben. Aber ums Schreiben ging schließlich Edith Whartons langes und unendlich reiches Leben. Und als sie im August 1937 in Saint-Brice-sous-Forêt, wenige Kilometer außerhalb von Paris, stirbt, hinterlässt sie allen, die bis zuletzt gut zu ihr sind, großzügige Geldgeschenke. Das Unternehmen Edith Wharton hat sich damit für alle Seiten – und dank ihren Büchern auch für uns – prächtig gelohnt.
Simone Meier (Tages-Anzeiger, 06.03.2012)
Ein altes Haus am Hudson River
Roman
Gebundene Ausgabe: 624 Seiten
Verlag: Manesse Verlag (17. Oktober 2011)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3717522302
ISBN-13: 978-3717522300
Originaltitel: Hudson River Bracketed
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