Die Illusionen der Kreativen
Hat sich eine ganze Generation geirrt? Katja Kullmann beschreibt im ernüchternden Buch „Echtleben“ die Gründe und Abgründe von in Armut versinkenden Kulturschaffenden und Intellektuellen.
Was genau meinte wohl Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit, als er für seine Stadt den Slogan „arm, aber sexy“ erfand? Und was meinten wohl die Zürcher, als sie 2009 in der letzten Bevölkerungsumfrage das Kulturleben als drittwichtigste Eigenschaft ihrer Stadt bezeichneten? Sie meinten dies: dass da viele idealistische Menschen (in Zürich machen sie 9 Prozent der Bevölkerung aus) relativ arm, aber unheimlich sexy vor sich hin werkeln. Dass sie den kulturellen und damit auch atmosphärischen Boden bereiten, den andere, kaufkräftigere Schichten immer so gerne betreten, weil sie ihn „noch charmant“ oder „so schön studentisch“ finden, nur um dann zuverlässig Mietwucher, Porsches und Luxussanierungen einzuführen.
Und niemand sagt all den angehenden Kultur- und Medienschaffenden, all den zukünftigen Architekten, Designern, Grafikern, all den engagierten Intellektuellen, dass sie besser Wirtschaft studiert hätten. Weil Kreativität zwar wertvoll fürs Image, aber nichts wert ist. Weil heute – mit wenigen Ausnahmen – weder Denken noch Kunst angemessen vergütet werden. Weil die projektbezogene Gratis- oder Beinahe-Gratisarbeit in keinem Bereich so selbstverständlich ist wie in der viel gepriesenen Kreativwirtschaft. Es gibt kein richtiges Leben in der schlecht bezahlten Freiheit der Freelancer. Und wer ist nun schuld an dieser Misere? Alle.
Mit Anstand pleite
Dies jedenfalls bleibt als Einsicht nach der Lektüre von Katja Kullmanns neuem Buch „Echtleben“, einer Studie über das kreative Prekariat der Städte. Kullmann hat es selbst erlebt. Zuerst war sie News- und Wirtschaftsjournalistin, dann Bestsellerautorin, dann auf Hartz IV. 2002, damals war Kullmann 32, erschien im Eichborn-Verlag ihr Buch „Generation Ally“, es war überraschend reiner Feminismus, ein wütender, mit Hunderten von gut recherchierten Fakten belegter Angriff auf die unterhaltungsmediale Maschinerie des neuen Jahrtausends, die gut ausgebildete Frauen in teuer gekleidete und schutzbedürftige Dummchen zurückverwandelte, angeführt von Ally McBeal, der verschusselten TV-Serien-Anwältin. „Generation Ally“ verkaufte damals „knapp über 100 000 Exemplare“, heißt es heute bei Eichborn, 2003 gewann Katja Kullmann damit den Deutschen Buchpreis für das beste Sachbuch. Und „Echtleben“ ist seit seinem Erscheinen im Juni bereits fast 10.000-mal verkauft worden. Geld hat die Autorin dafür noch keines erhalten. Eichborn ist pleite.
Auch Katja Kullmann war schon pleite. Weil sie anständig bleiben wollte. Weil sie über Jahre hinweg als freie Journalistin und Autorin, die nicht jeden beliebigen Auftrag annehmen wollte, ihr „Generation Ally“-Guthaben aufzehrte. Bis sie vor der Entscheidung stand, entweder das Leben, für das sie erfolgreich studiert und viel gearbeitet hatte, aufzugeben oder sich Hartz IV anzuvertrauen. Sie entschied sich für die Sozialhilfe, sie lernte, wie Hunger und Arbeit schlecht zusammengehen, wie dankbar man gegenüber den Engeln der Ämter wird, wie kräfteraubend das Vorspielen einer passablen Fassade ist und wie langsam alles in sich zusammenbricht. Die Energie, die Kreativität, der Lebenswandel. Nach einem Jahr erreichte sie der Ruf zu einer Hamburger Frauenzeitschrift, sie blieb dort so lange, bis sie als Leitende Redaktorin Entlassungen hätte mittragen und Honorarkürzungen hätte durchdrücken müssen. Man kann nun einwenden, dass sie sich einem ganz normalen Prozess, wie er sich in der freien Marktwirtschaft tagtäglich abspielt, feige verweigert hat. Dass sie sich weich verhalten hat, nicht redlich, wie es ihre Absicht war.
Man darf ihr dafür aber auch dankbar sein, denn sie hat stattdessen «Echtleben» geschrieben und ausgebreitet, wie es dazu kommen konnte, dass so viele der heute 30- bis 45-Jährigen, die sich zur „Generation X“ (Douglas Coupland), „Generation Golf“ (Florian Illies), „Generation Ego“ (Spiegel) oder eben „Generation Ally“ zählen, zwar gescheit, aber gescheitert sind. Lauter gut ausgebildete Menschen (Katja Kullmann hat selbst Soziologie, Politikwissenschaften und Amerikanistik studiert), die ohne Druck und mit einem elterlichen Finanzpolster auszogen, um sich in den Städten selbst zu verwirklichen. Deren Fokus auf sich selbst lag und weniger auf den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, bis sie allmählich zur „Generation Praktikum“ (Die Zeit) mutierten, also zu jenen, die zuerst keine Festanstellung wollen, weil ihr wahrer Arbeitsplatz sowieso auf den Laufstegen des Nachtlebens liegt, und dann keine mehr bekommen, weil findige Arbeitgeber längst entdeckt haben, dass im Prekariat eine wahre Goldgrube an billigen Ressourcen verborgen liegt.
Ein harter Brocken Realität
Es ist eine furiose Selbst-, Fremd- und Rundumbezichtigung, die Katja Kullmann in „Echtleben“ macht. In der klassischen Tradition der Generationenbücher ist das ein persönlicher Erlebnisbericht, gespickt mit vielen anderen Fallbeispielen, Zahlen aus Dutzenden von Statistiken und Untersuchungen, gründlichen journalistischen Recherchen und unzähligen Originalzitaten von Wirtschaftsbossen und Politikern.
Was gerne weniger kurz hätte kommen dürfen in der sprachlich so fesselnd aufbereiteten Materialsammlung, sind die analytischen Ansätze, das Darüberhinausdenken, das Weitergehen, der kreative Umgang mit diesem Wust an Frust und Ernüchterung. Die richtigen Philosophen werden zwar alle erwähnt und auch sämtliche, zum Thema Kreativprekariat bereits erschienenen Bücher, bleiben aber seltsam ungenutzt auf den Seiten stehen.Und so bleibt einem „Echtleben“, obwohl süffig und hochspannend zu lesen, erst einmal wie ein harter, von der Autorin selbst noch kaum bewältigter Brocken Realität im Hals stecken. Und die Ahnung, dass das Generationenprojekt der urbanen Egomanen jetzt, zur Zeit der anhaltenden Wirtschaftskrisen, definitiv an seinem Ende angelangt ist. Und dass die Illusionen und Träumereien einer ganzen Kreativgeneration am Ende auf lauter existenziellen Fehlentscheidungen beruhen. Das ist ein trauriges Statement. Und ein Großes.
© Simone Meier
erschienen in Tages-Anzeiger, 15.07.2011
Katja Kullmann: Echtleben. Warum es heute so kompliziert ist, eine Haltung zu haben.
Eichborn, Frankfurt am Main 2011.
256 S., 17,95 EUR
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