Eine Odyssee durch Berliner Polizeidienststellen und Behörden oder: Wie das Recht auf Kommunikation durch den Verweis auf Datenschutz blockiert wird
Der Polizeiabschnitt 41 in der Gothaer Straße ist in einem typischen Berliner Gründerzeitbau untergebracht. Unauffällig, aber nicht abstoßend. Der Schock für Jutta H. setzt erst ein, als sie den Wunsch nach einer Vermisstenanzeige geäußert hat. Sie wird in einen kargen Raum geführt, der nach ihrer Erzählung eher wie Dritte Welt denn Hauptstadt aussieht. Einziges Wanddekor war ein Zettel mit der handschriftlichen Anweisung, wie der Drucker zu bedienen ist. Als Jutta H. (*) dem zuständigen Beamten ihr Anliegen vorträgt, sagt der entschuldigend: „Wir haben nicht die neuesten Geräte und das gesamte Intranet muss geladen werden.“
So ist es denn auch. Es dauert eine gefühlte kleine Ewigkeit, bis der Computer endlich hochgefahren ist. Und dann sucht der Polizist. Er sucht lange und erfolglos. Ein Eintrag über einen Polizeieinsatz in der Goltzstraße 35 findet sich nicht. An keiner Stelle. Aber die Besucherin lässt sich von dieser Nicht-Nachricht nicht beschwichtigen. Sie hat einen detaillierten Augenzeugenbericht mitgebracht, in der die Geschehnisse des 30. Oktober aufgelistet sind. Und diese Zeilen lassen eigentlich keinen Zweifel daran, dass sich in den Abendstunden dieses Sonntags in der zweiten Etage ein Drama mit tödlichem Ausgang abgespielt haben muss. Aber eine Woche danach fehlt immer noch amtliche Gewissheit.
Während der Polizist, offenbar beeindruckt von dem Zeugenbericht, den Raum verlässt und weitere Nachforschungen anstellt, laufen vor Jutta H.s innerem Auge die Stationen ihrer Suche noch einmal ab.
Am Anfang stand eine alarmierende E-mail aus Tschechien. Geschrieben von der Freundin einer Bekannten aus Brünn, die die letzte Lebensgefährin des Berliner Filmwissenschaftlers Hans Sch. war. Marie ist 70, spricht kein Deutsch und kann nach einer schweren Hüftoperation selbst nicht reisen. Aus ihren Zeilen sprechen Panik und Sorge: „Ich habe den ganzen Tag angerufen, aber Hans antwortet nicht. Am Abend nahm jemand in der Wohnung ab, sagte, er sei Polizist, aber er hat sich geweigert zu sagen, was los ist“. Begründung: Datenschutz.
Als Jutta H. am selben Abend, kurz vor Mitternacht , die Polizei anruft, trifft sie auf eine freundliche Polizistin, die irgendetwas in ihrem Computer findet, aber das nicht sagen will: Datenschutz. Aber sie verspricht, dass ein Polizist sie anrufen wird.
Das Wort Datenschutz wird Jutta H. in den nächsten Tagen noch häufig begegnen. Es liegt wie ein undurchdringlicher Schleier um das Schicksal von Hans Sch. Der war vor vielen Jahren mal ihr Lebensgefährte und dem mittlerweile 74-jährigen ist sie immer freundschaftlich verbunden geblieben. Sie hat sich gekümmert, als er in der vergangenen Monaten mehrmals ins Krankenhaus musste. Mit der Mauer des ärztlichen Schweigens ist sie vertraut, doch die ließ sich wenigstens aufweichen. Spätestens dann, wenn Sch. aus Ohnmacht und Agonie wieder erwachte und sein Einverständnis zu medinizischen Sachauskünften signalisierte.
Der Polizist hat nicht angerufen. Doch am nächsten Morgen findet sie auf der Mailbox einen Anruf von ihrer alten Freundin Lily G., die im gleichen Haus wie Hans Sch. wohnt. Sie erzählt eine aufregende Geschichte, allerdings kennt sie die nur vom Hörensagen. Die Bedienung in einem Café im Haus will gesehen haben, dass die Feuerwehr am Sonntagabend angerückt sei. Man habe eine Leiter an den Balkon in der zweiten Etage angelegt. Ein Fenster sei zu Bruch gegangen. Dann seien die Beamten fortgefahren, später zusammen mit der Polizei noch mal gekommen.
Jutta H. ruft die Polizei an. Sie trifft auf einen Beamten, der zwar freundlich ist, aber im Kern nur wiederholt, was ihm in Schulungsseminaren beigebracht worden ist. Keine Auskünfte an Dritte wegen Daten- und Persönlichkeitsschutz. Das Einzige, was er bestätigt, ist ein Feuerwehreinsatz, „wegen Person in Notlage“. Im übrigen gelte: „Wenn Sie einen Verwandten auftreiben, gebe ich Ihnen Auskunft. Sie können ja selbst die einzelnen Krankenhäuser anrufen und nachfragen.“
Dieser Ratschlag ist leicht zynisch und obendrein wirklichkeitsfremd. Denn die Krankenhäuser ziehen sich auf die gleiche Leerformel zurück. Dabei ignoriert die Verweigerung von Auskunft das moderne Grundrecht auf Kommunikation und geht an den Lebenssituation von Millionen Singles in Deutschland vorbei. Hans Sch. ist einer von ihnen. Er lebt seit vielen Jahren allein in seiner Dreizimmerwohnung in Schöneberg. Sein Lebensmittelpunkt sind seine vielen, unendlich vielen osteuropäischen Bücher und seine eigenen Publikationen. Die einzige Verwandte, von der Jutta H. weiß, ist eine Schwester. Die ist seit vielen Jahren in den USA verheiratet, doch der Kontakt ist sehr lose. Niemand kennt ihre Adresse oder ihren Namen.
Noch eine Idee hatte der Polizist. “Gehen Sie doch zur nächsten Polizeidienststelle mit ihrem Personalausweis. Vielleicht sagt man ihnen da etwas auf Kulanz. Aber die können Sie auch abweisen.“ Jutta H. hat keine Lust, sich immer wieder abweisen zu lassen und sie ist ziemlich verstört darüber, dass das Verschwinden eines Menschen behandelt wird wie die Klage über ein defektes Haushaltsgerät: auf Kulanz!
Jutta H. und Lili G. sind nun endgültig alarmiert. Hans Sch. war in den letzten Monaten mehrfach als Notfall ins Krankenhaus eingeliefert worden, hatte Operationen über sich ergehen lassen müssen. Aber zuletzt ging es ihm einigermaßen. Sogar mit der Magensonde und dem Tracheostoma hatte er sich erstaunlich gut abgefunden.
Düstere Gedanken gehen Jutta H. durch den Kopf. Kann in Deutschland im 21. Jahrhundert ein Mensch einfach verschwinden ? Sie weiß, dass der Vergleich hinkt, aber trotzdem will er nicht vergehen: Es hat eine Zeit gegeben, in der in lateinamerikanischen Diktaturen Menschen auf diese Weise verschwanden und die Polizei sich weigerte, Auskunft zu geben. Sie fühlt Ohnmacht gegenüber den Mühlen der Bürokratie, fühlt sich wie in den Alpträumen von Kafka. Jemand ist im Zentrum eines Schweigens, in dem es um seine Existenz geht.
Dabei war Hans Sch. kein Niemand. Er war zur Zeit von Moritz de Hadeln fester Mitarbeiter der Berlinale, war für die osteuropäischen Kontakte des Festivals zuständig, arbeitete bis zuletzt für verschiedene osteuropäische Filminstitute und Festivals und war Mitarbeiter des Festivals go east des Deutschen Filmmuseums in Frankfurt.
Nach einem weiteren Tag des Schweigens, sucht Jutta H. Hilfe bei eben jenem Museum. In Frankfurt reagiert man besorgt, zeigt sich hilfsbereit und schaltet die Rechtsabteilung ein. So kommt das zuständige Standesamt in Schöneberg ins Spiel. Dort liegt keine Meldung vor. Das bedeutet aber keine Entwarnung, das hat nur mit dem langsamen Ding der Dinge zu tun. Es dauere immerhin fast zehn Tage, bis das Standesamt eine Sterbensmeldung bekommen. Solange will Jutta H. nicht warten. Deshalb ein Anruf bei der Berliner Kriminalpolizei. Die Suche bleibt erfolglos, für die Goltzstraße ist für den gesamten Monat kein Einsatz verzeichnet. Gab es vielleicht nur einen Feuerwehr- und gar keinen Polizeinsatz? Einen vermeintlich guten Ratschlag hat die Kripo dann doch: „Rufen Sie das Gesundheitsamt an!“ Doch auch dieser Weg führt in eine Sackgasse: Auf das Schreiben reagiert das Gesundheitsamt zwar am nächsten Morgen. Aber man habe keine Informationen. Im übrigen: „Die Polizei ist zuständig, wenn Sie einen Bekannten vermissen. Bitte wenden Sie sich unbedingt an die nächste Polizeidirektion.“
Soll jetzt alles von vorn anfangen?
Jutta H. ruft wieder die Kripo an. Ein sehr freundlicher Polizist gibt sich Mühe bei der internen Recherche. Dann sagt er das Gleiche wie die anderen vor ihm: kein Bericht über einen Einsatz. Der letzte Bericht datiert vom März, als Hans Sch. als Notfall in eine Klinik eingeliefert worden war. Fazit: er muss in irgendeinem Krankenhaus sein! Deshalb stellt er die Glaubwürdigkeit der Zeugin aus dem Café infrage: Hat sie die richtige Wohnung gesehen? War es wirklich die, in der Hans Sch. wohnt?
Die Hoffnung keimt wieder auf, dass Hans Sch. vielleicht doch in einer der vielen Kliniken in Berlin sein könnte. Jutta H. will auf Nummer sicher gehen. Sie kontaktiert selbst die junge Frau aus dem Café in der Goltzstraße. Die bekräftigt ihre erste Aussage, weiß die präzise Uhrzeit, erinnert sich, dass nacheinander Feuerwehr und ein Polizeiauto gekommen sind. Die sonst so belebte Straße war abgesperrt. Eine Leiter kam zum Einsatz, Zugang zur Wohnung verschaffte man sich über den Balkon und durch das Fenster, das man einschlug. Dann kamen Feuerwehr und Polizei wieder herunter und alle fuhren weg. Nach zwei Stunden kam die Polizei zurück, eine Beamtin hatte die Gebäudeschlüssel. Dann sei ein großes schwarzes Auto gekommen. Zwei Männer in schwarzer Kleidung gingen mit einer großen Transporttrage ins Haus. Nach einer halben Stunde kamen alle wieder herunter, die beiden Männer hatten einen großen schwarzen Sack auf der Trage. Den haben sie ins Auto geschoben, dann alle sind weggefahren. Da war es 21:30 Uhr…
Jutta H. schreibt dieses Protokoll nieder, inzwischen ingrimmig, weil die Polizei hartnäckig den Einsatz leugnet. Dieses Protokoll hat sie dem Beamten im Polizeiabschnitt 41 vorgelegt, der wie alle seine Kollegen nichts über den Einsatz an jemand Abend in seinem Computer gefunden hat. Alle, auf die sie während ihrer Recherche in dieser Woche getroffen war, waren freundlich und hilfsbereit, aber wie soll eine Verwaltung effizient arbeiten, die nicht die nötigen Mittel hat?
Jutta B. erinnert sich an eine Notiz in der Zeitung, dass die Standesämter ein paar Tage nicht arbeiten konnten, weil das Update der Software die Computer abstürzen liess. Im Fernsehen kommt die Vorabmeldung der jüngsten Enthüllungsgeschichte aus dem Reich von Big Data: „Nackt im Netz – Millionen Nutzer ausgespäht.“ Was man immer schon wusste, hat sich ein weiteres Mal bestätigt. Intime Daten im Internet liegen nicht nur frei herum, sie lassen sich auch ohne weiteres konkreten Personen und ihren Aktivitäten an einzelnen Tagen zuordnen. Davor schmilzt der Datenschutz, der die Persönlichkeit schützen soll, nicht nur zusammen wie Schnee in der Sonne. Er erscheint als Schimäre.
Die Gewissheit, dass Hans Sch. an jenem Abend einsam in seiner Wohnung gestorben ist, hat Jutta H. jetzt. Vielleicht hat Hans noch einen Notruf abgesetzt. Aber es gehen ihr Fragen durch den Kopf. Warum kam ausgerechnet sonntags die Pflegekraft von der Wohlfahrtseinrichtung nicht, um dem chronisch kranken Patienten beim täglichen Wechsel seines Sprechgeräts und seiner Magensonde zu helfen? Warum diese Lücke im Wochenablauf? Und noch immer steht die amtliche Bestätigung seines Todes aus. Ein Mann ist verschwunden und er scheint keine Spuren auf der letzten Etappe seines Daseins hinterlassen zu haben.
Aus diesen Überlegungen wird Jutta H. durch die Rückkehr des Beamten ins kahle Zimmer des Polizeiabschnitts 41 aufgeschreckt. Er war leicht verlegen, erinnert sie sich, aber er hat Neuigkeiten. Er hat im Revier mit Kollegen gesprochen, hat den Zeugenbericht dabei gehabt. Tatsächlich war einer seiner zufällig anwesenden Kollegen am 30. Oktober beim Einsatz in der Goltzstraße dabei. Schließlich fällt der deprimierende, aber auch erlösende Satz: „Ja, der Mann ist verstorben. Mein Beileid.“ Der Kollege hätte danach auch einen Bericht geschrieben. Warum der im Polizei-Intranet nicht auftaucht? Warum er im Nirwana der Ermittlungen untergegangen ist? Wieder nur ein verlegenes Achselzucken.
Was wäre gewesen, wenn dieser Kollege nicht zufällig anwesend gewesen wäre?
Jutta H. ist auch Tage danach zornig und deprimiert. Die Odyssee durch die Verwaltung und die verschiedenen Polizidienststellen erscheint wie gesetzlich geschützte Willkür. „Wir wissen, dass in Deutschland seit dem Kameralismus Staat und Bürokratie oft eine unheilige Allianz eingegangen sind, in der die Bürger bevormundete Untertanen waren. Das hatte sich in den letzten Jahrzehnten verbessert und die öffentlichen Ämter begriffen sich eher als Dienstleister denn als Überwachungsinstrumente.“ Das sagt die studierte Politologin Jutta H. Mit dieser Ansicht liegt sie nicht weit entfernt vom Zürcher Staatsrechtler Tomas Poledna, der in einem Gastbeitrag in der NZZ mahnt: „Ohne gelebte Kommunikation bleiben Grundrechte leere Hülsen.“
Doch in Berlin, wo bei Behörden und in bis an den Rand des Kollaps gespart worden ist, ist dieser Service inzwischen mangelhaft. Die Beamten leiden selbst unter diesem Misstand. Es ist nicht nur Personalmangel, sondern auch die defiziente technische Ausstattung, die alles Mögliche blockiere. Wenn ausgefeilte behördliche Regelungen auf eine dezimierte Bürokratie treffen, entsteht ein absurder Kreislauf behördlicher Willkür, in dem der Bürger wieder zum längst überwunden geglaubten Untertan wird. Das viel zitierte Recht auf Vergessen im Internet wird im Alltag ad absurdum geführt, wenn nicht mal die Möglichkeit besteht, eines Menschen zu gedenken und sich zu erinnern.
Zumindest verbal viel weiter ist im Nachbarland Schweiz der neue Datenschutz-Beauftragte. Dort will Adrian Lobsiger in allen Bereichen das Öffentlichkeitsprinzip durchsetzen. Unnötige Geheimniskrämerei ist ihm zuwider: „Es darf in der Verwaltung keine Dunkelkammer geben.“ Der Todesfall des Hans Sch. legt den Verdacht nahe, als sei Berlins Verwaltung eine große Dunkelkammer.
*Name wurde auf Wunsch der Betroffenen verändert
Michael André
Bild: © Arthaus
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