I. Medien
Die Verspätung der Geschichte
Es ist die Literatur und mit ihr die Literaturwissenschaft, die immer wieder unmittelbar auf das reagiert, was wir technischen Fortschritt nennen, weniger die Geschichtswissenschaft.
Die Lyriker ließen sich vom Dampf der Lokomotiven hinreißen, die Futuristen liebten rasende Autos, und hier in Berlin war es Walter Höllerer, der Die Sprache im technischen Zeitalter in großen Kolloquien zum Thema machte. Er lud montags um 18 Uhr seit November 1961 in die Kongresshalle, 1500 Menschen drängten sich im Auditorium. Das Fernsehen war auch dabei und sendete dann am folgenden Sonntag – bei dem Noch-Monopolisten ARD war eine beachtliche Quote garantiert. Die Atmosphäre war nervös, entsprechend wurde – im Unterschied zu heute – heftig geraucht. Ein Hauch von teach-in lag über dem Ganzen. Gleichsam in der Nachfolge Höllerers schreibt und liest aktuell der Hamburger Literaturwissenschaftler Harro Segeberg über Literatur im Medienzeitalter.
Während das hermeneutische Schwesterfach der Geschichte, die Literaturwissenschaft, offensichtlich im Medienzeitalter angekommen ist, unternehmen die, die Zeitalter und Epochen eigentlich definieren, erst jetzt einige Anstrengungen, um nach ihrem systematischen Ort im Medienzeitalter zu suchen. Eine gewisse Verspätung der Geschichtswissenschaft ist nicht zu übersehen. Denn die Geschichtswissenschaft, da vor allem die Zeitgeschichte, ist offenbar längst medial überrollt.
Geschichtsfilme, Quote, Verwertung
Diesen Eindruck muss man bekommen, wenn man an die vergangenen TV-Events im deutschen Fernsehen denkt wie DIE FLUCHT oder DER UNTERGANG DER »WILHELM GUSTLOFF«, von dem anderen »UNTERGANG« gar nicht zu reden. Und weitere filmische Geschichts-Ereignisse stehen uns noch bevor: VALKYRIE z.B. oder Eichingers DER BAADER-MEINHOF-KOMPLEX. Gerade in Berlin, wo die LUFTBRÜCKE spielte und DIE FRAU VOM CHECKPOINT CHARLIE die Mauer auferstehen ließ, fragt man sich als Historiker, wozu eigentlich Geschichtswissenschaft noch gut ist, wenn doch insbesondere die Zeitgeschichte so anschaulich vermittelt wird. Die Dokumentationen im Huckepack dieser Filme belegen obendrein angeblich noch den Wahrheitsgehalt des eben Gezeigten. Und wenn auch die historische Wahrheit zugunsten des filmischen Plots ein wenig geändert werden musste, wie bei dem Zweiteiler DIE FLUCHT, dann ist es dennoch garantiert echt-authentisch. Das ist das selbst verliehene Gütesiegel, ein brandmark, mit dem heftig geworben wird.
Dank des Minderheiten-Senders ARTE können wir feststellen, dass diese Art von deutscher Geschichtsversessenheit auch in Frankreich eine Zuschauer-Gemeinde hat. Immerhin wird dort eine beachtliche Quote erreicht, im Schnitt ca. fünf Prozent, was meistens deutlich über eine Million Zuschauer bedeutet. Jo Baiers STAUFFENBERG erreichte 6,3 Prozent Marktanteil und damit beachtliche 1,2 Millionen Zuschauer. Das größte Presse-Echo fand LA FEMME DE CHECKPOINT CHARLIE. L’Echo schrieb »Une histoire vrai«, France Soir titelte klug: »Quand les histoires rejoignent l’histoire«. Zum Vergleich: In Deutschland liegen die Quoten bei ZDF und ARD zwischen fünf und sieben Prozent, also zwischen zwei und fünf Millionen Zuschauern; es wurden aber auch schon zwölf Millionen erreicht. Allein schon die bloße Zahl der Zuschauer, auch die bei ARTE, macht einen gewaltigen Unterschied zu den Publikationen der Geschichtswissenschaft aus. Die Reichweite in die Öffentlichkeit und die entsprechende Resonanz hinein ist kaum zu vergleichen. Gehen wir in die Zeit vor ARTE zurück, soll noch ein großes deutsch-französisches Projekt aus dem Jahr 1964 erwähnt werden, eine Koproduktion des ORTF mit dem WDR: Die acht-teilige Reihe TRENTE ANS D’HISTOIRE (30 Jahre Geschichte). »Der kleine Bildschirm ist für große Gemälde geschaffen«, schrieb damals der Figaro begeistert über diese Reihe, die ausschließlich aus kompilierten Archivmaterialien bestand. Nie wieder gab es solch einen Reichtum an Dokumenten, stellt Isabelle Veyrat-Masson rückblickend auf die Serie im Jahr 2000 fest. Dieser fast vergessene Versuch, ein transnationales Geschichtsbild zu einem schwierigen Thema wie dem Ersten Weltkrieg zu schaffen, bedeutete ein Ringen um die Hoheit von Deutungsmustern und Diskursen, bemerkt Matthias Steinle 2006.
Heute folgen der Ausstrahlung gerade bei den jüngeren deutschen Geschichtsfilmen die Verwertungskette über die Bücher zu den Filmen, die DVDs, Internetmaterialien und der internationale Verkauf auf den Filmmessen. Der Typus des Eventfilms hat inzwischen die Dokus zum Dritten Reich verdrängt. Nun kommt nach anfänglichem »Trabbi-Spaß« und »Ostalgie« eine ernsthaftere Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit auf uns zu. DAS WUNDER VON BERLIN, PRAGER BOTSCHAFT oder AN DIE GRENZE sind Kostproben, den »Checkpoint« hatten wir bereits erwähnt. SAT 1 lässt noch in diesem Jahr die DDR in einem Zweiteiler untergehen, mit Motiven an historischen Orten wie der Glienicker Brücke. Viel mehr davon kommt dann im nächsten Jahr, dem Jubiläumsjahr 2009.
Geschichte ist durch Fernsehen visuell präsent und hat die herkömmlichen Diskursorte, die scientific community, mit ihren Instrumenten der Publikationen und der eigenen Diskurse verlassen. Geschichte war in allen Epochen der medialen Evolution ein Thema, doch gegenwärtig werden in Folge der digitalen Bearbeitungstechniken mit ihren verschiedenen Produkten alle Möglichkeiten voll ausgereizt. Eine neue Qualität der Geschichtsvermittlung ist erreicht, stellen Lersch und Viehoff in ihrem Report 2007 über Geschichte im Fernsehen fest, der übrigens im Auftrag der LfM NRW (Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen) verfasst worden ist (Lersch/Viehoff 2007, 33).
Medien = Indikatoren und Instanzen
Es geht aber nicht nur um den Gebrauch, den das Massenmedium Fernsehen von der Geschichte macht. Das Medium selbst ist nicht nur Indikator des gesellschaftlichen und politischen Umbruchs, sondern auch eine Instanz dieses Wandels (B. Weisbrod). Die Berichterstattung über den Vietnam-Krieg (in Farbe) war vermutlich die letzte, die mit wenig Zensur und Manipulation auskam. Aus den frühen 70er Jahren wird der Spruch überliefert: »Stell Dir vor, es ist Krieg und der Fernseher ist kaputt«. So kamen nicht nur die großen Demonstrationen von Washington und New York 1967 ins deutsche Wohnzimmer, sondern auch das Massaker von My Lai oder die Flucht der Amerikaner aus Saigon im April 1975. Demonstrationen werden auf diesem Umweg auch in der Berichterstattung der BRD-Medien hoffähig, sie können nicht mehr wie wenige Jahre zuvor als »Protest der Straße« diffamiert werden.
Gerade vor dem Hintergrund vieler Aktionen der Studierenden in den Jahren um 1968 muss die Frage gestellt werden, ob sie sich nicht selbst in die Mechanismen des medialen Marktes einordneten bzw. sich ihn zu Nutze machten. Zweifellos hatten sie ihre eigenen Kommunikationsräume geschaffen: Studentenzeitungen, teach-ins, Flugblätter, Aktionen der Basisgruppen, Demos, Wandzeitungen und Graffiti. Über den Wandel innerhalb des studentischen Publikationswesens kann der Autor aus eigener Anschauung beitragen: In Heidelberg gab es bis 1968 eine liberale Studentenzeitung, forum academicum, die wurde dann zum Roten Forum. Fraktionierungen führten zum Neuen Roten Forum. Als es mit den K-Gruppen zu Ende ging, wurden sie im Neuen Loten Folum auf den Arm genommen, das sich wiederum bald auflöste. Und aus seiner Konkursmasse ging dann Carlo Sponti hervor, der mit der WG-Zeitung Schöner Wohnen zu Carlo Sponti / Schöner Wohnen fusionierte.
Das war die Deskription im Beispiel, analytischer sagt es Wolfgang Kraushaar (2008):
»Innerhalb der 68er-Bewegung vollzog sich eine Entwicklung, die vom Protest gegen Bewusstseinsmanipulation und Pressekonzentration bis zur Organisierung eigener Gegenorgane reichte. Aus dem Appell an die Öffentlichkeit, sie möge die Entwicklung der Presseverlage einer stärkeren Kontrolle unterziehen, wurde bald ein heftiger Kampf um die Kommunikationsmittel […]«.
Die 68er Öffentlichkeit hat viele Facetten. Eine Demonstration jedoch, über die ausführlich im Fernsehen berichtet wird, verleiht den Demonstrierenden eine ubiquitäre Präsenz. Bernd Weisbrod hält die 68er Bewegung für eine soziale Bewegung, die nicht nur selbst ein Medienereignis war, sondern auch im »Modus« Fernsehen stattfand. Jede auftauchende Kamera stimulierte das Geschehen.
»Mit diesem »reziproken Effekt« etablierte das Fernsehen die 68er Bewegung als Bewusstseinsinsel einer internationalen Gegenöffentlichkeit, es lieferte das optische Gegenbild zu den medialen Feindbildern der jedenfalls in Berlin vorherrschen Springerpresse. […] Es erhöhte den Begründungsnotstand, wenn die Gewaltausübung nicht eindeutig zu bestimmen war« (Weisbrod 2003).
Und manch ein Bericht, manch eine Fotostrecke über die Kommune 1 verdankt sich erst der Lust an der Selbstdarstellung durch die Kommunarden. Bis heute bewahren sich so Rainer Langhans und Uschi Obermeier ihre Nachfrage durch den Medienzirkus. Der Bildband von dem Filmemacher Andreas Veiel und dem Autor Gerd Koenen (2008) zeigt einiges von der Inszenierungsbereitschaft und Sucht nach massenmedialer Aufmerksamkeit.
Alexander Göbel (April 2002) untersuchte für die Konrad-Adenauer-Stiftung »’1968′ und die Folgen im Fernsehen«. Im Untersuchungszeitraum 1983 bis 2001 kam er auf 121 Sendungen inklusive Wiederholungen, siebzig Prozent davon waren Dokumentationen. Nach eigenen Recherchen wurden zwischen 1966 und 1977 ca. siebzig Filme und Dokumentationen produziert, Diskussionssendungen und Talkshows wurden dabei nicht gezählt. Nach Göbel sind PHOENIX und die Dritten Programme vor allem für die Geschichtssendungen verantwortlich, die Privaten fielen zu ’68 ganz aus. Allein 27 der Sendungen von Januar bis Juni 2001 gingen auf das Konto der Fischer-Debatte.
Diese Tatsache macht eine Schwäche des medialen Geschäfts deutlich – denn es war ein Bild, das den damaligen Außenminister als Mitglied der »Putzkolonne« im »Häuserkampf« der Frankfurter Spontis zeigt, wie er auf einen Polizisten einprügelt. In der »Putzkolonne« waren die Männer für das Grobe. In einer Art Medien-Hysterie wurde alles Bildmaterial zusammen geklaubt, auch frühere 68er-Jubiläumssendungen, um irgendwie irgendetwas über Fischer zu bringen. Gerade diese Art der »medialen Schleife« führt aber dazu, dass nicht mehr der eigentliche Verhaltensvorwurf zur Debatte steht, sondern die mediale Blähung. Der Effekt ist schließlich eine Immunisierung, weil kurze, sehr differente Perioden zeitlich zusammen gezwungen wurden, weil ’68 und Fischer (eher ein 70er) in einen Topf geworfen wurden. Die den Medien eigene politische Produktivkraft kann sich auch durch die, verkürzt ausgedrückt, scheinbar endlose Schleife selbst aufheben. Das führt zu Amnesie und möglicherweise zur Amnestie.
Die andere massenmediale Deformation ist Themen gesteuert. Weit über die wirkliche Relevanz hinaus wurde Kommune- und Wohngemeinschaftsleben in den Blickpunkt gerückt. Die »neuen Wilden« waren in dieser Wahrnehmung die Kinder aus den frisch gegründeten Kitas. Mit dem Ausspruch »Hilfe, ich habe meine Bezugsperson verloren« wurden die unordentlichen Verhältnisse karikiert, aus denen die respektlosen kleinen Ungeheuer stammten. Und wenn dann darunter noch etwas Hippie-Kultur – der weite Duft des Easyriders, ein wenig Bhagwan-Sekte und psychedelische Drogen, dazu noch Spekulationen über ein buntes Sexualleben – gemischt werden, eben alles, was kurz darauf in der Werbewelt Eingang fand, genau dann sind alle Element von massenmedialen Voyeurismus und Klischeebildung versammelt. Dass dieser Art von Voyeurismus auch Vorschub geleistet wurde, soll an dieser Stelle noch einmal erwähnt werden.
II. Historische Beobachtungen
Epochen der BRD
Die Geschichte der alten Bundesrepublik kommt auf vierzig Jahre, genau in der Mitte dieses Zeitraums ist die 68er Bewegung zu verorten und natürlich liegt die Frage nahe: War das damals eine Zäsur in der Geschichte der BRD? Fußballerisch sicherlich, es waren eben zwei Halbzeiten – aber auch historisch? Lag über der BRD (alt) bis 1968 noch der Muff der Adenauerzeit mit unbedingter Westbindung, Kaltem Krieg, Restauration, Aussöhnung mit den Nazis? Und kam danach, nun mit »mehr Demokratie wagen«, Brandts Slogan von 1969, eine wirklich partizipatorische Nachkriegsdemokratie zustande? Gleichsam eine neue Stunde Null? Diese Fragen werfen der Heidelberger Historiker Edgar Wolfrum oder der Gießener Politologe Claus Leggewie auf. Die Deutung von ’68 als dem entscheidenden Umbruch für die alte BRD findet viel Zustimmung bei Zeitzeugen und Verwaltern des Erbes von ’68. Der sich ausbreitende autoritäre Staat – Stichworte Versuch des Staatsfernsehens, Spiegel-Affäre, Notstandsgesetze – sollte zugunsten partizipatorischer Modelle gebremst werden. Insofern hätte ’68 einen Modernisierungssprung bedeutet oder – wie es Habermas 1988 ausdrückte – eine Fundamentalliberalisierung. So ist auch seine flapsige Antwort zu verstehen, die er auf die Frage der Frankfurter Rundschau, was von ’68 übrig geblieben sei, gab: »Rita Süssmuth«.
Die seit einiger Zeit anlaufende »dritte Vergangenheitsbewältigung«, erst NS, dann Stasi und nun ’68, kommt freilich zu ganz anderen Einsichten. »Vergangenheitsbewältigung« ist so etwas wie eine deutsche Staatsdoktrin, meint die Neue Zürcher Zeitung. Andere wiederum sagen, die Deutschen seien Weltmeister in der Vergangenheitsbewältigung. Der britische Historiker Timothy Garton Ash kommt daher zu dem Schluss, dass es an den Deutschen sei, wenn es um europäische Erinnerungspolitik geht, die entsprechende DIN-Norm vorzugeben.
Irgendetwas Besonderes muss also an dem deutschen Umgang mit der eigenen Vergangenheit dran sein. Denn auch die Debatte, ob die 68er der Gesellschaft mehr geschadet als genutzt haben, wird wohl in keinem anderen Land so heftig geführt wie in Deutschland. Das war 1998 schon so, nur nicht 1988, dazwischen liegt jedoch das Jahr 1989, und mit dem Beitritt der DDR am 3. Oktober 1990 war die Nation wieder hergestellt, die ex post gesehen ja bereits seit 1949 existierte. Die Um- und Abwertung von 1968 ist unmittelbar mit der deutschen Wiedervereinigung verknüpft, in Frankreich dagegen sehen sich gemäß Umfragen die Hälfte der Bevölkerung als Erben von 1968. Der französische Historiker Max Gallo ist so großzügig, alle Franzosen in die Erbschaft einzubeziehen.
»Nation« aber war, wie Wolfgang Kraushaar feststellt , das Unwort der 68er Bewegung. Es war in ihrer Vorstellung nationalsozialistisch höchst kontaminiert. Es war derartig dämonisiert, dass auch keine Debatte über einen Nationenbegriff stattfinden konnte. Jetzt aber, im Jahr 2008, kann politisch gewollt eine Traditionslinie einer erfolgreichen Bundesrepublik von Adenauer über Kohl bis zu Merkel gezogen werden, in der die DDR-Geschichte zum »Bypass« wird, die sozialliberale Regierungszeit zur Ausnahme und die rotgrünen Jahre eine Episode, ein Unglücksfall. Die sozialen Bewegungen ’68 werden in dieser Perspektive zu einem Störfaktor, der auch auf die weniger angenehmen Seiten der Adenauer-Zeit aufmerksam machte.
Man muss diese Ansicht keineswegs teilen, nur eines sollte durch diese Betrachtungsweise deutlich werden: Wiedervereinigung und Mauerfall haben die 68er Bewegung als ein Produkt der alten BRD radikal entwertet. 1998 durfte kräftig auf die 68er geschimpft werden, 2008 nicht minder. Was eine Zäsur für die Bundesrepublik West war, muss noch lange keine Zäsur für das gesamte Deutschland gewesen sein, im Gegenteil. Da nahm – folgt man dieser Perspektive – das Übel des Werteverfalls seinen Lauf: Wesentliche Tugenden seien außer Kraft gesetzt worden, der Respekt vor Autoritäten verflogen. Bleibt man aber dabei, dass auch heute 1968 eine Zäsur von Bedeutung für die Bundesrepublik ist, dann geraten somit die Adenauerzeit und die »glücklichen« Aufbaujahre in die Kritik.
Es erweist sich immer mehr, dass die Diskussion über Nutzen und Nachteil von ’68 eine äußerst national aufgeladene ist, die so nur in Deutschland geführt wird. Das Internationale mag zusätzliche Motivation gewesen sein – der Krieg in Vietnam, die Apartheid in Südafrika, koloniale Endstadien in Afrika, Franco-Spanien und Salazar-Portugal, die Diktatur in Griechenland – ,aber dominierend blieb eine Sicht auf deutsche Verhältnisse, Hochschulreform, gegen die NPD, gegen Notstandsgesetze, für neue Lebensformen. Der Blick ging nach Westen und Süden, in den fernen Osten, aber nicht in den Osten Europas, auch nicht nach Prag. Und trotz des plakativen Internationalismus war man damals in Frankfurt am Main oder Berlin hektisch mit sich selbst beschäftigt. Die Traditionen der jeweils eigenen politischen Kultur waren entscheidend, stellt Norbert Frei fest.
Die Geschichtsschreibung über 1968 kann mit zunehmender Distanz nur gewinnen, mit der allmählich Verklärung wie Verdammung abfallen – vor allem aber auch die tagespolitische Instrumentalisierung, die gewiss noch ein Zeit lang weitergehen wird. Schließlich geht es ja um nichts Geringeres als um die richtige Deutung der letzten sechzig Jahre deutscher Geschichte, inklusive der Zuteilung der Meriten für die Wiedervereinigung. Während gegenwärtig die Autoren wie Wolfgang Kraushaar (Jahrgang 1948) und Gerd Koenen (Jahrgang 1944) als geläuterte Wissenschaftler zugleich Zeitzeugen und engagierte Teilnehmer waren, also sich dem Verdacht ausgesetzt sehen, zu den Erbverwaltern zu gehören, kann davon bei Norbert Frei (Jahrgang 1955) kaum die Rede sein. Er ist es auch, der in seinem Buch die internationalen Bezüge der 68er-Bewegung heraus arbeitet.
III. Erinnerung
Um es populär auszudrücken: Die Geschichtsschreibung über ’68 sieht sich dem Verdacht der Befangenheit ausgesetzt, sei es, dass die Autoren irgendwie Beteiligte waren, sei es, dass sie mit ihren Deutungen im politischen Tagesgeschehen Partei ergreifen wollen oder gar alte Rechnungen offen haben. Mehr braucht man zu Götz Alys Buch nicht zu sagen. Das führt zu der Vermutung, dass das »kollektive Gedächtnis« – das ZDF spricht explizit davon – mit Bildern und Bild- und Film-Ikonen aufgefüllt wird. Aber welche Interpretationsleistung für die vergangene Zeit liefert diese Art historischer Artikulation ab?
Es liegt ein denkwürdiger Historismus über dem Land, da sollen Schloss-Fassaden die Vergangenheit wieder auferstehen lassen, da wird ein Film wie DER UNTERGANG für bare Münze genommen und auch den anderen eingangs erwähnten Geschichtsfilmen wird im Grunde historische Wahrheit unterstellt, weil die inszenierte Authentizität als das Wahre akzeptiert wird, nicht zuletzt dank Historikern als Experten und Requisiteuren. Diese neue, vermeintliche Augenzeugenschaft hat offensichtlich das Verhältnis von Fiktion und Realität verschoben. Auf jeden Fall tritt die Deutungsmacht des filmischen Narrativs in Konkurrenz zu historischer Geschichtsdeutung. Wenn man die bloße Zahl der Zuschauer nimmt, geht die Folgerung nicht zu weit zu behaupten, dass sich die filmischen Deutungsmuster, auch die zu 1968, an die Stelle der historischen setzen können. Diese Deutungsmuster sind allerdings fragmentarisch, sie zeigen nicht die weiteren Kontexte, Komplexität und tieferen Ursachen, kurz, sie erklären zu wenig. Das kollektive Gedächtnis, das heute vor allem durch das Fernsehen gespeist wird, kann so kein Gespür für Entwicklungen und Zeitverlauf geben. Das Andauern von 1968 im tagespolitischen Geschäft scheint massenmedial wichtiger zu sein als die angemessene Klärung der 68er Bewegung in ihrer Zeit.
Die Frage von Gerd Koenen – Was hat damals so viele motiviert, sich eine Zeit lang als Akteure einer chimärischen Weltrevolution zu fühlen? – wird die Flut von Filmen und Dokumentationen kaum beantworten. Der Erinnerungsort »1968« leidet unter seinen Zeitgenossen. Die Feststellung, dass jede Gegenwart ihre eigene Vergangenheit kreiert, ist nur ein schwacher Trost, wenn der Narzissmus eines Teils der 68er »als selbstbestimmte Arbeit am Mythos« die in die Jahre gekommenen Herrschaften anscheinend jung erhält.
Vor diesem Hintergrund wurde anfangs die Frage gestellt: Wozu denn noch Geschichte, wenn die Vergangenheit massenmedial so publikumswirksam bewältigt wird? Historiker geraten gerade dadurch in die Situation, sich immer mehr um Geschichtsmythen kümmern zu müssen, auch um den von 1968, also um die Rezeptionsgeschichte, um die anhaltende Konjunktur der Vergangenheit in der Gegenwart. Die moderne Mediengesellschaft hat der Vergangenheit in Form von vielen einzelnen Vergangenheiten, von Episoden, Events und Helden, eine große Bedeutung zukommen lassen – nicht zu vergessen damit auch ein beachtliches Marktpotenzial. Eric Hobsbawm fordert in seinen Memoiren zur Verteidigung der Geschichte auf, weil Geschichte heute mehr denn je von Leuten erfunden oder umgeschrieben wird, denen es nicht um Vergangenheit schlechthin geht, sondern um eine, die ihren Zwecken dient.
»Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen, wie es denn »eigentlich gewesen« ist. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen« – diese Aussage stammt von Walter Benjamin. Das »Bemächtigen der Erinnerung« kann so in Form geschäftlich etablierter Spurensuche geschehen, wie es die »Taxi-Wall-Fahrten« samstags für fünf Euro anbieten: »Rudi Dutschkes Berlin 1968 – und was seither daraus entsteht. Berlinrundfahrt per Bus mit Erläuterungen in Wort und Klang.« Diese Zeitreise führt zu den wichtigsten Orten der APO und zu den zentralen Schauplätzen des gesellschaftlichen Aufbruchs 1968 (Eigenwerbung). Hier erfüllt sich die These von Claus Leggewie aus dem Jahr 2001 wirklich: 1968 ist Geschichte.
Zeitgeschichte ist immer auch die Geschichte der Mitlebenden. So besteht also berechtigte Hoffnung, dass die Geschichte des Dritten Reiches vom »kollektiven« und »kommunikativen Gedächtnis« in das »kulturelle« übergeführt wird, jenseits der Zeitgeschichte. Kurzum die Zeitzeugen sterben aus, die NS-Zeit kann endgültig in die Bahnen der wissenschaftlichen Überlieferung gebracht werden. Davon ist 1968 weit entfernt. Denn neben den Geschichtsbewältigern gibt es auch die Geschichtsbewacher – Veteranen, die ihr Erbe verteidigen, indem sie die heute gezeigten Bilder und Filme als die ganze Wahrheit verkaufen. Sehr viele erinnern sich genau, sogar ganz genau, andere wissen es jetzt besser, das sind auch noch recht viele. Dies sind die »Renegaten« von ’68.
»Ein Renegat ist ein Mensch, der allen davon Mitteilung macht, dass er sich politisch geirrt hat und gleichzeitig trotzdem Recht behalten will. Also trachtet er, sich an die Spitze der Gegner seiner alten Überzeugungen zu setzen. Deshalb neigt der Renegat zu Übertreibung«, so schreibt Franziska Augstein in der Süddeutschen Zeitung (8.April 2008), und weiter beobachtet sie:
»Dass die ideologisch höchst unterschiedlichen Bewegungen des Westens, die mangels einer stichhaltigen Definition und in Erinnerung an die Pariser Großdemonstrationen im Mai 1968 unter den Rubrum »1968« zusammengefasst werden, am Ende auch Renegaten hervorgebracht heben, ist hingegen ein rein deutsches Phänomen.« André Glucksmann z.B., heute wirklich kein Sozialist mehr, bekennt sich ausdrücklich zu seinem Engagement 1968. Und vergessen wir nicht, der Wechsel ins Establishment kann auch sehr bewusstseinsverändernd wirken.
Wenn wir eine steigende Lebenserwartung unterstellen, dann sind die 68er noch bis zum Jahr 2035 munter und könnten sogar noch 2038 zum siebzigjährigen Veteranentreffen in Berlin aufrufen. Nahezu alle werden samt Kindern und Enkeln in den Interviewdatenbanken von Spiegel-TV und ZDF-online vertreten sein. Der erste Versuch läuft gerade, denn es besteht laut Guido Knopp unter den Deutschen ein großes Bedürfnis, seine Erinnerung zu teilen. Der Aufruf des ZDF, doch seine Erinnerungen an den Mauerfall 1989 welcher Art auch immer in Zeugnissen, Dokumenten, Fotos und Filmen mitzuteilen, hatte großen Erfolg. Ein wirkliches »kollektives Gedächtnis« kommt nach Meinung des ZDF so zustande. Der Schriftsteller Walter Kempowski war dagegen mit seiner Sammlung von Autobiographien und Tagebüchern für sein Echolot-Projekt sehr bescheiden. Hier schon einmal vorab meine Warnung: Das Fernsehjahr 2009 wird unter dem Aspekt des öffentlichen Gebrauchs von Historie noch schlimmer als die Jahre 2008 oder 2005.
Sie erinnern sich noch an das Jahr 2005 – sechzig Jahre Kriegsende, das war auch schon dicht am medialen overkill, fünfzig Jahre Kriegsende wurden jedenfalls bei weitem übertroffen. Und dieses Jahr sind es die 68er, die es einem gar nicht so leicht machen. Und der seit etwa zwanzig Jahren anhaltende Gedächtnisdiskurs hilft da auch nicht wesentlich weiter. Er steht in dem Verdacht – so Norbert Frei – sich in seinen eigenen Konstruktionen zu gefallen, weil er historische Zusammenhänge und Sachverhalte inzwischen kaum zur Kenntnis nimmt. Harald Welzer, Gedächtnisforscher aus Essen, der uns nachweist, dass das ganze Leben eine Erfindung ist – oder anders gesagt, dass wir unsere Erinnerung ständig schönen, leistet allerdings einen sehr handfesten Beitrag.
Mit der Erinnerung ist das also so eine Sache. Es gibt viele Varianten, vorhandene Kenntnisse zu »überschreiben«, Filme sind dazu nachweislich sehr gut geeignet, Literatur und Poesie auch. Viele von Ihnen kennen sicher das Gedicht von Robert Gerhardt, Das Attentat oder ein Streich von Pat und Doris, eine Max und Moritz-Parodie. Hier seien wenige Zeilen zitiert:
Ach was muss man oft von bösen Mädchen hören oder lesen
Eben strebt in sanfter Ruh
Adorno seinem Hörsaal zu, […]
Und voll Dankbarkeit so dann
Schaut er Pat und Doris an,
Die, wie ihm zu applaudieren,
vollreif seinen Weg spalieren. […]
Rums, da ziehen die beiden los,
Und vier Brüste schrecklich groß,
Jäh befreit von allen Stoffen,
Herrlich bloß und gänzlich offen, […]
Recken sich dem Prof entgegen,
Welcher stumm erst dann verlegen,
dann erschreckt das Weite sucht […]
Mit der Zeit wird alles heil
Nur der Teddie hat sein Teil.
Lassen wir Robert Gernhardt die dichterische Freiheit, nähern wir uns lieber der Historie. Es waren damals, am 22. April 1969, tatsächlich drei Frauen und damit sechs Brüste, die Adorno bedrängten. Und wie es Klio, die Muse der Geschichte, damals wohlweislich fügte, war Guido Knopp als Frankfurter Student in jener Vorlesung und fand das alles nicht sehr komisch, manch andere auch nicht. Er sah, wie Adorno mit der Aktentasche die Attacke abwehren wollte, dann irgendwann die Tasche resignierend hängen ließ und in Tränen ausbrach. Schließlich brachten ihn seine Assistenten aus dem Hörsaal.
Das Bild des Busen-Attentats wurde für kurze Zeit eine der 68er-Bildikonen, jetzt darf es nicht mehr gezeigt werden, sagen die Beteiligten in ihren 60er Jahren: »Weil nichts drauf ist, worauf man stolz sein kann.« Selbstverständlich kalkulierten die Akteure bei ihrer Inszenierung mit ein, dass sich zu diesem produzierten Ereignis eine große mediale Öffentlichkeit einstellt, sie selbst sorgten für das Fotografieren und die Bilder.
An diesem Beispiel lässt sich vieles zeigen, Grundsätzliches und auch einiges zum Thema 1968. In der Rezeption, nicht nur in der poetischen, löst sich das Geschehen völlig von seinem Ursprung, das betrifft auch die spätere Dekontextualisierung der Bilder. Der Umgang mit und die Wirkung in den Medien war den Beteiligten keineswegs fremd, sondern wurde in strategischer Absicht gepflegt. Schließlich wird die Umdeutung der Aktion, die damals als »wunderschön gelungen« bezeichnet wurde, drei Jahrzehnte später von den Akteuren selbst vorgenommen.
Historisch erhalten bleibt uns ein großartiger Professor Adorno, der noch an seinem Todestag Anfang August 1969 in einem Brief an Herbert Marcuse ohne Verletztheit urteilte:
»Die Meriten der Studentenbewegung bin ich der letzte zu unterschätzen: sie hat den glatten Übergang zur total verwalteten Welt unterbrochen. Aber es ist ihr ein Quäntchen Wahn beigemischt, dem das Totalitäre teleologisch innewohnt[…].«
Autor: Prof. Dr. Rainer Wirtz
Vortrag auf dem Symposium der Deutschen Kinemathek, Museum für Film und Fernsehen und des Institut national de l’audiovisuel, Paris zum Thema „Staatsmacht und Öffentlichkeit – Wie frei war das Fernsehen 1968?“, 23.05.2008, Berlin
- Das Authentische und das Historische - 20. April 2010
- Medien, Geschichte, Erinnerung - 23. Mai 2008
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