Über Wehmut beim Higgs-Boson, die Verklärung des Unwissens, Wissenschaft und Fiktion
Unter den Physikern und ihren Geldgebern wurde diese Woche vorsichtig gefeiert, und das mit gutem Recht: Man glaubt das nach dem schottischen Physiker Peter Higgs benannte Boson am europäischen Kernforschungszentrum in Genf gefunden zu haben. In der seit Jahrzehnten letzten Theorie von der Natur, dem sogenannten Standardmodell, ist dieses Elementarteilchen das letzte, das noch nicht nachgewiesen wurde. Man kannte sein Gewicht nicht.
Es ist unwahrscheinlich, dass sich die deutlichen Anzeichen für eine Resonanz, die man bei dem 125- bis 130-fachen der Protonenmasse gefunden hat und als Higgs interpretiert, doch noch als systematischer Messfehler oder extrem zufällige Häufungen seltener Reaktionen herausstellen. So dürfen wir annehmen, einem historischen Moment beizuwohnen: Das Standardmodell ist endgültig und komplett als realisierte Natur bestätigt. Die Beschreibung der elektroschwachen und starken Kernkräfte, sowie der Satz an postulierten Teilchen ist mit dem Higgs abgeschlossen. Sein Gewicht ist die letzte der ins das Modell als reine Messgrössen eingehenden Konstanten. Was das Periodensystem der Elemente für die Chemie ist, stellt das Standardmodell für die Natur tief in den Bausteinen des Atomkerns, dem Neutron und Proton dar, deren Grösse bei einem Femtometer liegt, dem Millionsten Teil eines Nanometers. Vom Elektron bis zu den Quarks wissen und kennen wir nun alles.
Die letzte Verifikation des Standardmodells erinnert zwar auch an die Bestätigung der Allgemeinen Relativitätstheorie durch die Sonnenfinsternis 1919. Damals wurde eine alles entscheidende Achsverschiebung in der Bahn des Merkur vermessen, und die Theorie der Gravitation spektakulär bestätigt. Aber der Vergleich sorgt auch für eine leichte Wehmut. Damals brach nämlich ein wahrer Furor um die theoretische Physik los, der sich bis heute kaum gelegt hat. Er wird diesmal aber nicht befeuert werden, denn irrlichternde Erkenntnisse wie verbogene Räume, schwarze Löcher und den Nachweis, dass normale Passagierjets bei der Umrundung der Erde als Zeitmaschinen operieren, gibt es beim Standardmodell nicht. Auch an die Entdeckung der Antimaterie kommt das Higgs als Aufreger nicht heran.
Schlimmer noch, könnte man leichtfertig sagen: Jetzt sind erstmal überhaupt keine neuen Erkenntnisse mehr zu erwarten. Tatsächlich hatte mancher durchaus statt auf eine Bestätigung der Vorhersagen auf einen Widerspruch mit der Theorie gehofft. Das Higgs-Boson ist nämlich das schwarze Schaf im Zoo: Seine Wechselwirkung mit den anderen Teilchen ist nicht systematisch, man kann sie nicht aus einer Symmetrie herleiten. Seine Kopplungsstärke zu den anderen muss jeweils einzeln gemessen und mit der Hand in die Theorie eingetragen werden. Dabei ist diese Kopplungsstärke jeweils die Ruhemasse des koppelnden Teilchens, also auch seine Ladung im Gravitationsfeld. Das ist alles andere als schön, und die Hoffnung etwas über Masse zu lernen, den unverstandenen Begriff, ist erst einmal geplatzt. Wir haben nun das Higgs, wissen aber nicht, was es genau ist oder wieso es so merkwürdig ist. Ist die Vermessung des Standardmodells kein Meilenstein, sondern ein Drama, dem eine postdramatische Erkenntnisstörung folgt?
Nur in der Logik der Verklärung. Denn der Verklärer ignoriert, dass das Unwissen immer unüberschaubar bleiben wird. In der Öffentlichkeit ist die Physik allerdings längst von der bewunderten exakten Wissenschaft zur schrägsten aller akademischen Disziplinen mutiert. Galt sie in den 1880er Jahren mit der Elektrodynamik noch als letzte Theorie aller weltlichen Angelegenheiten und konnte alles berechnen, so stürzte sie in den folgenden nur vierzig Jahren mit der relativistischen Quantenmechanik alle liebe Gewissheit aus dem Fenster und erweckte den Eindruck, es ginge in Wahrheit nirgends mit rechten Dingen zu.
Seither handelt die Erzählung von der Physik mit vor Wahnsinn triefenden Zeitreisen, deren Effekte für die Helden nicht etwa in kaum messbaren Sekundenbruchteilen, sondern in Jahrhunderten bestehen. Oder vom dualistischen Charakter aller Dinge, eine sagenhafte Wandelbarkeit alles Physischen. Vom uralten Wissen, dass ein reiner Ton sich im Klangkörper ganz und ewig ausbreitet und von einem zweiten resonanten Klangkörper aufgefangen werden kann, spricht man da lieber nicht. Aber eine mathematisch eindeutige Abbildung bringt einen von der Betrachtung der räumlichen Verteilung zu jener der Frequenz: Am Welle-Teilchen Dualismus ist erstmal gar nichts rätselhaft.
Leicht erregbare Menschen fühlen sich natürlich eher angesprochen, wenn es um Neutrinos in italienischen Bergmassiven geht, die in Genf losgeschickt wurden und jede Uhr überholt haben sollen. Utopisch aussehende, unterirdische Urknalldetektoren mit Ameisenmenschen in Overalls evozieren ihnen genetisch veränderte Riesenhirne, mindestens. Und wenn mit La Palma eine ganze Insel verdunkelt wird, damit die Astronomen auf der Sternwarte durch die Vergangenheit von Jahrmillionen bis fast auf den Rand der Raumzeit schauen können, dann ist James Bond natürlich was für Kinder unter zwölf. Ohne einen Schuss Mystik, eine Prise Geniekult und mindestens drohender, meistens schon hier und da eingetretener Schizophrenie kommt kaum ein Autor aus, der sich der Physik annimmt.
Kein geringerer als Hans Magnus Enzensberger schrieb gerade wieder, der normale Menschenverstand habe in der Quantentheorie nichts zu bestellen: Als ob nicht gerade jener Menschenverstand, sondern Affen oder Schreibmaschinen diese Theorie formuliert hätten und fortwährend benutzten. Als ob die Kassiererin im Supermarkt nicht schon seit einer halben Ewigkeit mit einem Laser arbeite, dessen Strom oft genug aus einem Atomkraftwerk kommt. Während sie die Warencodes scannt, telefonieren wir schnell nach Hause, dass das Kernspinbild von der Bandscheibe gar nicht so schlecht ist wie befürchtet und wir in fünfzehn Minuten auch da sind. Wenn kein Stau ist. Das lassen wir dann schnell den Navi checken, während wir den PIN mit links eintippen und der Kassiererin freundlich zunicken.
Ohne die Theorien des 20. Jahrhunderts wäre nichts davon, wie es ist. Aber auch in der Belletristik kommt kaum jemand, der sich mit der modernen Physik beschäftigt, ohne einen Zeitriss aus. Schliesslich ginge es, so das Argument der brav applaudierenden Kritik, um Fiktion. Als ob diese nicht mit demselben Grad an Abstraktion das Wesentliche der Wirklichkeit abzubilden versuchte wie die Theorie des Physikers das muss: Alles Zufällige und Unsinnige muss in diesem Vorgang aussortiert werden. Zeitrisse hat man ausserhalb von Romanen aber selten beobachtet, solange man nüchtern war.
Am Kernforschungszentrum trat in den letzten Jahren jedenfalls keiner auf. Vielmehr musste man sich mit jenem vorwiegend normalen Menschenverstand zufrieden geben. Das Higgs endlich zu sehen, macht die Arbeiter im Bergwerk bei Genf glücklich, und das ist urmenschlich: Wenn man von etwas weiss, dass es da sein muss, dann möchte man auch hin und sich selbst ein Bild machen. Das ist beim Higgs-Boson nicht anders als beim Mond, dem Südpol oder dem Gipfel des Mount Everest. Man stelle sich vor, diesen Trieb gäbe es nicht. Wir wüssten nicht, bei welcher Energie Higgs-Bosonen entstehen, die das Rätsel der Masse in sich tragen.
Eines der schönsten Bilder sah ich übrigens dieses Frühjahr in einem Sandkasten: Ein wenige Monate altes Kind liess zum ersten Mal Sand durch seine Finger rieseln. Stumm vor Staunen schob es immer wieder die Finger seiner beiden Hände in die feinen Körner, hob sie hoch und beobachtete wie der Sand in mehreren Strahlen wieder zu Boden fiel. Dabei vergass es mit ausgestreckten Beinen dasitzend fasziniert jede Zeit, jeden Hunger und Durst. Ich beobachtete es sehr lange und konnte seine Hingabe an die Untersuchung des Sandes spüren, bei der sein Blick mal auf die linke, mal auf die rechte Hand gerichtet war. Der Sand rieselte auf seine Thermohose und von da wieder zum anderen Sand. Schliesslich sah das Kind auf, mir in die Augen und lächelte milde. Beide konnten wir kaum glauben, dass wir tatsächlich hier waren. Mitten im Sand.
Ralf Bönt in Süddeutsche Zeitung, Dezember 2011
Bild: Simulation des hypothetischen Zerfalls eines Higgs-Teilchens in Teilchen-Jets am CMS/CERN
Ralf Bönt geb. 1963 war Physiker u.a. am CERN und DESY, bevor er Schriftsteller wurde. 1993 promovierte er bei Harald Fritzsch an der LMU über das Higgs-Boson. Er lebt mit der Malerin Nicola Stäglich und zwei Söhnen der Jahrgänge 1996 und 2010 in Berlin. Zuletzt erschien der Roman „Die Entdeckung des Lichts“ über den hirnkranken Naturforscher Michael Faraday.
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