Dienstag, 19. August 2008
Tukuyu
Nachdem ich den Grenzübergang von Malawi nach Tansania passiert habe, muss ich erstmal 1,5 Kilometer zu Fuß gehen. Der Busbahnhof, von dem alle Minibusse ins Landesinnere starten, liegt verflucht weit weg von der Grenze. Wer ohne eigenes Auto einreist, muss marschieren und Lasten schleppen oder für ein paar hundert tansanische Schilling ein Fahrradtaxi mieten.
Der Busfahrer will für den kurzen Trip nach Tukuyu 4000 Schilling, knapp 1,25 Euro. Ich lache demonstrativ und biete die Hälfte. Von anderen Reisenden weiß ich, dass dies der offizielle Preis ist. Wir werden uns einig. Außerdem habe ich eh nur 2500 Schilling in der Tasche. Vor wenigen Minuten habe ich im Niemandsland zwischen Malawi und Tansania bei einem illegalen Geldwechsler meine letzten 400 Kwacha getauscht. Natürlich zum miserablen Kurs.
Die Minibusse in Tansania sind genauso verkehrsuntauglich wie in Malawi, werden aber noch begeisterter mit Passagieren vollgestopft. So voll, dass die Schiebetür nach den ersten Kilometern offenbleibt und der Kassierer auf dem Trittbrett mitfahren muss. Dort braucht er einen guten Gleichgewichtssinn, weil wir etliche Kurven in der üppigen Bergwelt Südtansanias zu bewältigen haben. Hier wachsen Bananen, Kaffee, Tee und alles andere, was Höhenluft, Vulkanerde und sehr viel Regen zum Wachsen braucht. Hunger muss hier niemand leiden. Das ist ein kleiner und äußerst grüner Garten Eden.
Tansania ist Malawi zeitlich um eine Stunde voraus. Um 13 Uhr erreichen wir Tukuyu. Die kleine Marktstadt liegt auf dem 1600 Meter hohen Vulkankegel Ntukuyu und wurde 1899 von der deutsch-ostafrikanischen Kolonialverwaltung als Neu-Langenburg gegründet. Allerdings blieb die Zahl der deutschen Siedler sehr gering. Der Ort war einfach zu weit abgelegen von jeder Zivilisation. Im Ersten Weltkrieg fiel die Region dann eh an Großbritannien.
Im Gewühl des Busbahnhofs von Tukuyu frage ich mich zum Longiboss Hotel durch, in dem es laut Reisebuch einfache, saubere Zimmer für 4000 Schilling geben soll. Das Buch ist alt, der Zimmerpreis inzwischen auf 8000 Schilling gestiegen. Weil das gerade mal fünf Euro sind, buche ich die Bleibe trotzdem für zwei Nächte.
Ich brauche Geld. Der Bankautomat gibt mir aber keins. Meine EC-Karte akzeptiert er nicht, meine Mastercard auch nicht. Nur Visa. Ich gehe zur zweiten und letzten Bank der Stadt. Dort wiederholt sich das Trauerspiel. Am Busbahnhof vermute ich einen Geldwechsler, der meine 50 Euro in 90.000 Schilling verwandeln soll. Ich werde enttäuscht und soll zur Bank gehen. Nach 15 Minuten in der Warteschlange erfahre ich, dass nur die Bank gegenüber Geld tauscht. Die wird heute aber renoviert. Drei uniformierte Wachmänner sagen mir, dass ich morgen früh wiederkommen muss.
Einer der Wachmänner hat ein Einsehen und schlägt vor, dass er die 50 Euro in die Bank bringt, in der trotz Renovierung noch gearbeitet wird, und mein Geld wechselt. Dafür will er 10.000 Schilling haben. Da ich auf die lokale Währung angewiesen bin, lasse ich mich auf eine Provision von 5000 Schilling ein, die in Tukuyu mehreren Tageslöhnen entspricht. 20 Minuten soll ich warten. Am Ende stehe und sitze ich eine Stunde lang vor der Bank. In mir kocht die ganze Wut über den Müßiggang des schwarzen Kontinents hoch.
Der Sicherheitsmann drückt mir ein Bündel Scheine und ein paar Münzen in die Hand. Außerdem einen offiziellen Beleg über 81.935 Schilling. Das sind rund 8000 weniger, als ich laut offiziellem Kurs bekommen müsste. Ein satter Gewinn für die Bank. Weil ich ungern mein Wort breche, gebe ich dem Überbringer trotzdem die 5000 Schilling, die er dankend annimmt. Ich entferne mich vom Bankgebäude und zähle vorsichtshalber das Geld: 71.935! Es fehlen 5000. Der Sicherheitsmann hatte seinen Anteil bereits aus dem Bündel genommen.
Ich gehe zurück zur Bank und zitiere ihn durch die vergitterte Tür zu mir. Weil seine Kollegen neben ihm stehen, ist ihm der Betrug peinlich. Er kommt schnell ins Freie, um die Sache hinter einem Bauzaun mit mir zu klären. Ich bekomme 5000 Schilling zurück.
Es ist 16.15 Uhr. Der Tag ist gelaufen, ohne dass ich irgendwas von Tukuyu sehen konnte. Ich will eine Tour für morgen buchen. Doch beim Anbieter Rungwe Tea & Tours, der in meinem Hotel für seine Tagestouren wirbt, stoße ich nur auf drei unwissende Damen an der Rezeption. Der zuständige Kollege ist nicht da. Kommt er wieder? Weiß keiner. Ich suche ein Internetcafé. Große bunte Tafeln werben für die besten, schnellsten und günstigsten Verbindungen der Stadt. Doch bei drei Anbietern bleiben die Bildschirme schwarz: „Internet is down.“ Kommt die Verbindung wieder? Weiß keiner.
Ich stehe kurz davor, Tukuyu noch heute per Bus zu verlassen. Zum Glück kann ich mich zum „Mohammed Store“ am Busbahnhof durchfragen. Nebenan betreibt der aus Somalia stammende Nasir ein kleines Internetcafé. Die Verbindung läuft langsam, aber zuverlässig. Ich kann Mails verschicken und Fotos hochladen. Zum ersten Mal nach über einer Woche. Nasir arbeitet nebenher als Tourguide und hat einen Freund, der ein Auto besitzt. Mit beiden will ich morgen zu einer Tour in die Außenbezirke von Tukuyu aufbrechen.
Mittwoch, 20. August 2008
Tukuyu
Nasir, der sich gestern in seinem Internetcafé als mein Tourguide angeboten hat, und sein Freund Phil, der ein Auto besitzt, stehen um kurz nach neun Uhr am Busbahnhof bereit. Ich will in und um Tukuyu, dem früheren Neu-Langenburg, nach Spuren der deutschen Kolonialmacht suchen. Unser erstes Ziel ist die alte Festung, genannt German Boma, auf einem Hügel direkt über der Innenstadt. Heute ist in den klobigen, zinnenbesetzten Betonmauern die Distriktverwaltung untergebracht.
Wir verlassen Tukuyu in südlicher Richtung. Der Wagen kämpft sich über eine Schotterpiste voller Schlaglöcher. An den Hängen links und rechts der Fahrbahn gedeihen Bananen, Tee und ein wenig Kaffee in sattem Grün. Nach 17 Kilometern erreichen wir den Masoko-Kratersee. Der ist kreisrund und angeblich mehrere Hundert Meter tief. Am Kraterrand erhebt sich eine einsame Steinanlage aus der dichten Vegetation. Es ist eine weitere deutsche Festung, ein militärischer Außenposten der 5. Kompanie der Schutztruppe. Wir werden sie später besuchen, doch zunächst erzählt mir Nasir, dass die Deutschen ihre Waffen und ihr Geld im Kratersee versenkten, als sie 1916 im Ersten Weltkrieg vor den Briten flohen.
Die ehemalige Kaserne besteht aus drei langgestreckten Gebäuden um einen großzügigen Innenhof. Die Häuser sind leer und verfallen. Nur ein kleines Nebenhaus wird als Krankenhaus benutzt. Eine Ärztin hat dort gerade Sprechstunde, vor der Tür stehen und sitzen viele Menschen in einer langen Warteschlange. Wir besichtigen das ehemalige Haupthaus, in dem Fenster und Mauerteile fehlen, weshalb man einen guten Blick auf die bis zu einen Meter dicken Mauern hat. Sie dienten früher als Klimaanlage gegen die afrikanische Hitze. Nasir erzählt, dass die Anlage langfristig renoviert und vom Krankenhaus genutzt werden soll. Doch momentan dominieren hier Unkraut, Hühner und Ziegen.
Ich gehe ein paar Hundert Meter hinüber zu einer Schule, die in der einheimischen Sprache Swaheli „Shule“ heißt. Dieser sprachliche Einfluss geht zurück auf die deutschen Missionare, die hier im vulkanischen Rungwe-Tal die ersten Schulen und Krankenhäuser erbauten. Die kleinen Schüler, die gerade Pause machen, sind adrett in blau-weißen Uniformen gekleidet und kommen neugierig auf mich zu. Allzu viele Touristen verirren sich nicht in diese Gegend.
Wir kehren nach Tukuyu zurück, ich zahle die vereinbarten 25.000 Schilling. Das bedeutet aber auch, dass ich wieder Geld tauschen muss, um morgen mit dem Bus nach Mbeya oder im Idealfall sogar bis Iringa fahren zu können. Ich lasse mich 500 Meter vor dem Longiboss Hotel absetzen, weil ich einen 50-Euro-Schein aus meinem Zimmer holen will. Auf der Schotterpiste überhole ich im Eilschritt einen kleinen Jungen von rund zehn Jahren. Der wünscht artig „Good morning“, weshalb ich ihn zurück grüße. Dann folgt das unvermeidliche „Give me money“. Der Junge ist vermutlich zur falschen Zeit am falschen Ort, aber jetzt trifft ihn meine über Wochen angestaute Wut über die nicht enden wollende Bettelei in Afrika. Ich reiche ihm zwei 10.000-Schilling-Scheine, nach denen er hastig greift. Bevor er sie erwischt, ziehe ich sie ihm vor der Nase weg und brülle ihn an, dass er gefälligst mit dieser elenden Bettelei aufhören soll.
Er rennt in Panik weg. 300 Meter weiter holt er mich wieder ein, hat Tränen in den Augen und ruft ständig „I am sorry“. Ich will ihm erklären, warum ich gerade ausgeflippt bin, doch jetzt betet er unentwegt „Give me pencil. For school“ herunter. Ich gebe ihm nichts, weil ich das Betteln nicht unterstützen will, gehe aber mit schlechtem Gewissen ins Hotel. Mehrere Minuten lang sitze ich auf dem Bett, starre den Betonfußboden an und überlege, ob ich überreagiert habe. Der Junge tut mir leid.
Ich muss zur Bank. Keine hundert Meter vom Hotel entfernt, läuft mir der Junge von vorhin wieder hinterher. Erst bleibt er stumm, dann wünscht er „Good morning“. Ich bin gespannt, was er jetzt ausheckt. Er ruft: „Give me money, give me money“. Ich schaue ihn fassungslos an und würde ihm am liebsten den Arsch versohlen. Er sagt: „Give me money, give me money.“
Vor der NBC-Bank steht der Sicherheitsbeamte, der mich gestern eine Stunde Zeit und 5000 Schilling gekostet hat. „Hi, my friend“, grüßt er. Ich bin heilfroh, dass ich heute nicht auf seine Dienste angewiesen bin. Die Bank hat bis 15 Uhr geöffnet, ich kann meine 50 Euro gegen 81.675 Schilling eintauschen. Jetzt habe ich genug Geld, um unter anderem das Busticket zu bezahlen, mit dem ich morgen aus dieser verrückten Stadt fliehen will.
Ich verschanze mich anderthalb Stunden in Nasirs Internetcafé und kaufe anschließend auf dem Markt Obst und Brot ein. In Tukuyu gibt es weit und breit kein Restaurant, das für meinen westlichen Geschmack einladend wirkt. Ich bekomme nirgendwo warmes Essen, das ich vertrauensvoll runterschlucken könnte.
Vor der Bank hat sich um meinen Sicherheitsbeamten eine Männertraube gebildet, aus der sich ein betrunkenes und zahnlückenbestücktes Exemplar herauslöst. Der Mann sucht penetrant das Gespräch und lässt sich auch dadurch nicht abwimmeln, dass ich konsequent weitergehe. Ich frage ihn, warum eigentlich jeder auf diesem Kontinent den Eindruck hat, dass ich mich mit ihm unterhalten will. Er faselt was von Simbabwe und Robert Mugabe. Ich stelle klar, dass ich nicht Robert Mugabe bin. Richtig, aber ich sei weiß. Robert Mugabe aber nicht, entgegne ich.
Der Typ trottet bis zum Hotel neben mir her. Immerhin stellt er bis zuletzt keine Geldforderungen, was ich als kleinen Hoffnungsschimmer werte. Zu früh gefreut. Nach drei Minuten klopft er vehement an meine doppelt verriegelte Zimmertür. Ich rufe, dass er verschwinden soll und verstecke meine Wertsachen unterm Bett. Er klopft weiter. Ich höre, wie sich draußen der Hotelbesitzer einschaltet. Der Suffkopp erklärt ihm, er wolle sich nur vergewissern, dass es seinem weißen Freund gut geht. Er klopft wieder. Ich bedanke mich lautstark, dass er jetzt verschwinden wird. Der Hotelbesitzer verweist ihn von der Anlage.
Mir ist die Lust auf Tukuyu endgültig vergangen. Ich bleibe für den Rest des Tages in meinem Zimmer und sortiere meine Fotos. Aus der vertäfelten Holzdecke über meinem Bett krabbeln zwei fette Riesenspinnen und heben sich unschön von der weißen Wand ab. Beide sind zwar eklig, aber zumindest betteln sie nicht und labern auch keinen Blödsinn. Sie dürfen bleiben.
Michael Scholten
Der in Kambodscha lebende Reise- und Filmjournalist Michael Scholten (TV Spielfilm, TV Today, ADAC Reisemagazin, Spiegel Online) hat bisher 123 Länder bereist. Über seine längste Reise, die ihn innerhalb von 413 Tagen in 40 Länder führte, ist das 560 Seiten starke Buch “Weltreise – Ein Tagebuch” erschienen. Es umfasst 68 Farbfotos, viele Berichte über Filmlocations in Kambodscha, Sri Lanka, Neuseeland, Panama etc. und ist für 15 Euro unter www.michaelscholten.com zu haben.
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