Der Dienstmann
Vor 150 Jahren starb Eckermann, dann wurde er unsterblich

Am 20. September des Jahres 1792 sind die Herren bei Valmy einigermaßen
ratlos. Die fürstliche Allianz gegen die Truppen der Französischen
Revolution hat die vollmundig angekündigte Bataille nicht gewonnen, was so
gut ist als verloren. Ratlosigkeit aber vor der Nachwelt rechnet nicht zu
den Geisteszuständen, die der anwesende Herr von Goethe zu schätzen pflegt.

Und so behauptet er, bald dreißig Jahre später, einen unbelegten Weitblick:
Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr
könnt sagen, ihr seid dabei gewesen. Die Geschichte steht wohl für das
Psychogramm eines singulären Geistes , der, neben vielen anderen, sich auch
auf die Kunst der Selbst-Stilisierung verstand. Ein solcher Mensch, zumal,
wenn er in die Jahre und aus der Mode geriete, müßte einen anderen hoch
schätzen, der, mit einigem Geist versehen, sich dieser Aufgabe mit dankbarer
Wollust zu unterwerfen willens war, einen Mann, der sich dienend den
Maßgaben des Dichters so ganz, so rückhaltlos anzuverwandeln den Willen
besäße. Dieser Mann wird am Tag nach Valmy geboren, in Winsen an der Luhe. 
Es war am 10. Juli 1823, dass die beiden Männer einander das erstemal
begegneten. Es war der Tag, der dem Sohn eines Hausierers, der sich einige
Bildung erschuftet hatte, als Verkünder seines Gottes in die Unsterblichkeit
befördern sollte. …ich fühlte, schreibt Johann Peter Eckermann unter dem
10. Juni 1823, daß er es überaus gut mit mir im Sinne hatte.

In der Tat, er kam nicht unwillkommen, seine Schrift Beiträge zur Poesie,
mit besonderer Hinweisung auf Goethe hatte ihm, das durfte 1823 nicht mehr
als selbstverständlich gelten, empfohlen als einen glühenden, rückhaltlosen
Verehrer. Und seine Erfahrungen im administrativen Fache  Eckermann war als
Schreiber erfahren , empfahlen ihn als einen Menschen von redlicher
Disziplin: es war eben just der Mann, den Goethe für seine Zwecke benötigte,
ein Jünger, dem er die Redaction von Papieren übertragen könnte, welche
selbst zu leisten man wohl die Hoffnung aufgeben muß. Und so übergibt er dem
Hocherfreuten zu ihrer zweiten Begegnung fröhlich die schon bibliophilen
Frankfurter Gelehrten Anzeigen, 50 Jahre alt, mit dem Auftrag, seine
ungezeichneten Arbeiten daraus zu selektieren. 
Und so geht es fort und fort, neun Jahre lang, etwa eintausend mal sind sie
einander begegnet. Johann Peter Eckermann, als er am 3. Dezember 1854 stirbt
drei Jahre, ehe das andere, das figürliche Denkmal von Ernst Rietschel
enthüllt wird , hinterläßt das geistige Denkmal Goethe und die Frage, was
das Glück wohl sei. Denn Unsterblichkeit ist süß nur als Gedanke, wenn man
lebt.

Die Gespräche, 1836 erstmals erschienen, waren kein Erfolg und der 3. Band
konnte wohl gar nicht ungünstiger erscheinen als 1848. Die Zeit hatte wenig
Verwendung für das behagliche Wägen des alten Mannes. Es dauerte, bevor
Goethe Teil eines bürgerlichen Behagens und Besitzens werden konnte, bis er
zu klassisch war, um kontrovers zu sein. Als Deutschland daran ging, nach
1871 endlich eine Nation zu werden und für diesen späten Prozess keinen
rechten Gedanken mehr fand in der Zeit, da suchte es diesen Gedanken, diesen
tieferen Seinsgrund bei seinen Dichtern und Denkern, denen es nun auftrug,
Identität zu stiften. Und als Goethe dann als der Geist über den Wassern der
Nation schwebte, als den Eckermann ihn entwarf mit der bewundernden Haltung
einer naiven Gläubigkeit  Ich aber bewahrte seine großen und guten Worte in
meinem Herzen., da war er nicht mehr von dieser Welt. Er konnte nicht ahnen,
wie Salieri im Gefolge Mozarts, selbst vielfach zur literaischen Gestalt
nobilitiert zu werden: als ein bleibendes Exempel auf die Figur des
rückhaltlos dienenden, sich vollkommen hingebenden Menschen, als Parodie,
als Dienst- und Schmerzensmann.

Man wird, dieses Bewußtsein ist so alt noch nicht, die komponierten
Gespräche im Detail nicht als ein authentisches Dokument zu lesen haben
wenngleich ihre Grundgestimmtheit keinem Zweifel unterliegt , oder, wenn
schon, als das Dokument eines Glaubens, der sich selbst in in der
sprachlichen Gestalt dem fließenden Gleichmaß seines frei erwählten Gottes
anverwandelt. Und es darf für die Lektüre dieser Goethe-Bibel gelten, was
Eckermann von dem letzten Gespräch, März 1832, überliefert: Übrigens, echt
oder unecht sind bei Dingen der Bibel gar wunderliche Fragen…dennoch halte
ich die Evangelien für durchaus echt, denn es ist in ihnen der Abglanz einer
Hoheit wirksam … 
Es ist wohl dieser Abglanz einer Hoheit, für den sich die Nachwelt bei
Johann Peter Eckermann bedankt mit einem Hauch Unsterblichkeit. Es gibt kaum
einen anderen Menschen, der so benutzt wurde, und bei dem sich das Schicksal
post mortem so über alle Maßen entschuldigt, als hätte es ein schlechtes
Gewissen. Denn so wie bei Eckermann, mit der Unsterblichkeit, wird
Mediokrität sonst kaum je belohnt  freilich mit der Beimengung sanfter
Ironie. Er ist das willige Wachs, in dem ein Unsterbliches seinen Eindruck
hinterließ und das sich davon geadelt fühlt als Träger der göttlichen Spur;
ein Adel, in dem die Liebenswürdigkeit der Erscheinung und die Skurilität
des Anspruches sich zu einem recht Sonderbaren vermengen, das doch
lächelnden Respekt genießt.

Kurz, die Stadt Weimar und Johann Peter Eckermann, sie sind einander wert.

Autor: Henryk Goldberg

Text geschrieben 2004

Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine