Vorgestern Benjamin Lebert und Crazy, gestern Hans Weingärtner und Die fetten Jahre sind vorbei, heute Helene Hegemann und Axolotl Roadkill.

Die Liste der deutschen shooting stars ist lang und sie beschränkt sich beileibe nicht auf Literatur. Sie ist ein Phänomen einer rasenden Sinnproduktion, wobei das Drama um die erst hochgelobte, dann mehrfach als Plagiatorin enttarnte Dramaturgen-Tochter Hegemann besonders gutes Erregungspotential bereithält, weil sie von allen die Jüngste ist. Sie ist altersmäßig noch am nächsten an dem Phänomen, das im 19. und 20. Jahrhundert „Wunderkind“ hieß. Ähnlich furios und von ungläubigem Raunen des Kulturbetriebs begleitet wie ihr Debütroman vollzog sich vor anderthalb Jahren auf den Hofer Filmtagen die Premiere ihres Kurzfilms Torpedo und wenig später machte sie von sich reden als Geisterbeschwörerin Ulrikes Meinhofs und Susan Sontags in Nicolette Krebitz’ Beitrag zum Deutschland 09-Episodenfilm deutscher Regisseure unter der Oberregie von Tom Tykwer. Drei Debüts auf drei verschiedenen Feldern – und jedes Mal waren ihr Triumph und Anerkennung gewiss.

Das Wort Wunderkind war besonders in Deutschland mit viel affektiver Zuneigung verbunden, denn sein bekanntester Vertreter war Mozart, der diese Rolle mit der ihm gewöhnliche zugeschriebenen „göttlichen Heiterkeit“ besonders gut ausfüllte. Aber auch die schon älteren Büchner (21), Handke (24) oder Goethe (25) waren Original-Genies, heute würde man sagen „shooting stars“, die in einem noch sehr jugendlichen Alter, ihre großen literarischen Überraschungserfolge hatten. Die Anerkennung und Wertschätzung von Jugend ist, wie diese wenigen Namen belegen, relativ jungen Ursprungs. Jugend wurde zur geschichtsmächtigen Kraft mit dem Sturz des ancien régime. Wenn die Geschichte, wie die Aufklärung es glaubte, zu immer lichteren Höhen führt, ist das Neue die Wahrheit und sie liegt vorne, in der Zukunft und die Jugend hat zu ihr einen unmittelbaren Kontakt. Die Französische Revolution berief sich ausdrücklich auf den Elan der Jugend, die alle hergebrachten Traditionen und Gesetze umstoßen sollte. Das maschinelle Töten der Guillotine im Namen der Gleichheit lehrte des restliche Europa das Gruseln, die Jakobiner ruinierten ihren Ruf in der Geschichte mit dem großen Terror nachhaltig, aber an der kultischen Verehrung von Jugend änderte sich auch in späteren, restaurativeren Zeiten wenig. Mit Jugend verbindet sich seither untrennbar die Bedeutung von Originalität, Begeisterung und geschichtlicher Wahrheit. Um 1900 zollten Künste und Wissenschaften jugendlichem Aufbegehren gegen patriarchalische Autorität ihren Tribut, und das umso mehr, als Freud den Ödipuskomplex als zentral für die Herausbildung des modernen Subjekts erklärte und damit den symbolischen Vatermord adelte. Die Populärwissenschaften taten ein Übriges, als die schwedische Politikerin und Autorin Ellen Key das 20. Jahrhundert zu dem des Kindes erklärte. Kindheit und Jugend waren nicht länger kurze und unbedeutende biographische Abschnitte vor der allein wichtigen Epoche verantwortlicher Männlichkeit. Selbst in der Kleidung und in den intellektuellen Vorlieben gibt es keine klaren generationellen Scheidelinien mehr. Erwachsene sind in ihren Haltungen und Hobbys von der Jugend nicht mehr zu unterscheiden. Jugend ist kein Lebensalter mehr, sondern eine Konsumhaltung, auch dann und gerade dann, wenn es um kulturelle Waren geht. Jugend bedeutet die intensive, verschwenderische, bedenkenlose Konsumption von Leben und Gütern. Rein Leben ohne Nachhaltigkeit.

Mit der ideologischen Aufwertung von Jugendlichkeit einher geht die Krise des Erwachsen-Seins. Das Älterwerden ist nicht mehr mit der Vorstellung von vermehrten Fähigkeiten und Weisheit verbunden, sondern mit moralischer Verbiegung, täglicher Kompromissbereitschaft und politischer Korrumpierbarkeit. Das alt-neue Feindbild ist der Spießer, ein vollkommen verschwommenes Feindbild, denn es wird heute für alles gebraucht, was nicht cool oder hip ist. Gleichzeitig ist aber nichts so lächerlich wie das coole oder hippe Gebaren von Menschen, die nicht mehr jung sind. Auf dem Feld der Populärkultur gibt eine auffällige Zunahme an all generations-films. Filme, die eigentlich Jugend- oder Kinderfilme sind und von den Erwachsenen nicht nur deshalb gesehen werden, weil sie ihren Nachwuchs nicht unbeaufsichtigt lassen wollen. Wenn Jugendlichkeit  klassenüberschreitend zur Norm geworden ist, ist kein Platz mehr für die kleinen Stufen des Erwachsenseins und des Älterwerdens. Was bleibt, ist ein binäres System von jung und alt. Wobei Altsein schlagartig eintritt und nahezu gleichbedeutend ist mit der Einweisung in die Geriatrie. Und dabei ist das ruhige und gesicherte „Spießer-Dasein“ nicht nur die nicht zu vermeidende Endstation, wenn man nicht den schellen Drogentod herbeizwingt, sondern auch heimlicher Wunschtraum. Bushido hat jahrelang gegen die Spießer gewütet, und wird von der Kritik in seinem Film Das Leben ändert Dich selbst als ein ultimativer solcher enttarnt.

Der Kulturbetrieb mit seinen inzwischen hochausgebildeten Hysterien ist auf Jugendlichkeit fixiert, weil die damit verbundene Erwartung den Betrieb am Laufen hält. Da reagiert er inzwischen wie die Werbeindustrie: jedes Geschwätz ist gut, schlecht ist nur Schweigen. Das schließt dann die hysterische Hoffnung auf Wunderkinder ebenso ein wie deren rasches Verglühen. Eine Jugend, die auf Dauer kein einziges Terrain ihr Eigen nennen kann und die mit ansehen muss, dass selbst grobe Tabu-Verletzer wie Bushido in den popkulturellen Mainstream eingemeindet werden, dieser Jugend bleibt aus Gründen der Selbstbehauptung kaum etwas anderes übrig als die ganz große Keule herauszuholen. Die Außenwelt wird unter einem Generalverdacht wahrgenommen und wird traktiert mit den ins Maßlose gesteigerten Mitteln kapitalistischer Reklame-Ästhetik: Schamlose Provokation, sexuelle Übertreibung, obszöne Grenzverletzung.

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In einer Gesellschaft, die ständig mit dem Wunsch nach Gehör und dem Bedürfnis nach Zerstreuung ringt, kann nur Aufmerksamkeit finden, wer die Lust an der medialen Skandalisierung einigermaßen beherrscht. Die aktuellen literarischen Ergebnisse solch brüllenden Flehens um Aufmerksamkeit sind Bücher wie Charlotte Roches „Feuchtgebiete“ oder jetzt Helene Hegemanns „Axolotl Roadkill“. Solche Werke finden bei der Kritik wie in der Zahl der Auflagen eine Beobachtung, die sich mit normalen Werten und Erfahrungen nicht erklären lässt. Dem literarischen oder filmischen Debütanten wird die Rolle eines jungen Sehers zugeschrieben, der eine gesellschaftliche Wahrheit ausspricht, die dem Rest verborgen bleibt, und das ist schließlich eine genuine Aufgabe der Literatur. Zwar ist der Glaube, dass  die Historie im Guten voranschreitet, nicht mehr sehr verbreitet. An die Stelle des Guten ist das Böse getreten, aber die Wahrheit liegt immer noch vorn, in der Zukunft, und das heißt: bei der Jugend. Der Debütant, der Erstlingsfilmer, der noch weitgehend unschuldig und unverdorben vom Betrieb mit seinen vielen Unterabteilungen (Preise, Stipendien, Förderungen, Auslandsreisen etc.) ist oder zu sein scheint, hält „der Gesellschaft den Spiegel vor“. Gnadenlos und ohne Rücksicht. Und die Gesellschaft, resp. die Kritiker, ihre institutionalisierten Agenten, schluckt das als Erleuchtung. Mit Begeisterung stellt ein sonst so hemmungsloser Spötter wie Maxim Biller über Hegemanns „Axolotl“ in einem einzigen Satz Bezüge zu Mamet, de Sade, Kerouac her und sieht höchst irdische „Sowjetpropaganda“ mit „himmlischen Rhythmen“ versöhnt. Einer 17-Jährigen werden die Einsichten zugestanden, die die vom Betrieb blind gewordenen nicht mehr haben. Wobei natürlich jedem klar ist, dass diese scheinbare Betriebsferne genau das ist, was in den Betrieb hineinführt. Aber dieser Betrieb hasst sich selbst so sehr, dass er jeden Fußtritt als berechtigt anerkennt.

Und es fällt natürlich auch das entscheidende Wort „Genie“. Genie und Pubertät sind eine unwiderstehliche Mischung, es bedeutet, die Rotzigkeit und unverstellte Direktheit eines Kindes noch nicht abgelegt zu haben und gleichzeitig über erstes Erwachsenen-Wissen zu verfügen, das ja in immer komplizierter werdenden Zeiten großen Scharfsinn verlangt. Beides miteinander verschränken zu können, macht den ungeheuren Reiz dieses Lebensalters aus. Wobei sich diese Beweisführung aber auch rasend schnell verkehrt: was von einem jungen Autor, einer Autorin in diesem Alter gesagt wird, erlangt leicht auf Grund des jugendlichen Alters eine seherische Qualität, auch wenn es nur um pubertäres Lebensgefühl geht. Denn das erwachsene Leben gilt ja nicht als Leben, es wird als Pflicht, Beschränkung, zunehmende Erfahrungslosigkeit angesehen. Es gilt als entfremdet. Authentizität liegt in der Vorstellung nur bei der Jugend und in ihrem Schreiben. Der Blogger Airen aber, von dem Hegemann abgeschrieben hat, sagt: Authentisch zu schreiben ist ein unerfüllbarer Anspruch. Authentisch kann man nur leben.

Hier stoßen sich zwei Erwartungen im Raum. Literatur ist seit dem 20. Jahrhundert, und auch schon vor copy und paste, eine Schreibtechnik und nicht mehr mimetischer Realismus. Die Erfahrung, dass Wörter Wörter sind und nicht einfach Realität weiß ja jede Literaturkritik. Aber mit dieser Literatur ist heute kein Hund mehr hinter dem Ofen hervor zulocken und

für den populären Erfolg, den sich inzwischen jede Kunst auf die Fahnen geschrieben hat,  braucht es die „Authentizität“, die verbunden ist mit dem leichten Grusel, das alles habe der Autor, die Autorin persönlich erlebt. Und das wirkt umso stärker, je düsterer das Beschriebene ist. Seit dem Surrealismus darf Schreiben aber auch automatisches, unbewusstes Schreiben sein und das ästhetische Produkt ist zum Symptom eines individuellen oder auch kollektiven Unbewussten geworden. Hier gelten dann keine literarischen Gesetze mehr, denn das Unbewusste meldet sich direkt zu Wort unter Umgehung aller Regeln. Die Diskussion über die literarische Qualität von Helene Hegemanns Roman wird deshalb auch nur von sehr wenigen mit dem strengen Besteck der Literaturkritik geführt. Es wird geschwärmt („großes Talent“), verdammt („klauen ist unehrenhaft“) und behauptet („kompilieren ist die zeitgemäße Form im Zeitalter des Internets“). Das sind die Hardcore-Verteidiger, die Hegemanns Texte mit dem Internet als dem universellen Gedächtnis des Halbbewussten kurzschließen. Solches sampeln führt dann zu einer fiktiven Authentizität, deren sich die Autorin quasi bemächtigt hat. Es gibt für diesen Vorgang eine Parallele: die fiktiven „Holocaust-Memoiren“ von Autoren, die gar nicht im Konzentrationslager waren. Auch hier gab es zuerst große Bewunderung für eine „unerträgliche“ Wahrheit, eine „Erschütterung“ vor den grässlichen Tatsachen. Und klamme Verlegenheit, als sich herausstellte, dass es ein rein literarisches, „unauthentisches“ Produkt war.

Der Genuss an den unerträglichen Bildern und Szenen, von denen es viele gibt, wenn man den Zitaten aus Hegemanns Buch glaubt, spielt genießerisch mit der menschlichen Katastrophe. Das ist Obszönität, nicht als philosopische Haltung, sondern als Konsum und aus Berechnung. Konsum auf Seiten der Genießenden und Berechnung auf Seiten der Autorin. Nicht nur, dass man alles tun würde, um dem eigenen Kind das Beschriebene zu ersparen. Der Blogger, der alles erlebt hat, ist froh, dass er es ohne Krankheit überstanden hat. Er empfindet es als unangenehm, durch einen Skandal ans Tageslicht gezerrt zu werden. Die Berechnung auf den Skandal aber funktioniert unter solchen Umständen immer, bis hin zu Harald Schmidt, der den „Spießern“ den Tritt gibt, den sie glauben, verdient zu haben. Ein System von popkulturellem Sado-Masochismus. Die Frage ist also nicht: Durfte Helene Hegemann, die das alles nicht erlebt hat, abschreiben. Die Frage ist auch nicht, wie weit der Literaturbetrieb mit seinen Mechanismen Hypes produziert, weil er von ihnen lebt. Sondern die Frage ist, welche „Wahrheit“ ist es, die sie beim Kompilieren und Abschreiben produziert hat, und vor der alle erschüttert stehen? Mit welchen Satz-Katarakten wird hier das Bedürfnis nach unverstellter Nähe und hingerotzter Bildung zugleich befriedigt?

Es ist neben einer Art pornographischer Erregungslust die Wahrheit des schlechten Gewissens der Erwachsenen, die dumpfe Ahnung, die eigenen Kinder und Kindeskinder ökonomisch wie ökologisch um die Zukunft zu betrügen. Das verdrängte Schuldbewusstsein und stille Wissen, versagt zu haben gegenüber einer heranwachsenden Generation. Deshalb „versteht“ man nur zu gut, wenn die heranwachsenden Kinder sich in düstere Situationen begeben, man „versteht“ nur zu gut, dass sie verroht sind und verstört. Die Erwachsenen haben das Gefühl, diese Literatur „verdient zu haben.“ Das Wunderkind bietet sich feil für den erwachsenen Betrieb, der sich die Welt nicht schmutzig und lebensgefährlich genug vorstellen kann und als lesender Schreibtischtäter daran teilhaben möchte. Diese Literatur zieht ihre Beglaubigung aus der Beschreibung eines Lebens, das niemand leben will, von dem aber alle glauben, es sei das „wahre“. Die moderne Wahrheit besteht, wenn nicht in Zahlen, dann im Übertrumpfen: das schnellste, das härteste, das widerlichste usw. Solche Texte, Skripte, Filme sind Sound.

Das literarische Wunderkind performt ein von der Welt der Erwachsenen ersehntes Gefühl des Authentischen in Form des Extremen. Dazu gehört in Zeiten durchgängiger Sexualisierung die ungehemmte Übertreibung in der Erzählung über den Körper. In den „Feuchtgebieten“ ist das ein pornographisierter Blick auf den weiblichen Körper, seine verborgenen Öffnungen, unschöne temporäre Erscheinungen und das Bekenntnis zu einer anderen Sexualität als der klitoralen, vaginalen Befriedigung. Hegemann setzt eines drauf in ihrer Beschreibung der Vergewaltigung und Blendung eines Kindes.

Die deutsche Phantasie, vollgesogen mit den Verbrechen des 20. Jahrhunderts, ist angstgetrieben, dunkel und kalt. Indem man sie zur authentischen Wahrheit verklärt, legitimiert man seine Obsessionen.

Autor: Michael André

geschrieben im Februar 2010

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