Bloßstellung statt Darstellung
Wenn sich die Medien verbünden, verliert der Mensch die Kontrolle. Dies beschreiben Bernhard Pörksen und Hanne Detel erschreckend anschaulich im Buch „Der entfesselte Skandal“.
Es war am 30. März 2012. „Das perfekte Dinner“, die Kochsendung für Voyeure auf Vox, war bei der 32-jährigen Bürokauffrau Claudia Börner in der Nähe von Kassel zu Gast. Claudia Börner war vergnügt, erzählte, dass sie in ihrer Freizeit modelt, gerne auch erotisch, dass sie ihre Brüste vergrössert hat und bisexuell ist. Fast alle Kandidaten von „Das perfekte Dinner“ erzählen so etwas, gerne zeigen sie im Fernsehen auch Nacktfotos. Über die Folgen dieses kulinarisch verbrämten Exhibitionismus hat bisher niemand berichtet. Claudia Börner beklagte sich jedoch bei ihren Freunden. Sie kritisierte die Darstellung des Fernsehens, das sie als Dummchen inszeniert habe, sie beklagte sich über Fluten böser Facebook-Nachrichten. Ein paar Tage später strömte Gasgeruch aus ihrer Wohnung. Claudia Börner hatte sich das Leben genommen.
Das Fegefeuer der Allgegenwart
Sie ist damit das radikalste Opfer eines intermedialen Kontrollverlusts, den der Tübinger Medienwissenschafts-Professor Bernhard Pörksen und seine Mitarbeiterin Hanne Detel in ihrem Buch „Der entfesselte Skandal“ so anschaulich beschreiben. Claudia Börners Beispiel steht allerdings nicht mehr im Buch, sie hat die beiden Analytiker mit ihrem Sterben überholt. Sie hat in ihrer naiven „Möglichkeitsblindheit“, so die Autoren, nicht erkannt, dass ihre Freude an der Darstellung ein Anlass zur Bloßstellung sein kann. Dass ein paar Mitglieder der Internetgemeinde, der oft statt einer Schwarmintelligenz eine eigentümliche Schwarmprüderie, eine Moral der Masse, zu eigen ist, gutmenschlich auftrumpfen. Dass sie Börners harmlos gemeinte Äußerungen als „vermeintliche Normüberschreitung“ ahnden und sie an den digitalen Pranger stellen.
„Der entfesselte Skandal“ ist ein großartiges Buch. Ein erschreckendes. Eine Übersicht über jenen Moment, in dem Medien sich verbünden und zu Mordinstrumenten werden. Man möchte sich danach fast aus jeder medialen Vernetzung zurückziehen und am liebsten auch noch jeden Spiegel aus seinem Leben verbannen. Denn darum handelt es sich bei der unendlichen Multiplizierbarkeit eines einzelnen Egos im digitalen Zeitalter ja: um einen Tanz im Spiegelsaal, bei dem der Spagat zwischen Selbstbehauptung und Selbstentblößung irgendwann nicht mehr auszuhalten ist und kippt. Dann schlägt der wortgewaltige virtuelle Lynchmob zu – manchmal genügen die Mobs klassischer Medien wie Fernsehen oder Zeitung – und stürzt Könige schneller als jede Revolution. Kachelmann hat das erfahren, Guttenberg – natürlich nicht zu Unrecht – auch.
Der Fall Guttenberg wird von Pörksen und Detel ebenso gründlich seziert wie die „Sexskandale“ von Golfstar Tiger Woods oder US-Politiker Anthony Weiner. Dabei geht es den Autoren nicht um Empörung oder Moral, es geht einzig um die Mechanik, das schwindelerregende Tempo, das Benennen der einzelnen Positionen unheimlicher Kettenreaktionen, in denen das Reale, das Mediale und das Digitale vollkommen entgrenzt werden und zu einem Fegefeuer der Allgegenwart verschmelzen.
Doch nicht nur die „großen“ Betroffenen hysterischer Medienepidemien werden betrachtet, sondern auch das Schicksal unfreiwilliger Youtube-Helden oder das der chinesischen Studentin an der amerikanischen Duke University, die in einem Streit zwischen tibetischen und chinesischen Mitstudenten zu vermitteln versuchte. Irgendwer drehte ein Video, es kam ins Netz, in Amerika wurde sie zur Heldin, in China wurde die virtuelle „Menschenfleischsuche“, so der offizielle Begriff, ausgerufen.
Und da ist auch die fatale Verquickung der Begriffe „Daniel Cohn-Bendit“ und „Kinderschänder“ durch den Algorithmus der Google-Suchfunktion. Cohn-Bendit äußerte sich 1975 in seinem Buch „Der große Basar“ provokativ über antiautoritäre Erziehungsexperimente. Lange Jahre redete niemand davon. Nun ergänzt Google Suggest, ein Dienst, der Begriffe so vervollständigt, dass sie auf ein möglichst breites Interesse stoßen, den Namen des Politikers automatisch mit der Möglichkeit eines Verbrechens, das der öffentlichen Empörung am zuträglichsten ist. Skandalisierung geht – wie so oft in den Medien – vor Relevanz.
Aus Demokratie wird Diktatur
Stets geht es bei den Beispielen um die vermeintlich private „Hinterbühne“, über die so ein Medienopfer mithilfe unendlich verknüpfbarer, transferierbarer und multiplizierbarer Daten auf die „Vorderbühne“ der großen Öffentlichkeit katapultiert wird. Um Bilder, die aus einer Kontextverletzung heraus als authentisch verkauft und unhinterfragt verbreitet werden. Die „Ästhetik des Authentischen besteht – darin liegt die entscheidende Paradoxie – in ihrer Anti-Ästhetik“, schreiben die Autoren. Man muss sich nur Nachrichtensendungen am Fernsehen anschauen: Amateurhafte Zuschauervideos sind heute als glaubwürdige Dokumente hoch im Kurs.
Es wurde gern von einer „Demokratisierung der Prominenz“ gesprochen, als sich die ersten Paparazzi-Plattformen im Internet breitmachten, vom Recht des normalen Bürgers auf Einsicht in die Welt der Übernormalen. Inzwischen ist aus der Demokratie eine Diktatur der allgegenwärtigen, kollektiven Kontrollmöglichkeiten geworden, die am Ende nichts anderes als den totalen Kontrollverlust des Einzelnen bedeuten.
Simone Meier (Tages-Anzeiger; 04.05.2012)
Bernhard Pörksen, Hanne Detel: Der entfesselte Skandal.
Verlag Herbert von Halem, Köln 2012. 247 S.
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