Die Schriftstellerin und Journalistin Ayse Kulin erzählt vom unlösbaren türkisch-kurdischen Konflikt
Demokratische Initiative. So nannte sich die Idee, mit der der türkische Premierminister Tayyip Erdogan den seit der Gründung der Türkei schwelenden Konflikt mit den Kurden lösen wollte. Mit seiner heftig angefeindeten Initiative wollte der islamische Politiker deren Rechte stärken, ihre Sprache legalisieren, und er stellte eine Amnestie für PKK-Kämpfer in Aussicht, die der Gewalt abgeschworen hatten. Inzwischen haben sich die kemalistischen Hardliner wieder durchgesetzt. Ende vergangenen Jahres verbot das Verfassungsgericht in Ankara die Kurdenpartei DTP. Und das Militär setzt bei seinen Offensiven gegen die Kurden im Südosten inzwischen sogar Giftgas ein, um die „Separatisten“ zu bekämpfen. Wieder einmal ist eine überfällige Reformoffensive in dem zerrissenen Land kläglich gescheitert. Währenddessen geht der Terror weiter: Ende Oktober kam es zu einem kurdischen Selbstmordanschlag auf dem Istanbuler Taksim-Platz, bei dem 32 Menschen zum Teil schwer verletzt wurden.
Das scheinbar unauflösbare Drama dieses Konflikts erklärt vielleicht die Tonlage, die Ayse Kulin in ihrem Roman Der schmale Pfad anschlägt. Zwei Frauen, beide um die vierzig, treffen sich in einem Gefängnis in der Türkei. Die eine, Zeliha Bora, ist eine inhaftierte Kurdenpolitikerin. Nevra Tuna, die andere, ist eine bekannte Journalistin, die mit einem Exklusivinterview einen Wendepunkt ihrer gefährdeten journalistischen Karriere erzwingen will. Während des Gesprächs stellt sich heraus, dass sie Jugendfreundinnen sind, sich aber lange aus den Augen verloren haben. Der Roman besteht hauptsächlich aus ihrem erregten Zwiegespräch, das nicht selten ins Melodramatische kippt. Nevra und Zeliha erinnern sich an ihre Kindheit und erzählen sich ihr Leben.
Die 1941 in Istanbul als Tochter einer Tscherkessin und eines Bosniers geborene Ayse Kulin ist in der Türkei eine sehr bekannte Frau. Die Literaturwissenschaftlerin, die der Sozialdemokratie nahesteht, arbeitete als Filmproduzentin, Regisseurin und Journalistin, bevor sie sich der Schriftstellerei zuwandte. Wie die fast gleichalte, linksliberale Journalistin Oya Baydar gehört sie zur Riege der explizit politischen Autorinnen. In den 21 Werken, die seit ihrem Debüt 1984 erschienen sind, behandelte sie den bosnischen Bürgerkrieg, die Geschichte der östlichen Landesteile der Türkei oder die Rettung von Juden durch türkische Diplomaten während des Zweiten Weltkriegs.
Der Autorin Leidenschaft für die Politik lastet auch auf diesem Buch. Es ist nicht die schlechteste Idee, mit dem Bild der wechselseitig verschlungenen Schicksale an die Gemeinsamkeiten von Kurden und Türken in Geschichte und Alltag zu erinnern. So holzschnittartig wie sie diese Schicksale zeichnet, verliert der Roman jedoch schnell an literarischer Überzeugungskraft. Die gemeinsame Kindheit von Nevra und Zeliha wird zur symbiotischen Zeit verklärt, als Kurden und Türken noch voneinander lernten und sich gegenseitig halfen. Die beiden Frauen müssen Schnittmusterbiografien referieren: Die gebildete Mittelschichtlerin im Gefängnis der Ehe hier, das einfache Kurdenmädchen, das dem Bannkreis des Familienclans nicht zu entrinnen vermag, da. Kulin hält ihre Protagonistinnen wie Handpuppen hoch, die die konträren Standpunkte der beiden Volksgruppen nachzuplappern haben. Da verhallt am Ende auch das Plädoyer für den Dialog, das in dem Streitgespräch angelegt ist: „Glaubst du vielleicht, dass die Leute sich freiwillig dem Terror verschrieben haben?“ empört sich Zeliha über Nevras Vorhaltungen, dem „Irren“ Öcalan nicht abzuschwören. „Aber ist es leicht, gegen Euren Starrsinn anzukommen?“, hält die ihr entgegen. Manchmal hat man den Eindruck, die erstarrten politischen Fronten in der Türkei schlagen auch auf die ästhetischen Mittel durch, diese politischen Probleme zu bearbeiten.
Mit den gehäuften Stereotypen gerät Der schmale Pfad noch stärker an den Rand der Kolportage als Kulins Mainstream-Romane sonst schon. Und die in der Türkei viel diskutierte Frage, ob die Journalistin ein gescheitertes Interview mit der seit 1994 immer wieder inhaftierten Kurdenpolitikerin Leyla Zenya, die erkennbar die Vorlage für die Person der Zeliha Bora abgibt, zu einem Roman umgewidmet hat oder nicht, wird angesichts der forcierten Instrumentalisierung zweitrangig. Am Ende mutiert Nevra vollends zur Leitartiklerin: „Aber komm, lassen wir Geschichte Geschichte sein und kommen wir wieder zur Gegenwart. Überlegen wir lieber, was heute zum Wohle beider Völker getan werden kann“. Als politische Losung mag das durchgehen. Als literarisches Konzept ist es fatal. Und spätestens wenn der Roman in den Kitsch abgleitet, klappt man das Buch zu: „In Anatolien war gerade wieder der Frühling erwacht. Ginster färbte die Berghänge gelb, an den Bächen leuchtete Mohn. Die Natur hatte sich in allen sieben Farben des Regenbogens geschmückt … die Schafe hatten gelammt“, schwärmt der Erzähler bei der Rückblende in eine besonders traurige Episode von Zelihas bewegter kurdischer Familiengeschichte.
Dass der Zürcher Unionsverlag Kulins Buch in die verdienstvolle Türkische Bibliothek aufgenommen hat, mag der Bedeutung des Kurdenproblems und dem Mut der Autorin geschuldet sein. Bei seinem Erscheinen in der Türkei vor fünf Jahren schlug Der schmale Pfad hohe Wellen. Wer die Kurdenfrage damals so offen diskutierte, bekam noch schneller den Knüppel der Anklage wegen Hochverrats zu spüren. An der literarischen Qualität kann es aber nicht gelegen haben. Wer die Literatur für die bessere Politik hält, wird in Kulins Buch eines Besseren belehrt: Auch ästhetische Initiativen können scheitern.
Text: Ingo Arend
Bild: Der Teaser auf der Startseite zeigt einen Ausschnítt des Buchcovers
Ayse Kulin: Der schmale Pfad
Aus dem Türkischen von Angelika Gillitz-Acar und Angelika Hoch. Nachwort von Jens-Peter Laut.
Unionsverlag, Zürich 2010, 282 S., 19, 90 EUR
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