Vor der Wahl gab es Hohn und Spott für den „altlinken“ Kandidaten. Aber kaum Selbstkritik, nachdem das Desaster für Labour ausgeblieben ist und Theresa May moralische Verliererin ist / Erschütterte Deutungshoheit – Von Michael André
Nach den Unterhaus-Wahlen im Vereinigten Königreich und dem Pyrrhus-Sieg für die Tories und die machtbewusste Premierministerin Theresa „Mayday“ May ergehen sich die deutschen Medien in Spekulationen über den Brexit. Kommt er, kommt er in einer softeren Version oder fällt er am Ende ganz aus? Da wird viel europäische Zukunftsmusik gespielt, innenpolitische Analyse ist wenig gefragt und – vor allem – von Selbstkritik ist so gut wie nichts zu hören.
Dabei hätten die deutschen wie auch die britischen Journalisten nach dem Abschneiden der Labour Party allen Grund, sich ihre Kommentare und Prognosen der letzten Monate in Erinnerung zu rufen. Nach erneuter Lektüre müssten sie vor Scham in den Boden versinken. Eimer von Spott und Hohn haben Autoren jeglicher Couleur über den „altlinken Herausforderer“ Jeremy Corbyn ausgegossen. Im Wahlkampf bezeichnete ihn Rupert Murdochs Boulevardblatt Sun abwechselnd als „Freund von Terroristen“, „Marionette der Gewerkschaften“, „marxistischen Extremisten“ und natürlich fehlte auch nicht der Generalverdacht auf Antisemitismus, der sich in der Labour-Partei eingenistet haben soll.
Kurz, Corbyn erschien als nicht vertrauenswürdiger, noch dazu bärtiger alter Mann, über den schon Mays Vorgänger David Cameron gehöhnt hat: „Ich glaube, ich weiß, was meine Mutter sagen würde: Zieh einen ordentlichen Anzug an, richte deine Krawatte und sing die Nationalhymne.“ Wenn auch Cameron bald in Verschiss geriet, diese Sottise wurde wieder und wieder vergnüglich kolportiert. Als Corbyn während des Wahlkampfs im klassischen blauen Anzug auftritt, versucht Camerons Nachfolgerin Theresa May diese Veränderung als Camouflage-Werk des Labour-Wahlkampfteams abzutun. Statt über Inhalte zu reden, beschäftigt sie sich lieber mit Augenscheinlichkeiten. Jeremy Paxman, englischer Star-Moderator und wegen seines penetranten Fragestils auch „Bulldogge“ genannt, macht es nicht viel besser, als er Corbyns Haltung zum Monarchismus zum Thema der Fernseh-Diskussion auf ITV machen wollte. Mit seiner Vermutung über eine innere Distanz Corbyns zum Haus Windsor liegt Paxman mutmaßlich nicht falsch, aber über Abschaffung der Monarchie steht im aktuellen Wahlprogramm von Labour kein Wort. Stattdessen liegt der Fokus im Kampf für ein besseres Gesundheitswesen, Bildung, Kindergärten und die ökologische Wende. Aber den Slogan „For the many, not the few“ empfindet Paxman wohl nicht als so sexy. Zu anstrengend, zu deprimierend.
So wie Paxman halten es auch die übrigen Medien. Man machte sich die Erwartung der Tories vom „Erdrutschsieg“ zu eigen und stimmt im Nebensatz ein Untergangsszenario für Labour an. Mal mit Bedauern, dann wieder voller Genugtuung über das absehbare Scheitern eines unzeitgemäßen, linken sozialdemokratischen Kurses. Banken und Eisenbahnen sollen nationalisiert werden, mehr Arbeitsrechte und höhere Steuern für Konzerne. Die Medien und die Thinktanks der Londoner City schüttelt es. Beide sind sich einig, Die veröffentlichte Meinung teilt mal wieder die Meinung der Macht. Noch im März phantasiert der Londoner Kultur-Korrespondent der Süddeutschen über ein politisches Kartenspiel: „Labour-Chef Jeremy Corbyn wäre eine dieser Karten, die niemand haben will, gewönne aber immerhin bei der aus Mitleid eigens für ihn eingerichteten Kategorie ‚Erdkundelehrer-Bart’ „. Fast so peinlich wie diese Rollenverteilung ist Alexander Mendens Prognose für die Top-Asse in diesem Spiel: Theresa May und Nicola Sturgeon. Ausgerechnet für die beiden Wahl-Verliererinnen vom 8. Juni 2017 sieht der Amateur-Astrologe eine glänzende Zukunft: „Während May an der Brüsseler Front kämpft, wird die Erste Ministerin an ihrem Referendumsplan arbeiten.“
Später, als demoskopische Umfragen einen weniger deutlichen May-Sieg nahelegen, steuern auch die Medien leicht um. Man kann Labour und seinen Spitzenkandidaten nicht länger ignorieren oder nur bemitleiden. Aber der Aufstieg der Opposition soll der Schwäche und der Arroganz von Theresa May geschuldet sein. Nicht aber den Themen von Labour oder gar dem Charisma Corbyns. Über den heißt es in der SZ noch nach dem Terroranschlag in London wenige Tage vor der Wahl abschätzig: „Dabei ist Parteichef Corbyn unbeliebt in der Bevölkerung – und in der eigenen Fraktion.“ Corbyn erscheint als ein Übel wie die Wahl zwischen Pest und Cholera.
Gnadenlos verdrängt wird, dass es eine Graswurzelbewegung war, die Corbyn 2015 in einem großen Ruck zum Vorsitz verholfen hat. Nur der Rückhalt der Basis und die vielen Parteieintritte junger Menschen, dazu eine Portion Sturheit und Prinzipientreue ließen ihn die Illoyalitäten, Intrigen und Rücktritte von Teilen der Fraktion und das ständige Begleitorchester an Medienhäme überstehen.
Erst nach der Wahl und nachdem feststeht, dass weit über 60 Prozent der britischen Millennials Labour gewählt haben, entdecken auch die Medien die Unzufriedenheit der Jugend: „Je jünger, desto Labour“, lautet eine demoskopisch gestützte SZ-Überschrift. Und in den ARD-Tagesthemen erzählt eine junge Korrespondentin aus London, sie habe „heute Nachmittag mit Jugendlichen über ihre Wahl“ und über Corbyn gesprochen. Das alte Fernsehen entdeckt die Jungen. Wohlgemerkt erst, als die ihre Entscheidungen getroffen hatten. Die Parallelen zwischen dem 68jährigen Corbyn und dem 75jährigen US-Senator Bernie Sanders liegen auf der Hand. Verblüfft wird die Frage gestellt, warum diese „vorgeblichen sozialistischen Dinosaurier“ so viel Zulauf bei der Jugend haben. Mittlerweile hat sich Sanders „entzückt“ gegenüber der Washington Post über das gute Abschneiden von Labour geäußert: „Auf der ganzen Welt stehen die Menschen auf gegen Sparhaushalte und gegen massive Ungleichheit bei Einkommen und Wohlstand“. Diese Beschwörung einer weltweiten Empörung weckt Erinnerungen an die Zeit von `68. Auch damals waren es übrigens Männer im Großväteralter wie Herbert Marcuse, die von rebellierenden Jungen in den verschiedensten Metropolen wiederentdeckt wurden. Damit einher ging die Erfahrung, dass „Ideen von vorgestern“ oft ungeahnte Sprengkraft für die Gegenwart besitzen
Doch was aus dem Jugend-Phänomen meist gefolgert wird, ist auch schon wieder falsch. Bei Corbyn haben die Medien eins und eins zusammengezählt und kommen – in einem seltsamen Akt von überschlägigem Denken – auf die Zahl drei. Das geht dann so. Die Jungen haben bei der Brexit-Abstimmung mehrheitlich für Remain gestimmt und jetzt sind für Labour. Ihr Motiv soll aber gar nicht so sehr die soziale Misere und die Wut auf die Reichen sein, sondern die Sorge um die künftige Rolle Englands in Europa. Vergessen wird eins: Wenn es sich bei der Parlamentswahl um einen verkappten Pro-EU-Entscheid handeln sollte, dann hätten sich die jungen Wähler für die Liberal-Demokraten entscheiden müssen. Die haben rückhaltlos auf diese Karte gesetzt – und ein äußerst bescheidenes Ergebnis erzielt. Verdrängt wird vielerorts, dass der Labour-Chef auch für den Brexit ist, aber aus anderen Gründen als May und nationalistische Diehard-Tories oder die plötzlich bedeutungslos gewordene UKIP. Um Corbyns Haltung mit den prononciert-negativen Worten der FAZ zu beschreiben: „Der Sozialist betrachtet die EU offenbar als eine Art neoliberale Verschwörung gegen die Arbeiterklasse“.
Rare Beispiele journalistischer Selbstkritik findet sich aber auch. Selbst der Guardian, Aushängeschild des linksliberalen England, hatte während des Wahlkampfs keinen Zweifel an seiner Skepsis gegenüber Corbyn und dessen Positionen gelassen. Wie eine späte Korrektur der früheren Haltung mutete da die Wahlempfehlung pro Corbyn wenige Tage vor dem Urnengang an. Am Tag nach der Wahl streuen gleich zwei Gast-Kommentatoren Asche auf ihr Haupt. So heißt es bei Ayesha Hazarika: „I admit it: I was wrong about Jeremy Corbyn“. Die Frau war Beraterin des glücklosen Labour-Vorsitzenden Ed Miliband und ätzte im Juni 2016 über Corbyns Auftritt bei Vice News, Milibands Nachfolger vermittle den Eindruck „beklagenswert schlechter Vorbereitung“ und bot (vergebens) ihre Dienste als Nachhilfelehrerin an. Jetzt ruft sie die Labour-Fraktion dazu auf, sich geschlossen hinter den oft unterschätzten Parteichef zu stellen.
Noch zerknirschter hört sich das beim linken Aktivisten Owen Jones an. Unter dem Eindruck deprimierender Nachwahlergebnisse und Meinungsumfragen war der frühere Corbyn-Anhänger zum ungläubigen Thomas geworden. Nun vollzieht er eine neuerliche Kehrtwende: „I was totally wrong.“ Er habe sich von der Skepsis der Mainstreammedien anstecken lassen und geglaubt, die Wähler hätten über Corbyn endgültig den Daumen gesenkt. Wie zur Wiedergutmachung lautet die Schlagzeile: „Jeremy Corbyn hat eine Sensation geschafft – er wäre ein toller Premierminister.“
In den Medien ist es wie bei Jesus in Jerusalem: Von medialer Kreuzigung bis Wiederauferstehung vergeht oft weniger Zeit als zwischen Karfreitag und Ostersonntag. Wenig hat sich an der Rückgratlosigkeit geändert, die schon in Gustav Freytags Lustspiel „Die Journalisten“ den Redakteur Schmock den fatalen Satz sprechen lässt: „Ich habe geschrieben links, und wieder rechts. Ich kann schreiben nach jeder Richtung.“ Bösartig kann man für die Medien der Gegenwart hinzufügen: Am liebsten schreibe ich aber, was die anderen schreiben. Dann bin ich auf der sicheren Seite.
Vielleicht sind die hysterischen Meinungsausschläge aber auch Ausdruck einer tiefen Verunsicherung. Nachdem Corbyn mit seinem Achtungserfolg moralischer Sieger der Unterhauswahl ist, werden Details seiner Strategie publik. Einzelne Videos seiner Wahlkampfveranstaltungen erreichten in den Sozialen Medien demnach mehr als drei Millionen Zugriffe. Begeistert spricht Jens Berger, Herausgeber der Internetplattform Nachdenkseiten von einer „gelebten Gegenöffentlichkeit“ und stellt Mutmaßungen über das Ende „der Zeiten der Deutungshoheit der klassischen Medien“ an. Auch hier mag Wunschdenken im Spiel sein. Fest steht allerdings, dass die Glaubwürdigkeit der Medien ein weiteres Mal erschüttert worden ist. Durch eigenes Verschulden.
Michael André
Bild ganz oben: Corbyn at a leadership election rally in August 2016 | yn speaking at a leadership election rally to his supporters in August 2016 | https://www.flickr.com/photos/paulnew/28243001503 | author paulnew | CC BY 2.0
- Johannes Willms: Der General. Charles de Gaulle und sein Jahrhundert - 4. November 2019
- Clemens Klünemann: Sigmaringen. Eine andere deutsch-französische Geschichte - 19. September 2019
- Matthias Waechter: Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert - 1. August 2019
13. Juni 2017 um 09:09 Uhr
Gut geschrieben … Danke! Aber nicht nur eine Niederlage der Medien, sondern auch derjenigen, die in den Medien zu Wort kommen:
Welt: Großbritannien hat sich bereits von der EU verabschiedet. Labour-Chef Jeremy Corbin kämpft für den Brexit. Ist Labour noch eine europäische Partei?
Thomas Oppermann: Jeremy Corbyn hat die einst bedeutende Labour Party kampfunfähig gemacht. Vor dem Volksentscheid waren seine Abgeordneten zu 90 Prozent für Europa. Nach dem Brexit ist die Partei zerrissen. Corbyn lehnt ein Plädoyer für Europa ab. Labour ist deshalb völlig orientierungslos und wird bei der Wahl voraussichtlich eine katastrophale Niederlage erleiden. Corbyn ist ein Alt-Linker, der ähnlich wie Wagenknecht Europa als eine Festung des Kapitalismus betrachtet. Er ist deshalb unfähig, die positiven Werte Europas – Frieden, Demokratie, Wohlstand, Reisefreiheit – angemessen zu würdigen. Ich kenne viele wirklich gute Akteure bei Labour. Aber wenn ich mir Labour heute ansehe, leide ich wie ein Hund. “
http://www.spdfraktion.de/presse/interviews/leide-hund