Twenty-First Century Man
Am 7.11.1979 überreichte ein untersetzter Student der Düsseldorfer Kunstakademie während einer Beuys-Aktion in der Galerie Schmela dem Künstler ein Plakat mit der Aufschrift: „Ich bin so groß wie Joseph Beuys”. Der auch physisch das Mittelmaß überragende Kunstprofessor posierte daraufhin mit einem Schild: „Ich bin größer als Joseph Beuys”. Mit dieser ironischen Provokation gab Ingo Günther im Alter von 22 Jahren seinen Einstand in der Kunstwelt, nachdem er zuvor Ethnologie und Kulturanthropologie studierte hatte. Fälschlicherweise wurde seither oft als Beuys-Schüler bezeichnet, der er nie war, sondern Student von Günther Uecker und Nam June Paik, dessen Assistent er 1983 wurde. Im selben Jahr ging Günther als DAAD-Stipendiat ans PS1 in New York und kehrt seitdem nur in seine Heimat zurück, um seine Arbeiten auszustellen oder einen Kunstpreis abzuholen. Fast alle wichtigen Preise auf dem Gebiet der Video- und Medienkunst besitzt er schon. Letzten Dienstag erhielt der in den USA, Japan und China hochgeschätzte, hierzulande aber kaum bekannte Künstler in Hannover den renommierten Sprengelpreis für sein Gesamtwerk. Das ist, gemessen an den narkomanischen Niederungen deutscher Kunstdebatten um den Düsseldorfer Kunstprofessor Lüppertz und der Entideologisierung ostdeutscher Malgründe, politisch relevant, ästhetisch-radikal und weltanschaulich exorbitant. Nach seinem raschen Erfolg als Videokünstler Mitte der 80-Jahre, der ganz im Kontext des taoistischen Medienverständnisses seines Lehrer Paik stand, verließ Ingo Günther die räumlichen und inhaltlichen Grenzen der konzeptuellen Medienkritik und suchte das unsichere Terrain zwischen Kunst und Massenkultur für sich zu sondieren. Als Echolot diente ihm die neue Errungenschaft des Internets, eine Erfindung des Pentagons, und die Daten ziviler Aufklärungs-und Überwachungssatelliten, die er als journalistisch aufbereitete Informationen unter dem Label „Ocean Earth“ ans Fernsehen und die Presse verkaufte. Die Grenzüberschreitung des Galeriekünstlers in die informelle Tagespolitik führte 1987 auf der documenta 8 zu einer heftigen Diskussion, als er elektronisch bearbeitete Bilder von geheimen Militärbasen in Libyen, der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl und einem strategisch brisanten Stausee-Projekt im Irak präsentierte. Beuys-Verfechter wie -Verächter warfen dem Grenzgänger vor, die Idee des erweiterten Kunstbegriffes ad absurdum zu führen und sich als militärstrategischer Informant des Kalten Krieges zu verkaufen. Als Satellitenbetreiber und Medien daraufhin das Geschäft mit Bildern aus dem All witterten, zog Günther sich aus dem Metier zurück und installierte das Internet-Projekt „Refugee Republic“. Als Korrespondent der taz bei der UNO hatte er Flüchtlingslager in Kabodscha, Thailand und im Irak besucht und erfahren, dass dort neben Elend und Not enorme kulturelle, soziale und ökonomische Ressourcen schlummern. Deshalb gründete er eine virtuelle Republik aller Flüchtlinge dieser Welt mit Pass, Verfassung, Regierungsstatuten, Wirtschaftsdaten und allem, was zu einem modernen Staat gehört. Seinen Namen hielt der Künstler aus diesem Projekt ebenso heraus wie aus der Gründung des ersten unabhängigen Fernsehsenders Kanal X in Leipzig nach dem Ende der DDR. Mediale und andere kommunikative Freiräume zu besetzen, um sich in die Belange der Welt einzumischen, wurde zum Credo des Düsseldorfers und machte ihn zu einem der maßgeblichen Pioniere der Crosssover-Kunst der 90er Jahre. Doch bald stieß er an die nämlichen Grenzen der aktuellen Berichterstattung, die taz verstümmelte seine Reportagen über Flüchtlinge, das Fernsehen strahlte seinen bestellten Betrag über den Irak-Iran-Krieg nicht aus. Frustriert über die pawlowsche Selbstzensur der Meinungsmacher, zog sich Ingo Günther aus dem journalistischen Tagesgeschäft zurück und kehrte 1989 zur medialen Objektkunst zurück, wenn auch mit journalistischen Mitteln. Mit seiner Installation „World Processor“ schuf er ein kunstambitioniertes, enzyklopädisch-lehrreiches Werk, das heute im Museum der Autostadt Wolfsburg zu bewundern ist. Auf 48 selbstdrehenden Globen eingelassen unter Glas im Fußboden wird der Stand der Dinge der globalen Weltlage illuminiert: Krisengebiete, Friedensregionen, Flüchtlingströme, Ölvorkommen, Handelsdefizite, AIDS-Sterbefälle, Atomtests, Automärkte, Treibhauseffekte – kurz, die gesamte Kartografie des Kapitals und seiner Auswirkungen auf die menschliche Zivilisation und die Natur. Dass sie sich am Rande des Nervenzusammenbruches befindet, erkennt selbst, wer von globaler Ökonomie nichts weiß. Den Kollaps New Yorks am 9.11.2001 erlebte der Künstler als direkt Betroffener. Seine Arbeits- und Wohnsitz vier Blocks entfernt vom „Ground Zero“ musste nach dem Einsturz des World Trade Centers entkontaminiert werden. Ans Weggehen denkt der Wahl-Amerikaner, trotz Lehraufträgen in Europa und Anerkennung als Künstler weltweit nicht, denn der Stadtteil TriBeCa in Manhattan, wo die Banken und Börsen der Weltmächtigen wohnen, ist sein spirituelles Zentrum. Dort kümmert er sich um seinen erblinden Lehrer Nam June Paik, der zu ihm sagte: Es ist nicht wichtig, ein großer Künstler zu sein, es ist wichtig, als Künstler ein großartiger Mensch zu sein. Dass Kunst kompromittiert, weil der Kunstmarkt den Künstler korrumpiert, ist eine Binsenweisheit. Ingo Günther sucht, diesem Teufelskreis immer neu zu entfliehen, indem er die Fronten wechselt und erobertes Terrain aufgibt. Als permanenter Grenzgänger muss er freilich riskieren, von der etablierten Kunstwelt missverstanden und ignoriert zu werden. Ein Pessimist ist jemand, der über Informationen verfügt. Ingo Günther ist das Gegenteil – ein informierter Optimist. Vielleicht darum ging jetzt, wo wir Deutschen nur jammern und schwarzsehen, der Sprengel-Kunstpreis an diesen hierzulande noch weitest unbekannten bedeutenden deutschen Künstler.
Text: Thomas Knauf
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