Das grosse Fesseln
Der Pornoroman „Shades of Grey“ ist Viagra für den Buchhandel und legt diesen Sommer auch alle Feuilletons flach. Bereits gibt es Persiflagen und Pläne für eine Verfilmung.
Sollten Sie noch nicht wissen, wie sich der wahre Orgasmus einer Frau anfühlt, hier kommts: „Völlige Auflösung wie im Schleudergang der Waschmaschine“! Und sollten Sie das wahre Beauty-Problem einer Frau noch nicht kennen, voilà: „Postkoitale Haare stehen mir einfach nicht.“ Und wie lautet wohl die vollkommen schiefe Selbstbeschreibung der jungen Frau mit dem Haarproblem, die wir als blasseste Blume unter der Sonne Amerikas wahrnehmen: „Ich bin immer irgendwie schräg gewesen.“ Zwei fürchterliche Seelchen wohnen zudem in der Brust von Anastasia Steele, bald 22: nämlich ihre „innere Göttin“, ein quasi dauergeiles Ding, das ständig „einen Salsa aufs Parkett legt“, und ein quengeliges „Unterbewusstsein“, das andauernd „sein Gesicht zu einer Munch-Fratze“ verzieht.
Derartige Naivitäten muss man aushalten können, wenn man sich „Shades of Grey – Band 1 Geheimes Verlangen“ oder schlicht „Das Buch“, wie es in Amerika heißt, zu Gemüte führen will. Sie machen die Lektüre nicht gerade leichter. Manchmal aber unfreiwillig lustig.
Aus „Chick Lit“ wird „Clit Lit“
Die Rahmenhandlung von „Shades of Grey“ – verhühnerte Literaturstudentin trifft auf scharfen, aber geheimnisvollen Multimillionär – ist abgestandenste „Chick Lit“, also jene angelsächsisch-urbane Unterhaltungsliteratur für Frauen, zu deren Höhepunkten „Bridget Jones“, „Sex and the City“ und „The Devil Wears Prada“ zählen. Doch jetzt ist innerhalb der schon recht ausgeleierten „Chick Lit“ die radikalere „Clit Lit“ auf dem Vormarsch, also die Sexverbesserungs- beziehungsweise Masturbationsliteratur von und für Frauen.
Weil die schottische Bloggerin und Hausfrau Erika Leonard alias E. L. James vor gut einem Jahr erst in Amerika und dann im Rest der Welt mit ihrer Sex-Trilogie „Fifty Shades of Grey“ einen unvorhersehbaren Boom der Clit Lit auslöste, fand im März in Bristol die erste „Eroticon“ statt, die erste britische Messe für Sexautoren und ganz besonders für Sexautorinnen. Es wurde dort bekannt, dass Clit Lit – besonders in Grossbritannien – ganze Verlage saniert und wahres Viagra für den Buchhandel ist. Männer wollen Pornobilder, Frauen lesen lieber Pornoliteratur, im Fall von „Shades of Grey“ sind es weltweit bereits über 15 Millionen.
Schauer-Erotik von Marquis de Sade war heißer
Und? Taugt das Werk jetzt als, na ja, Wichsvorlage? Sagen wirs so: Es gibt gewiss ein paar Frauen, denen das reicht. Solche, deren Lieblingssong „Kiss from a Rose“ von Seal ist und die Paulo Coelho für einen Philosophen halten. Die andern seien entwarnt: Christian Grey wird seine Genitalklammern so wenig einsetzen wie Vampir Edward seine Zähne in „Twilight“. Anders hätte das Ding ja auch gar nie ein Bestseller werden können in Amerika.
Vokabular wie Vorstellungswelt der E. L. James sind sehr begrenzt, Mr. Grey, der Mann mit den angeblich „fünfzig Schattierungen“ von Perversion, der Miss Steele zu seiner Sexsklavin umerziehen will, wird fast nur als „heiß“, nochmals „heiß“ und „wahnsinnig attraktiv“ beschrieben, und es gilt auch für ihn, was gemeinhin für das statusorientierte Genre der Chick Lit gilt: je schöner der Anzug, die Autos, das Penthouse, das Privatflugzeug, desto heißer der Mann. Der Sex ist immerzu „Wow!“, die weibliche Anatomie wird in ihren intimsten Momenten mit eher Erotik tötenden Termini wie «Vulva» bedacht. Da war die Schauer-Erotik des alten Marquis de Sade weiß Gott heißer.
Sexvertrag ersetzt den Ehevertrag
Was also ist nun der wahre, der bedenkenswerte Kern von „Shades of Grey“? Es ist die Festschreibung eines Sadomaso-Kodex in „Regeln“ und in einem „Vertrag“, den Grey und Steele miteinander aushandeln. In Schriftstücken, die knallhart alle theoretisch möglichen Instrumente und Handlungen benennen. Und die diese gleichzeitig in Beziehung zu einem ganz menschlichen Begriff setzen, der die prekäre Koexistenz von dominantem und unterworfenem Partner überhaupt erst erlaubt: absolutes Vertrauen.
Romantische Flausen werden hier in gewinnbringende, sexualpragmatische Bahnen umgelenkt. Der Sexvertrag ersetzt den Ehevertrag, und erst, wenn die letzte Verabredung festgezurrt ist, kann man sich so richtig aufeinander verlassen und sich fallen lassen, und wer weiß, vielleicht passiert dann innerhalb dieser totalen Überreglementierung doch noch ein bisschen spontane Romantik. Rahmenbedingungen wie Inhalt sind also beide ein bisschen Bondage, saferer Sex ist kaum vorstellbar. Am Ende ist dies doch recht bürgerlich bis bieder, scheint aber eine latente Sehnsucht frustrierter Frauen zu bedienen, die angesichts ihrer medialen Zerrbilder nicht mehr wissen, wohin vor lauter Überforderung.
Selena Gomez‘ hochkomische Persiflage
Die kluge Soziologin Eva Illouz erkannte darin einen „zeitgemässen, utopischen Gegenentwurf zur Durchschnittsbeziehung“ („Spiegel online“) und sah keinen Grund, sich der allgemeinen Aufregung über Frauen erniedrigende Unterwerfungsfantasien anzuschließen. Alice Schwarzer sah das ähnlich. Ganz im Gegensatz zur Politologin Regula Stämpfli, die sich zur These verstieg, das Buch habe „mit selbstbewussten Frauen ungefähr ebenso viel zu tun wie die Higgs-Teilchen mit Allah“ („Basler Zeitung“). Und, und, und.
Die Geschichte von Steele-Grey findet täglich weitere Multiplikatoren ihrer Popularität: In Amerika versammeln sich bierselige Jungs zu „Shades of Grey“-Karaoke-Abenden. Ausgerechnet Justin Biebers puppenhafte Freundin Selena Gomez stellte unter dem Titel „Fifty Shades of Blue“ eine hochkomische Persiflage ins Netz. Die lesbische Komikerin Ellen DeGeneres ist auf Youtube zu finden, wie sie sich einen abquält beim Versuch, „Shades of Grey“ als Hörbuch zu sprechen. Und weil der „Shade“-Schund – Sommerloch sei Dank – schlicht jedes Feuilleton flachgelegt hat, schrieben A. L. Kennedy, Jeanette Winterson und Will Self letzte Woche im „Guardian“ lustige Mainstream-Porno-Plagiate.
Diese Kuh hat noch viel Milch
Ausgemolken ist die Kuh selbstverständlich noch lange nicht: Michael De Luca und Dana Brunetti, die Produzenten des David-Fincher-Films „The Social Network“, haben die Filmrechte von „Fifty Shades“ erworben. Brett Easton Ellis, der Star-Autor mit den zumindest semi-sadistischen Fantasien, hat sich ungefragt bereit erklärt, das Drehbuch zu schreiben. Mehrere Schauspieler streiten sich um die Rolle des Christian Grey, auf die Rolle der Anastasia Steele ist allerdings noch keine Dame richtig heiß. Es scheint zwischen den Figuren, allem Gefallen zum Trotz, eben doch noch ein Gefälle zu geben. Angelina Jolie, die Frau mit der wohl größten Sadomaso-Erfahrung in Hollywood, ist als Regisseurin im Gespräch. Diese Maschine läuft fürwahr im Schleudergang.
Simone Meier (Tages-Anzeiger, 18.07.2012)
James, E. L.; Brandl
Andrea (Übersetzung)
Hauser, Sonja (Übersetzung)
Shades of Grey 1. Geheimes Verlangen
Goldmann, 601 Seiten
ISBN 978-3-442-47895-8
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30. Juli 2012 um 10:21 Uhr
Stimme der Kritik absolut zu. Wer ein intelligenteres erotisches Buch lesen will, dem sei „Pornos machen traurig“ von Peter Redvoort empfohlen …
K. H.